Provenzalischer Stolz - Ein Fall für Pierre Durand

Provenzalischer Stolz - Ein Fall für Pierre Durand

von: Sophie Bonnet

Blanvalet, 2020

ISBN: 9783641255060 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Provenzalischer Stolz - Ein Fall für Pierre Durand


 

1

»Pierre? Bist du hier draußen?«

»Merde!« Er musste eingeschlafen sein. Als er die Lider öffnete, sah er in dichtes Blattwerk. Dahinter der Himmel, der apricot schimmerte. Bald würde er die Farbe reifer Feigen annehmen.

Mühsam richtete Pierre sich auf. Vor ihm lag der Bach, der seinen Hof von der Straße trennte. Im Frühjahr, während der heftigen Regenfälle, war das Wasser über die Ufer getreten, doch nun war er nur noch ein schmales Rinnsal, das vor sich hin gurgelte.

Er rieb sich die Augen und sah in Richtung des Hofes. Charlotte hatte ihn noch nicht entdeckt. Sie stand vor der schmiedeeisernen Bank bei der Laube, die Hände in die Hüften gestützt, und blickte sich um.

Seit seiner Suspendierung im vergangenen Monat hatte Pierre es sich zur Gewohnheit gemacht, den Tag dort mit einem Krug Rosé ausklingen zu lassen und dabei die Wärme der Abendsonne auf der Haut zu genießen. Nun aber, da die Temperaturen der letzten Junitage beinahe vierzig Grad erreichten, war es ihm zu heiß geworden.

Pierre hatte im Schatten einer Esche Schutz vor der Sonne gesucht und vor der drückenden Hitze, die sie nach dem abendlichen Eintauchen hinter das Eichenwäldchen auf dem Hof zurückließ. Er hatte sich an den Stamm des Baumes gelehnt, den Blick in die Krone gerichtet. Dabei hatte er die Augen geschlossen, ganz kurz nur, um dann doch einzuschlafen. So fest, dass er es nicht bemerkt hatte, als Charlotte von der Arbeit nach Hause gekommen war.

»Pierre, wo steckst du denn?«

Er fuhr sich mit den Händen übers Haar und stand auf, um ihr entgegenzugehen.

War sie schon im Haus gewesen?

Der Gedanke an das Chaos, das er in der Küche hinterlassen hatte, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn. Die Schale mit dem espadon au citron, dem Schwertfischfilet in Zitronensauce, das Charlotte gestern aus ihrer L’Épicerie provençale mitgebracht hatte, stand leer gekratzt neben dem benutzten Teller samt Besteck auf dem Tisch. Und bei der Spüle lag noch das halb gegessene Croissant vom Morgen, daneben Wurstpelle und ein Häufchen Käseränder in einem Meer aus Krümeln.

Charlotte hasste Unordnung, und er hatte sie längst beseitigen wollen. Aber er hatte die Zeit vergessen. Pierre beschleunigte seinen Schritt.

Doch dann dachte er an das angekündigte Gespräch, das ihm bevorstand, und blieb stehen, rieb sich unentschlossen mit der Hand über das unrasierte Kinn.

»Du musst endlich Widerspruch einlegen«, hatte Charlotte ihn am Morgen angefleht. »Die Suspendierung wird sonst rechtskräftig. Heute Abend reden wir noch einmal darüber, ja?«

Pierre hatte nur gebrummt. Seine Suspendierung war überzogen gewesen. Der neue Bürgermeister hatte vollkommen überreagiert, nur weil er sich krankgemeldet hatte, während er privat in einem Fall ermittelte. Und weil ihn ein Journalist in Uniform vor den Toren des Untersuchungsgefängnisses in Grasse abgelichtet hatte, bevor er sie auszog. Was den Eindruck vermittelte, er hätte als Polizeibeamter auftreten wollen. Ein Eintrag in die Personalakte hätte ausgereicht, aber Maurice Marechal musste ja gleich das ganz große Geschütz auffahren.

Charlotte hatte recht, der Widerspruch war aussichtsreich, doch sein Stolz hielt Pierre zurück.

Vielleicht hätte er es ertragen, die nächsten Jahre unter einem solchen Idioten zu arbeiten – wenn er sich des Rückhalts der Gemeindevertreter sicher gewesen wäre. Anfangs hatte es auch ganz danach ausgesehen, als seien sie auf seiner Seite. Sie hatten versichert, die Entscheidung bei einer Dringlichkeitssitzung anzufechten. Der stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende François Pistou, ein pensionierter Rechtsanwalt, hatte von einem groben Fehler gesprochen, der rückgängig gemacht werden müsse, so wahr er hier stehe. Doch seither war nichts geschehen. Und je mehr Zeit verstrich, desto weiter schien der Fall hinter das Tagesgeschäft zurückzutreten. Sollte er nun etwa zu Kreuze kriechen, um das zu ändern?

Pierre schüttelte den Kopf, so, wie er es auch heute Morgen getan hatte. Nein, niemals!

»Du warst doch immer zufrieden mit deinem Beruf«, hatte Charlotte entgegnet. »Es hat dir Freude gemacht, für die Sicherheit der Dorfbewohner zu sorgen. Und seit Commissiare Lechat aus Cavaillon dir zugesichert hat, dich bei Kriminalfällen rund um Sainte Valérie in die Ermittlungen einzubeziehen, bist du in einer bequemen Position. Willst du all das etwa widerstandslos aufgeben?«

»Ohne die Zustimmung von Monsieur le maire Marechal geht da gar nichts, und er wird diese Regelung zu torpedieren wissen«, widersprach Pierre. »Er ist ein Idiot!«

»Mag sein. Aber im Streit wird oft heißer gekocht als gegessen. Ihr könnt euch bestimmt arrangieren.«

»Das glaubst du ja selbst nicht.«

»Doch, ich bin sogar davon überzeugt.«

Woher diese sagenhafte Überzeugung rührte, hatte sie allerdings nicht erwähnt, aber so war sie, seine Charlotte, ein Ausbund an Optimismus, egal, wie tief der Sumpf war, in dem man steckte.

