Verhängnisvolle Nähe - Thriller

von: Sandra Brown

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641229672 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Verhängnisvolle Nähe - Thriller


 

Prolog


»Hatten Sie Angst, dass Sie sterben würden?«

Der Major kniff missbilligend die Lippen zusammen. »Diese Frage war nicht abgesprochen.«

»Darum habe ich sie auch nicht vor laufender Kamera gestellt. Aber jetzt sind wir unter uns. Das interessiert mich ganz persönlich. Hatten Sie Angst um Ihr Leben? Kam Ihnen der Gedanke, dass Sie vielleicht nicht überleben werden?«

»Ich hatte keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen.«

Kerra Bailey legte den Kopf schief und sah ihn zweifelnd an. »Das hört sich für mich nach einer Phrase an.«

Der Siebzigjährige schenkte ihr das Lächeln, mit dem er die Herzen der ganzen Nation erobert hatte. »Richtig.«

»Also gut. Ich ziehe die Frage respektvoll zurück.«

Sie konnte großmütig über diesen Punkt hinweggehen, denn das, weswegen sie gekommen war, hatte sie bekommen: das erste Interview überhaupt, das der Major in über drei Jahren gegeben hatte. In den Tagen vor der abendlichen Liveübertragung aus seinem Heim hatten sie sich näher kennengelernt. Sie hatten einige lebhafte Diskussionen geführt und dabei oft gegensätzliche Standpunkte vertreten.

Kerra blickte zu dem Hirschkopf über dem Kaminsims auf. »Ich bleibe dabei, dass ich es nicht schön finde, von den Augen eines toten Tieres angestarrt zu werden.«

»Wildfleisch ist Nahrung. Und die Herde auszudünnen ist ökologisch notwendig, damit sie überlebt.«

»Rein wissenschaftlich mag das zutreffend sein. Aus persönlicher und menschlicher Sicht begreife ich nicht, wie jemand ein so schönes Tier ins Fadenkreuz nehmen und töten kann.«

»Diesen Streit wird keiner von uns beiden gewinnen«, erklärte er, woraufhin sie genauso stur erwiderte: »Und keiner von uns beiden wird klein beigeben.«

Der Major bellte ein kurzes Lachen, das in einem trockenen Husten endete. »Gut gekontert.« Er sah kurz zu dem hohen Waffenschrank in der Ecke des weitläufigen Raums, dann hievte er sich aus seinem braunen Lederfernsehsessel, ging hinüber und öffnete die Glastür.

Er holte ein Gewehr heraus. »Den Hirsch habe ich mit diesem Gewehr hier erlegt, dem letzten Weihnachtsgeschenk meiner Frau.« Seine Hand strich über den bläulichen Lauf. »Seit Debras Tod habe ich es nicht mehr benutzt.«

Kerra stellte gerührt fest, dass der ehemalige Soldat auch eine weichere Seite hatte. »Ich wünschte, sie hätte das Interview miterleben können.«

»Ich auch. Ich vermisse sie jeden Tag.«

»Wie war es für sie, mit Amerikas Helden verheiratet zu sein?«

»Oh, sie war ungemein beeindruckt«, antwortete er mit einem leisen Lachen und lehnte dabei das Gewehr in die Ecke zwischen Schrank und Wand. »Danach beschwerte sie sich nur noch jeden zweiten Tag, wenn ich meine schmutzigen Socken auf dem Boden liegen ließ, statt sie in den Wäschekorb zu werfen.«

Kerra lachte, doch in Gedanken war sie beim Sohn des Majors, der kein Geheimnis daraus gemacht hatte, wie zuwider ihm der Ruhm seines Vaters war. Aus einem Gefühl der Verpflichtung heraus hatte sie ihn eingeladen, zusammen mit dem Major aufzutreten. Er hatte abgelehnt, und zwar mit Worten, die keinen Raum für eine Fehlinterpretation ließen. Gott sei Dank.

Der Major durchquerte den Raum und trat an die Bar. »Das Reden hat mich durstig gemacht. Ich könnte einen Drink gebrauchen. Was möchten Sie?«

»Für mich nichts, danke.« Sie stand auf und hob ihre Tasche auf, die sie neben ihrem Stuhl abgestellt hatte. »Sobald das Team zurück ist, müssen wir aufbrechen.«

Der Major hatte für sie und ihr fünfköpfiges Produktionsteam bei einem Restaurant ein Picknickdinner mit kaltem Brathähnchen bestellt. Nachdem es geliefert worden war und sie gegessen hatten, verbrachten sie eine weitere Stunde damit, das Equipment zusammenzupacken. Danach hatte Kerra die Übrigen gebeten, den Wagen für die zweistündige Rückfahrt nach Dallas aufzutanken, während sie hiergeblieben war. Sie hatte ein paar Minuten allein mit dem Major verbringen wollen, auch damit sie sich gebührend bei ihm bedanken konnte.

»Major«, setzte sie an, »bitte lassen Sie mich sagen …«

Er drehte sich um und schnitt ihr das Wort ab: »Sie haben es schon gesagt, Kerra. Mehrmals. Sie brauchen es nicht noch zu wiederholen.«

»Vielleicht brauchen Sie es nicht noch mal zu hören, doch ich muss es aussprechen.« Ihre Stimme wurde rau. »Bitte lassen Sie mich Ihnen von Herzen für … für alles danken. Ich kann meine Dankbarkeit gar nicht genug ausdrücken. Sie ist grenzenlos.«

Ebenso ernst wie sie erwiderte er: »Gern geschehen.«

Sie lächelte ihn an und holte kurz Luft. »Dürfte ich Sie ab und zu anrufen? Oder besuchen, falls ich mal wieder in die Gegend komme?«

»Nur zu gern.«

Sie versicherten sich mit einem langen Blick ihrer gegenseitigen Sympathie und ließen dabei alle unzulänglichen Worte unausgesprochen. Dann knetete er, um den sentimentalen Augenblick zu überspielen, seine Hände. »Und Sie wollen sicher nichts zu trinken?«

»Nein, aber ich würde gern noch einmal Ihre Toilette benutzen.« Sie legte ihren Mantel über die Stuhllehne und hängte ihre Tasche über die Schulter.

