Das Institut - Roman

von: Stephen King

Heyne, 2019

ISBN: 9783641244286 , 768 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Das Institut - Roman


 

6


Sheriff Ashworth – der, wie Tim später herausfand, von den meisten Einwohnern wie von seinen Deputys mit Sheriff John angeredet wurde – kam mit seinem dicken Bauch nur langsam vorwärts. Er hatte Hängebacken wie ein Basset und massenhaft weiße Haare. Auf seiner Uniformbluse sah man einen Ketchupfleck. An der Hüfte trug er eine Glock, an einem kleinen Finger einen Rubinring. Er sprach einen starken Dialekt und gab den freundlichen alten Herrn, aber seine tief in ihren fetten Höhlen liegenden Augen wirkten klug und neugierig. Wenn er nicht schwarz gewesen wäre, hätte er gut in einem Film wie Der Große aus dem Dunkeln auftreten können, wo ein klischeehafter Süden dargestellt wurde. Und noch etwas: Neben dem offiziellen Foto von Präsident Trump hing an der Wand seines Büros ein gerahmtes Abschlusszeugnis von der FBI National Academy in Quantico. So was bekam man nicht, indem man die Coupons auf Cornflakespackungen sammelte und einschickte.

»Na, dann wollen wir mal«, sagte Sheriff John und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. »Ich hab nicht viel Zeit, Marcella kann es nicht ausstehen, wenn ich zu spät zum Essen komme. Falls nicht gerade irgend ’ne Krise herrscht.«

»Schon kapiert.«

»Kommen wir also gleich zum Knackpunkt. Wieso arbeiten Sie nicht mehr bei den Kollegen in Sarasota, und was machen Sie ausgerechnet hier? South Cah-lina bietet ohnehin nicht gerade viele Attraktionen, und DuPray gehört eindeutig nicht dazu.«

An diesem Abend würde Ashworth wahrscheinlich nicht in Sarasota anrufen, aber dafür morgen früh, weshalb es keinen Sinn hatte, die Sache zu beschönigen. Nicht dass Tim das überhaupt gewollt hätte. Wenn er den Job als Nachtklopfer nicht bekam, würde er die Nacht in DuPray verbringen und morgens einfach auf seiner unsteten Reise nach New York weiterziehen, die ihm inzwischen wie eine notwendige Auszeit zwischen dem vorkam, was gegen Ende des vergangenen Jahres in der Westfield Mall von Sarasota geschehen war, und dem, was als Nächstes geschehen würde. Abgesehen davon war Ehrlichkeit die beste Strategie, schon deshalb, weil Lügen normalerweise kurze Beine hatten, besonders in einer Zeit, wo praktisch alle Informationen für jeden zugänglich waren, der über eine Tastatur und einen Internetzugang verfügte.

»Man hat mir die Wahl gelassen, ob ich selbst kündige oder gekündigt werde. Ich habe mich für Ersteres entschieden. Glücklich war niemand darüber, ich am allerwenigsten – ich hab mich in meinem Job ebenso wohlgefühlt wie am Golf von Mexiko –, aber es war die beste Lösung. So kriege ich ein bisschen Geld, zwar nicht annähernd eine richtige Pension, aber mehr als nichts. Das teile ich mit meiner Exfrau.«

»Und warum? Machen Sie’s kurz, damit ich mich an mein Abendessen setzen kann, solange es noch warm ist.«

»Es dauert nicht lange. Im vergangenen November bin ich eines Tages nach dem Dienst zur Westfield Mall gefahren, um mir ein Paar Schuhe zu kaufen. Musste zu einer Hochzeit. Ich trug da noch meine Uniform, okay?«

»Okay.«

»Als ich gerade aus dem Schuhladen trat, kam eine Frau angerannt und meinte, vor dem Kino würde ein junger Kerl mit einer Waffe herumwedeln. Worauf ich mich schleunigst dorthin begeben habe.«

»Haben Sie selbst die Waffe gezogen?«

»Nein, Sir, da noch nicht. Der Kerl mit der Waffe war etwa vierzehn Jahre alt, und ich hab angenommen, dass er entweder betrunken oder high ist. Er hatte einen anderen jungen Burschen zu Boden geschlagen und trat auf ihn ein. Außerdem hat er die Waffe auf ihn gerichtet.«

»Klingt ganz wie diese Sache in Cleveland. Wo dieser Cop einen schwarzen Jugendlichen erschossen hat, weil der mit einer Softairpistole herumgewedelt hat.«

»Daran habe ich auch gedacht, als ich mich dem Tatort genähert habe, aber der Cop, der Tamir Rice erschossen hat, dachte, dass der eine echte Waffe gehabt hätte. Hat er jedenfalls geschworen. Ich dagegen war mir ziemlich sicher, dass die Waffe, die ich vor mir sah, nicht echt war, aber völlig sicher konnte ich mir nicht sein. Können Sie sich ja vielleicht denken, warum.«

Sheriff John Ashworth hatte sein Abendessen offenbar ganz vergessen. »Weil der Täter sie auf den Jungen gerichtet hat, der auf dem Boden lag. Sinnlos, jemand mit einer Fake-Waffe zu bedrohen. Außer der auf dem Boden wusste nicht Bescheid.«

