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"Als Gottes Schatten flüchtete
Seit der Kulturrevolution, die Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk durchgesetzt hat, ist die Türkei die modernste aller islamischen Gesellschaften. Noch immer aber ist das Land tief gespalten.
Von Daniel Steinvorth
Tansel Çölaşan war sechs Jahre alt, als sie Gott entdeckte. Sie befand sich gerade auf dem Heimweg von ihrer Schule, da hörte sie den Muezzin, den islamischen Gebetsrufer. »Tanri uludur!«, rief der Mann auf Türkisch, »Gott ist groß!« Çölaşan mochte die Stimme. Sie wollte wissen, wer dieser Gott ist. Sie ging in die Moschee und fragte einen Imam. Wer weiß, sagt sie heute, vielleicht wäre sie eines Tages sogar ein spiritueller Mensch geworden. Wenn nicht wenige Wochen nach ihrem Moscheebesuch, am 14. Mai 1950, ein neuer Ministerpräsident gewählt worden wäre – einer, den sie bis heute hasst und der später, »Gott sei Dank«, von den Generälen zum Tode verurteilt wurde.
»Wir haben unsere bis jetzt unterdrückte Religion von der Unterdrückung befreit«, verkündete der neue Regierungschef Adnan Menderes seinem Volk. Über Nacht mussten die Muezzine wieder auf Arabisch »Gott ist groß« verkünden, wie sie es über tausend Jahre getan hatten: »Allahu akbar!« Çölaşan verstand kein Arabisch, sie verlor ihr Interesse an der Religion, aber sie entdeckte etwas anderes, woran sie glauben konnte. Sie entdeckte Mustafa Kemal Atatürk, den »Vater der Türken«, den Gründer der säkularen türkischen Republik. Sie wollte Atatürks Lebenswerk gegen jenen politisierten Islam verteidigen, von dem sie es bedroht sah. Sie studierte Jura.
Wurde Staatsanwältin. Und landete im Staatsrat, dem Obersten Verwaltungsgericht der Türkei. Dass sie dort 2006 miterlebte, wie ein 28-jähriger Mann mit einem Revolver in das Gerichtsgebäude eindrang, »Allahu akbar!« rief, einen Richter tötete und vier weitere verletzte, trug auch nicht gerade zu einer versöhnlicheren Haltung gegenüber dem Islam bei. Im Juni dieses Jahres wurde Çölaşan zur neuen Vorsitzenden des »Vereins zur Pflege des Gedankenguts von Atatürk« (ADD) gewählt. In einem unauffälligen Bürogebäude im Stadtzentrum von Ankara spricht die Pensionärin – 66, resolut, blondierte Haare – gern über ihre bedingungslose Liebe zum Republikgründer.
Und auch über die gegenwärtigen Verfehlungen all jener »reaktionären Kräfte«, die, wie sie glaubt, »nach Atatürks Tod unter dem Teppich hervorgekrochen sind«. »Ich will Ihnen mein Land erklären«, sagt die ADD-Chefin und blickt sich in ihrem Zimmer um, als wäre es verwanzt. Es ist schließlich noch nicht so lange her, dass ihr Verein von einer Sonderkommission der Polizei durchsucht und Çölaşans Vorgänger – ein General a. D. – verhaftet wurde, weil er einen Putsch gegen die Regierung geplant haben soll.
»Es sind gefährliche Zeiten. Das Land brodelt. Wir stehen vor einer entscheidenden Phase unserer Geschichte.« Man sollte Frau Çölaşan genau zuhören, denn so wie sie denken viele Türken – vor allem jene, die sich zur traditionellen Elite des Landes zählen und gemeinhin als Kemalisten bezeichnet werden. Staatsanwälte, Richter, Offiziere, Akademiker, Lehrer, oft auch einfache Beamte, denen seit Jahren die Furcht vor einer Re-Islamisierung der Türkei, vor allem aber die Furcht vor dem eigenen Machtverlust in den Knochen sitzt. Hatte ihnen das System, in dem sie aufgewachsen waren, nicht die kulturelle Hegemonie über die Türkei versprochen?"
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