Das Kind in mir will achtsam morden - Roman

von: Karsten Dusse

Heyne, 2020

ISBN: 9783641261634 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Das Kind in mir will achtsam morden - Roman


 

Zwei Dinge sind in meiner Kindheit ganz offensichtlich schiefgelaufen: mein Vater und meine Mutter. Das jedenfalls erfuhr ich vierzig Jahre nach meiner Kindheit, als ich mich auf Druck meiner Frau zum ersten Mal mit meinem inneren Kind beschäftigte.

Wäre ich nicht durch meine sehr positiven Erfahrungen mit dem Thema Achtsamkeit für psychologische Themen sensibilisiert gewesen, hätte ich das mit dem inneren Kind wahrscheinlich zunächst einmal für kompletten Humbug gehalten. Alles, was bei einer Vorsorgeuntersuchung vom Proktologen nicht entdeckt werden kann, steckt auch nicht in uns. Das war früher meine Meinung.

Noch vor einem Jahr hätte ich ein Buch über das innere Kind deshalb schlicht für Schwangerschaftsliteratur gehalten. Eines der Bücher, die einem Mann zwar jede Menge Informationen über die biologischen Vorgänge innerhalb seiner Partnerin vermittelten, die aber als Erklärung für sein eigenes Seelenleben ansonsten eher bedeutungslos waren.

Inzwischen weiß ich, dass der psychologische Ansatz des »inneren Kindes« mit Geburtsvorbereitung nicht das Geringste zu tun hat. Er spielt komplett auf der anderen Seite der Gebärmutter. Für beide Geschlechter. Nach der Lehre vom »inneren Kind« sind wir emotional aufgebaut wie eine russische Matrjoschka-Puppe. Wenn es in unserer Erwachsenen-Seelen-Puppe rappelt, ist das in Wahrheit das Geräusch der verletzten Kinder-Seelen-Puppe innen drin.

Nicht wir stehen unserem Glück im Wege. Unser inneres Kind tut das. Weil es mit allen Verletzungen aus unserer Kindheit ein Teil von uns ist. Wollen wir das Rappeln stoppen, müssen wir das innere Kind heilen.

Die Beschäftigung mit meinem inneren Kind stellte sich für mich als die ideale Methode heraus, um die Ursachen der Probleme zu beseitigen, deren Folgen ich täglich mit Achtsamkeit minderte.

In meiner Kindheit gab es noch keine »Siri« und »Alexa«. Die Typen, die zu Hause das Licht an- und ausmachten, die Stereoanlage bedienten und jede noch so dumme Frage falsch beantworteten, hießen »Mama« und »Papa«. Wenn also etwas in meiner Kindheit verkorkst worden ist, dann von diesen beiden.

Das war insofern beruhigend, als ich mit dieser Erkenntnis im Hinterkopf bequem meinen Eltern die Schuld für meine Eheprobleme, meine Zukunftsangst, für meine generelle Gereiztheit und für mehrere Morde in die Schuhe schieben konnte.

Dass ich erst im Alter von dreiundvierzig Jahren Vater meines inneren Kindes wurde, lag unter anderem daran, dass ich ohne Verhütung mit meiner von mir getrennt lebenden Ehefrau gestritten hatte. Katharina hatte schon immer eine sehr effektive Herangehensweise, um Probleme zu lösen. Für die Lösung ihrer Probleme war immer derjenige verantwortlich, ohne den sie diese Probleme nicht hätte. Für das Verhüten von Streitigkeiten in unserer sich dem Ende zuneigenden Ehe war somit ich verantwortlich.

Und genau das hatte ich im letzten gemeinsamen Sommerurlaub leider vergeigt. Weil ich mich gegen ihren ausdrücklichen Willen in den Alpen mit einem Hüttenkellner angelegt hatte. Das allein reichte ihr als Anlass, von mir zu verlangen, mich endlich mal therapeutisch mit meinen ständigen Stimmungsschwankungen auseinanderzusetzen. Dass der Kellner aufgrund eines kleinen Nachtretens meinerseits im Anschluss unglücklicherweise gestorben war, hatte sie da noch gar nicht mitbekommen.

Als guter Ehemann und Vater, der ich war, vereinbarte ich noch in den Alpen einen Termin mit meinem Achtsamkeitscoach für die Woche nach dem Urlaub. Die Tatsache, dass Katharina umgehend mit unserer gemeinsamen Tochter Emily abgereist wäre, wenn ich das nicht getan hätte, war auch nicht ganz unbedeutend.

Völlig unabhängig von den Befindlichkeiten meiner Frau war mir zu diesem Zeitpunkt jedoch selbst längst klar, dass ich an mir arbeiten musste. Irgendetwas in mir hinderte mich immer wieder daran, das Leben einfach nur zu genießen. Wären Sorgen eine Flüssigkeit, so hatte ich das Gefühl, als würden die Sorgen im Fass meiner Seele dank Achtsamkeit zwar keine großen Wellen schlagen, aber das Fass war dennoch immer randvoll. Und manchmal, wenn eine überflüssige Sorge dazu kam, schwappte eben doch etwas über den Rand. Und ließ mich wegen Dingen, die für andere Menschen nach Kleinigkeiten aussahen, ausrasten.

Meine Ausraster waren bislang Petitessen:

Ich warf nachts Eiswürfel nach grölenden Assis im Park gegenüber von meiner Wohnung.

