Suchen und Finden
"9 (S. 76-77)
Der Tag des Ausflugs mit den Weidenfelds war gekommen. Anna wachte früh auf und konnte nicht mehr einschlafen, weil die Junisonne hell durchs Fenster schien und sie so unruhig war, dass es sie nicht länger im Bett hielt. Sie hatte auf schlechtes Wetter oder eine plötzliche Erkrankung gehofft, auf irgendeine Ausrede, um nicht mit Alexander dorthin fahren zu müssen, doch Gesundheit und Wetter zeigten sich unerbittlich. Am schlimmsten war, dass Rika sie nicht begleiten würde. Anna empfand es als ausgesprochen unhöflich, dass man sie nicht eingeladen hatte, und sagte das auch ihrem Bruder, doch zu ihrer Enttäuschung schien Rika selbst keine große Lust auf einen Ausflug nach Dahlem zu haben.
Sie ahnte, weshalb Alexander sie nicht dabeihaben wollte. Rika hätte seine Pläne nur gestört; auf diese Weise konnte er die Annäherungsversuche des jungen Leutnants ungehindert in die richtigen Bahnen lenken. Anna kam es vor, als bewegte sie sich langsam, aber unerbittlich auf eine Falle zu, die sich schließen würde, sobald die Männer zu einer Übereinkunft gelangt waren. Verzweifelt lief sie im Zimmer auf und ab, ohne auf die fröhlichen Kringel zu achten, die die Sonnenstrahlen auf die blank gebohnerten Dielen zeichneten. Sie war allein, das musste sie sich eingestehen. Keine Rika, die für sie sprechen würde.
Kein David Löwenstein, der ihr zuhörte. David, dachte sie zärtlich. Er hatte ihr noch am Tag ihres Spaziergangs geschrieben, und Rika hatte ihr den Brief am vergangenen Morgen mit einem prüfenden Blick überreicht. Wäre sie nicht einverstanden gewesen, hätte sie sicher etwas gesagt, versuchte Anna sich zu beruhigen. Gewiss war Friedchen auf ihrer Seite und wollte nur keine Auseinandersetzung mit Alexander riskieren. Sie trat vor den Spiegel und zog das Nachthemd zurück, sodass ihre Schultern entblößt waren. Welcher Mann würde sie so sehen?, fragte sie sich. Würde es jemand sein, den sie sich ausgesucht hatte?
Oder ein Ehemann, den man ihr aufzwang, weil er die größten Vorteile für Familie und Firma versprach? Energisch begann sie, sich die Haare zu bürsten. Sie würde diesen Tag durchstehen. Und dann würde sie endlich ein vertrauliches Gespräch mit Rika führen und sie um Hilfe bitten. Oder Alexander die Wahrheit sagen. Nein, erst Rika. Bei ihr fühlte sie sich sicher. Sie konnte ihre Gefühle für David nicht länger verheimlichen. Anna schaute sich im Spiegel an und lächelte entschlossen. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und trat an den Kleiderschrank, um die passende Garderobe für den Tag auszuwählen."
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