»Der Täter hat später ausgesagt, er hätte die Pistole nicht auf den anderen gerichtet, sondern sie nur hin und her geschwenkt und dabei gesagt: ›Das ist meine, du Penner, und die kriegst du nicht!‹ Was ich nicht gesehen habe; ich hatte den Eindruck, dass er damit gedroht hat. Ich habe ihm zugebrüllt, er soll die Waffe fallen lassen und die Hände heben. Das hat er entweder nicht gehört oder sich nicht drum geschert. Er hat einfach weiter auf den anderen eingetreten und ihn mit der Waffe bedroht. Oder die Waffe geschwenkt, wie auch immer. Jedenfalls habe ich da meine Pistole gezogen.« Er hielt kurz inne. »Falls das für Sie eine Rolle spielen sollte – die Kids waren beide weiß.«

»Aus meiner Sicht ist das egal. Zwei junge Kerle haben sich geprügelt. Einer lag auf dem Boden und wurde misshandelt. Der andere hatte ein Ding in der Hand, bei dem es sich um eine echte Waffe handeln konnte. Haben Sie auf ihn geschossen? Sagen Sie mir bitte, dass es nicht dazu gekommen ist!«

»Ich habe auf niemand geschossen. Aber … Sie wissen ja, dass bei einer Prügelei allerhand Gaffer zusammenlaufen, die aber normalerweise Reißaus nehmen, sobald eine Schusswaffe ins Spiel kommt.«

»Klar. Wer Grips hat, rennt dann schleunigst davon.«

»So war es auch in dem Fall, bloß dass ein paar Leute trotzdem dageblieben sind.«

»Um die Szene mit ihren Handys zu filmen.«

Tim nickte. »Vier oder fünf Typen, die sich für Spielberg hielten. Jedenfalls habe ich meine Waffe an die Decke gerichtet und einen Warnschuss abgegeben. Vielleicht war das eine schlechte Entscheidung, aber in dem Moment kam es mir angebracht vor. Als wäre es die einzige Option. Nun ist die Mall an der Stelle mit Hängelampen ausgestattet. Eine davon wurde von meinem Schuss getroffen und ist einem Schaulustigen direkt auf den Kopf gestürzt. Inzwischen hat der junge Kerl seine Waffe fallen lassen, und sobald sie auf dem Boden aufkam, wusste ich, dass sie nicht echt war, weil sie gehüpft ist. Wie sich herausstellte, war es eine Wasserpistole, die wie eine Automatik Kaliber fünfundvierzig aussah. Der Junge auf dem Boden hatte ein paar blaue Flecke und hat ein bisschen geblutet, ohne dass was genäht werden musste, aber der Mann, dem die Lampe auf den Schädel gefallen ist, war bewusstlos, und zwar drei Stunden lang. Gehirnerschütterung. Laut seinem Anwalt leidet er jetzt unter Gedächtnisschwund und wahnsinnigen Kopfschmerzen.«

»Hat er die Polizei verklagt?«

»Ja. Es wird ein bisschen dauern, aber irgendwas wird er bestimmt einheimsen.«

Sheriff John dachte nach. »Wenn er bloß dageblieben ist, um die Auseinandersetzung zu filmen, kriegt er eventuell nicht besonders viel, egal wie schlimm seine Kopfschmerzen sind. Aber Ihnen hat man wahrscheinlich vorgeworfen, grob fahrlässig einen Schuss abgefeuert zu haben.«

Das hatte man, und Tim hätte es am liebsten dabei belassen. Aber das ging nicht. Sheriff John sah zwar wie eine afroamerikanische Version von Boss Hogg in Ein Duke kommt selten allein aus, war jedoch kein Trottel. Obwohl er eindeutig Verständnis für Tims Situation hatte – was beinahe jeder Polizist gehabt hätte –, würde er die Geschichte überprüfen. Deshalb war es besser, wenn er den Rest von Tim selbst erfuhr.

»Bevor ich die Schuhe gekauft habe, war ich im Beachcombers und hab mir zwei Glas Bier genehmigt. Das haben die Kollegen, die den Jungen mit der Pistole festgenommen haben, an meinem Atem gerochen und mich ins Röhrchen pusten lassen. Ich hatte null Komma sechs Promille, was unter dem gesetzlichen Limit war, aber nicht gerade ideal, nachdem ich soeben meine Waffe abgefeuert und einen Mann ins Krankenhaus befördert hatte.«

»Trinken Sie regelmäßig, Mr. Jamieson?«

»In den ersten sechs Monaten nach meiner Scheidung war das der Fall, aber das ist jetzt schon zwei Jahre her. Jetzt nicht mehr.« Was ich natürlich in jedem Fall sagen würde, dachte er.

»Mhm, mhm, dann sehen wir mal, ob ich alles richtig verstanden habe.« Der Sheriff hob seinen dicken Zeigefinger. »Sie waren nicht im Dienst. Wenn Sie also keine Uniform getragen hätten, wäre die Frau erst gar nicht auf Sie zugerannt.«

»Wahrscheinlich nicht, aber ich hätte den Tumult gehört und wäre auf jeden Fall am Tatort aufgetaucht. Als Cop ist man nie ganz außer Dienst. Wie Sie sicher wissen.«

»Mhm, mhm, aber hätten Sie Ihre Waffe dabeigehabt?«

»Nein, die hätte gesichert in meinem Wagen gelegen.«

Für diesen Punkt hob Ashworth einen zweiten Finger und fügte gleich einen dritten hinzu. »Der junge Kerl hatte wahrscheinlich eine Spielzeugpistole, aber sie hätte auch echt sein können. Jedenfalls konnten Sie sich da nicht sicher...