»Sie wissen ja, wo sie ist.«

Es war ihr vierter Besuch in seinem Haus, weshalb sie sich mit den Räumlichkeiten auskannte. Das Wohnzimmer hatte etwas von einem Texasmuseum in Miniaturformat: mit Kuhfellteppichen auf den abgetretenen Holzdielen, Remington-Reproduktionen in Bronze, die Cowboys bei der Arbeit zeigten, und Möbelstücken, gegen die sich der Fernsehsessel des Majors winzig ausnahm.

Vom Wohnzimmer ging ein Flur ab, in dem sich hinter der ersten Tür links die Toilette befand, die, um nicht allzu feminin zu wirken, mit einem Seifenspender in Gestalt eines Longhorn-Stiers ausgestattet war.

Sie trocknete sich gerade ihre Hände ab und prüfte währenddessen ihr Aussehen im gerahmten Spiegel über dem Waschbecken, wobei sie sich still vornahm, ihre Friseurin anzurufen – vielleicht noch ein paar Highlights rund um das Gesicht? –, als es am Türknauf rappelte.

»Major? Ist mein Team schon zurück? Ich komme gleich.«

Er reagierte nicht, obwohl sie genau spürte, dass jemand hinter der Tür war.

Sie hängte das Handtuch in den Eisenring neben dem Waschbecken und wollte eben nach ihrer Schultertasche greifen, als sie den Knall hörte.

Ihr erster Gedanke galt dem Major, der das Gewehr aus dem Waffenschrank geholt und nicht zurückgestellt hatte. Falls er das gerade nachgeholt und sich dabei versehentlich ein Schuss gelöst hatte … O Gott!

Sie stürzte zur Tür, packte den Knauf, zog die Hand aber sofort zurück, als sie eine Stimme hörte, die definitiv nicht dem Major gehörte: »Und, wie gefällt es dir, tot zu sein?«

Kerra presste die Hand auf den Mund, um nicht vor Schreck und Entsetzen aufzuschreien. Sie hörte Schritte durchs Wohnzimmer poltern. Ein Paar Füße? Zwei? Es war schwer festzustellen, und vor Angst konnte sie keinen klaren Gedanken fassen. Allerdings war sie geistesgegenwärtig genug, das Licht auszuschalten.

Mit angehaltenem Atem verfolgte sie den Weg der Schritte über den Teppich, über die Holzdielen und dann, zu ihrem Entsetzen, in den Flur. Vor der Tür zur Toilette blieben sie stehen.

So lautlos wie möglich wich sie zurück, tastete sich in der Dunkelheit am Waschbecken und der Toilettenschüssel vorbei, bis sie mit dem Rücken an der holzvertäfelten Wand stand. Sie gab sich alle Mühe, leise zu atmen, während sich ihre Lippen unablässig zu einem Gebet formten, das aus einem einzigen Wort bestand: Bitte, bitte, bitte.

Der Unbekannte auf der anderen Seite der Tür drehte probeweise den Knauf und stellte fest, dass die Tür verriegelt war. Es folgte ein zweiter Versuch, dann erbebte die Tür unter einem ersten Anlauf, sie aufzubrechen. Wer auch immer einzudringen versuchte, musste an der abgeschlossenen Tür erkennen: Auf der anderen Seite hielt sich jemand versteckt.

Man hatte sie entdeckt.

Weitere Schritte eilten aus dem Wohnzimmer herbei. Dann wurde auf die Tür eingeschlagen, wahrscheinlich mit einem Gewehrkolben, mutmaßte sie.

Sie hatte rein gar nichts zur Hand, womit sie sich gegen einen bewaffneten Angreifer verteidigen konnte. Falls diese Unbekannten tatsächlich den Major erschossen hatten und diese Tür irgendwann aufbrechen konnten, würde sie ebenfalls sterben.

Ihre einzige Hoffnung bestand darin zu fliehen, und zwar sofort.

Das zweigeteilte Schiebefenster hinter ihr war klein, aber es war ihre einzige Chance, lebend aus dem Haus zu gelangen. Sie tastete nach dem Klappriegel, der die untere Hälfte fixierte, zerrte ihn auf und drückte dann die Finger in die Vertiefung unten am Rahmen, bevor sie die Scheibe nach oben zu schieben versuchte. Nichts rührte sich.

Bambambam! Unter den heftigen Schlägen begann der Türriegel zu wackeln, und das Holz rund um die Verankerung splitterte.

Weil man sie ohnehin entdeckt hatte, begann Kerra hemmungslos zu schluchzen und laut nach Luft zu schnappen. Bitte, bitte, bitte. Sie fühlte sich so ohnmächtig, dass sie wimmernd eine stärkere Macht als sie selbst um Erlösung anflehte.

Noch einmal, und diesmal mit aller Kraft, versuchte sie die Fensterscheibe hochzudrücken, worauf der Rahmen so unvermittelt und überraschend nach oben knallte, dass Kerra eine Sekunde wie gelähmt dastand. Hinter ihr lösten sich unter einem weiteren brutalen Ansturm die ersten Metallteile aus der Verriegelung, die klirrend zu Boden fielen.

In ihrer Verzweiflung zwängte...