Ich beriet Mandanten, die mich nervten, als Anwalt absichtlich falsch.

Ich brachte dem Gefangenen in meinem Keller das Essen einfach mal zwei Stunden zu spät.

Alles Dinge, die in der gleichen Situation jeder machen würde, wenn er genervt ist. Und solange er nicht erwischt wird.

Dass ich einen Hüttenkellner in eine Schlucht stürzen ließ, hatte da allerdings schon eine andere Qualität.

Ich wollte diese Eskalation nicht.

Und so stand ich an einem regnerischen Abend Anfang September wieder vor der Tür von Joschka Breitner. Eine Woche nach meinem Urlaub. Knapp ein halbes Jahr nach meinem letzten Achtsamkeits-Coaching.

Bevor ich die Türklingel betätigte, stellte ich mich zunächst einmal einfach nur so vor seine Tür und spürte in mich hinein. In den letzten sechs Monaten hatte sich viel verändert.

Damals war es Frühling. Der Sommer stand vor der Tür.

Jetzt war es Herbst. Der Winter nahte.

Vor einem halben Jahr hatte ich die Praxis von Herrn Breitner voller neuer Energie bei Tageslicht verlassen. Ich strömte förmlich mit meinen neuen Erkenntnissen über eine achtsame Lebensführung hinaus in eine aufblühende Welt.

Jetzt war ich von der Flut des Lebens wieder zurückgespült worden. Es war bereits dunkel, und zwischen meinen Füßen raschelten die ersten vergilbten Blätter.

Dabei hätte mein Leben eigentlich rundum glücklich sein sollen. Ich hatte mir im letzten halben Jahr mein berufliches und privates Umfeld mit viel Liebe und Achtsamkeit so umgestaltet, wie ich es mir immer erträumt hatte:

Ich hatte eine lähmende Festanstellung in einer Großkanzlei gegen eine finanziell solide abgesicherte Freiberuflichkeit als Einzelanwalt ausgetauscht.

Katharina und ich hatten aus der Sackgasse einer gestressten Alltagsehe zwei parallel verlaufende Lebenswege getrennt wohnender Eltern geformt.

Unsere Tochter Emily genoss ihren von mir hart erkämpften Kindergartenplatz und war ein fröhliches, lebensbejahendes Mitglied der Nemo-Gruppe.

Ich hatte im wunderschönen Altbau des Kindergartens nicht nur meine Kanzlei, sondern obendrein auch meine eigene Wohnung. Das ganze Haus wurde von mir verwaltet. Für meinen Hauptmandanten – Dragan, den abgängigen Chef eines Mafia-Clans.

All diese Veränderungen der letzten Monate hatten viel damit zu tun, dass ich Dragan vor einem halben Jahr getötet hatte. Die Tatsache, dass das niemand wusste, war für mein Glück nicht ganz unbedeutend. Und damit auch in Zukunft niemand davon erfuhr, blieb mir gar nichts anderes übrig, als dessen verbrecherisches Firmenkonsortium in seinem, Dragans, Namen weiterlaufen zu lassen. Und gegenüber Dragans Clan so zu tun, als würde sein Boss noch leben.

Das fiel mir als Anwalt theoretisch nicht schwer. Ich hatte den legalen Deckmantel für Dragans Drogen-, Prostitutions- und Waffengeschäfte schließlich selber gestrickt und jahrelang als Berater de facto geführt. Und genau das spielte ich auch weiterhin allen vor. Mehr nicht.

Aber ein einziger Fauxpas, ein unbedachter Ausraster, ein kritischer Blick von außen zu viel auf mein Leben – und dieses ganze von mir konstruierte Lügengebilde würde in sich zusammenstürzen.

Ich musste in allem, was ich tat, unter dem Radar von Mafia und Polizei bleiben. Das versehentliche Töten eines Kellners war da eher kontraproduktiv. Nicht nur für mein Seelenleben. Sondern für mein Leben überhaupt.

Der Fehler an meinem Leben war, dass mir kein einziger Fehler unterlaufen durfte.

Meine Gegenwart mochte schöner sein als meine Vergangenheit. Aber ich hatte eine ungeheure Angst vor der Zukunft.

Das war Stress. Diesen Stress konnte ich mit Achtsamkeit unter Kontrolle halten. Aber ich wurde seine Ursachen nicht los. Achtsamkeit verlangsamte zwar mein Hamsterrad. Aber ich kam irgendwie nicht raus. Deswegen stand ich jetzt wieder hier, vor der Tür von Joschka Breitner. Das Ordnen meiner Gedanken brachte bereits ein wenig Klarheit in die aufgewühlten Schwebeteilchen meiner Seele. Dennoch zögerte ich zu klingeln. Unter anderem auch, weil ich mir noch nicht ganz sicher war, wie viel ich Herrn Breitner von meinen Problemen überhaupt erzählen konnte.

Von den schnippischen Bemerkungen Katharinas, die mir immer wieder klarmachten, wie fragil und ungeklärt unsere Beziehung im Grunde sei, würde ich ihm sicherlich erzählen können.

Von meinen Schuldgefühlen gegenüber Emily, weil wir mit unserer Ehe gescheitert waren, würde ich reden.

Von meinem Wunsch, neben Familie und Mandanten einfach auch mal Zeit für mich selber zu...