Im Gegensatz zu ihm wusste sie, was sie wollte. Sie ging ihren Weg, verließ ihn immer dann, wenn etwas im Wege stand, um mit erstaunlich emotionaler Gelenkigkeit an anderer Stelle wiederaufzutauchen, von der sie eine bessere Aussicht hatte als zuvor. So hatte sie ursprünglich ein eigenes Restaurant eröffnen wollen, war aber vor den immensen Kosten zurückgeschreckt und vor der Unmöglichkeit, eine geeignete Lokalität zu finden.

Charlotte wäre nicht Charlotte, wenn sie nicht eine Lösung gefunden hätte, die die ursprüngliche noch weit übertraf.

Als ihr jemand ein hübsches kleines Ladenlokal an der Rue du Pontis direkt gegenüber der Aussichtsplattform anbot, warf sie kurzerhand ihre Pläne über den Haufen und eröffnete die LÉpicerie provençale, in der sie mit wenig Personalaufwand frisches Essen zum Mitnehmen herstellte. Ein »Restaurant to go« sozusagen, das sich innerhalb kürzester Zeit zu einem Geheimtipp entwickelte und ihr eine begeisterte Stammkundschaft bescherte. Das Bürgermeisteramt hatte ihr sogar die Genehmigung erteilt, zwei Tische vor der Épicerie aufzustellen, die den Umsatz gewiss noch erhöhen würden. Was ihn natürlich freute, ihm sein eigenes Dilemma jedoch erbarmungslos vor Augen führte.

Charlotte erfolgreich in ihrem geliebten Laden und er … nun ja. Er sollte alldem mit unverdrossenem Gleichmut begegnen. Es als Ansporn begreifen, um sich mit Tatkraft gegen die innere Ödnis zu stemmen. Aber er konnte es nicht, er war auch nur ein Mensch.

»Warum kümmerst du dich nicht um eine neue Anstellung?«, hatte sie ihn einmal gefragt, erschöpft von seiner Starrköpfigkeit.

»Für mich gibt es eben keinen Plan B.«

»Es gibt immer einen Plan B. Man muss den Gedanken nur zulassen.«

Pierre dachte an ihre glühenden Wangen und an das Lächeln, das noch eine Spur strahlender geworden war, als könne ihn alleine ihre Zuversicht überzeugen. Stattdessen löste sie damit einen Abwehrreflex aus, der sich nun in seinem Nacken festkrallte und ihn einen Schritt rückwärts trieb. Er hatte nicht die geringste Lust darauf, sich wie ein Schuljunge behandeln zu lassen, der nur ein wenig Nachhilfe in der Kunst des Lebens brauchte, um ihn wieder auf die Spur zu setzen.

»Pierre, du versteckst dich doch nicht etwa vor mir?« Charlottes Stimme klang jetzt ganz nah, als sei sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt.

Er drehte sich in Richtung der Brücke, die über den Bach auf die Straße führte, und schlich, als er erkannte, dass ihm dieser Weg versperrt war, an der rückwärtigen Wand des Hauptgebäudes entlang und durch das Eichenwäldchen hinüber zum Stall.

Leise öffnete er die Tür des Lagerraumes, schob sich an den mit Heu gefüllten Stiegen vorbei, an den Eimern mit Pellets und an den Salzlecksteinen und betrat den Bereich, in dem die beiden Ziegen untergebracht waren.

Der Geruch nach Mist und Tier schlug ihm entgegen. Obwohl die Steinmauern die Hitze des Tages aussperrten, war es stickig und warm. Durch die Öffnung, die zum Außengehege führte, drang kein Windhauch. Schon seit Tagen nicht. Wo sich sonst gegen Mitternacht die Luft in Bewegung setzte, um den Stalldunst durch die hereinströmende Nachtluft zu ersetzen, hatten die vergangenen Tropennächte für bleiernen Stillstand gesorgt.

Pierre hielt inne, atmete ein paarmal ein und aus, bevor er sich der weiß-braun gescheckten Cosima und ihrer maronenfarbenen Tochter Lilou näherte – Ergebnis der Affäre mit einem Roveziegenbock. Die beiden Ziegen zogen den Stall der Gluthitze des Außengeheges vor, standen wie erstarrt und mit gesenkten Köpfen da, sichtlich erschöpft.

Der Uhrmacher Didier Carbonne, der jeden Morgen vorbeikam, um Cosima zu melken und die Tiere zu versorgen, hatte zu Beginn der Hitzeperiode einen altersschwachen Ventilator mitgebracht, um den Aufenthalt im Stall einigermaßen erträglich zu machen. Doch als nach wenigen Umdrehungen die Sicherung raussprang und sich das Monstrum fortan nicht mehr in Bewegung setzen ließ, hatte er aufgegeben.

»Die Leitungen sind zu alt, die Anlage muss komplett erneuert werden«, hatte der herbeigerufene Elektriker gesagt und war ohne einen Auftrag wieder davongestiefelt.

»Zweitausend Euro«, stieß Pierre beim Gedanken an den Kostenvoranschlag aus. Wenn man in der Provence zweitausend sagte, konnten es leicht auch drei werden. Der Mechaniker Stephane Poncet hatte seine Hilfe angeboten. Er werde demnächst vorbeischauen, um das Ganze für einen Freundschaftspreis...