Das Haus in der Nebelgasse - Roman

von: Susanne Goga

Diana Verlag, 2017

ISBN: 9783641171896 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Das Haus in der Nebelgasse - Roman


 

1

London, September 1900

»Adela schaute sich in verzweifelter Panik um. Die Wölfe kamen näher, ihre Augen leuchteten wie rot glühende Kohlen in der Dunkelheit. Adelas Herz schlug so heftig, dass ihre Kehle erbebte, und sie konnte nur ein angstvolles Wimmern hervorstoßen – noch Marmelade, meine Liebe?«

Mrs. Westlake schob Matilda Gray achtlos das Glas hin, während sie mit der anderen Hand die Blätter vor sich glatt strich. Sie runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich frage mich gerade, ob Wölfe nicht zu abgedroschen sind.«

Matilda sah abrupt von ihrer Zeitung auf. »Verzeihung, was ist abgedroschen?«

Ihre Vermieterin lachte. »Was kann denn interessanter sein als meine Heldin in Todesnot?« Doch sie wurde ernst, als sie sah, welchen Artikel Matilda gerade las. »Dieser verfluchte Krieg. Männer schlachten einander in fernen Ländern ab, in denen sie nichts zu suchen haben.« Als sie den überraschten Blick der jungen Frau bemerkte, zuckte sie mit den Schultern und legte den Finger an die Lippen. »Das sage ich natürlich nur in meinem eigenen Haus, alles andere wäre Verrat am Empire.«

Matilda schluckte und nickte dann. »Sie haben recht. Von mir aus könnte mein Bruder auf der Straße Limonade oder Würstchen verkaufen, solange er in Sicherheit ist. Aber Harry war schon immer ungestüm, abenteuerlustig und vollkommen unfähig, nichts zu tun. Also ist er zur Armee gegangen.«

Matildas Mutter war gestorben, als sie dreizehn war, vier Jahre später auch ihr Vater. Seither hatte es immer nur sie und Harry gegeben. Er war drei Jahre älter als sie und hatte Verständnis gezeigt, als sie einen Beruf ergreifen wollte. Harry hatte seine Schwester nicht zu einer frühen Ehe gedrängt und sie mit seinem Sold unterstützt, als sie das Schulgeld nicht aufbringen konnte. Auch hatte er sie ermutigt, als sie durch eine Prüfung gefallen war und an ihren Fähigkeiten zweifelte. Solange er in England stationiert war, konnten sie einander regelmäßig sehen. Dann aber war er nach Afrika versetzt worden, und seit dem vergangenen Jahr kämpfte er gegen die Buren. Die Sorge um ihn ließ Matilda nie ganz los.

Mrs. Westlake tätschelte ihre Hand. »Sie sollten die Zeitung beiseitelegen und mir bei meinem Wolfsdilemma helfen. Das lenkt ab und ist im Übrigen auch Ihre Pflicht. Schließlich stehen Sie mir ja seltener zur Verfügung, nun, da die Ferien zu Ende sind. Beim letzten Roman waren Sie mir eine große Hilfe. So viel Unsinn wie damals habe ich noch nie gestrichen. Aber mit der neuen Geschichte bin ich mir nicht ganz sicher.«

Matilda faltete lachend die Zeitung zusammen und schenkte ihnen beiden Tee nach. »Also, zu den Wölfen. Sie halten sie für abgedroschen?«

»Ja, wenn man Kreaturen sucht, die Angst und Schrecken verbreiten, fallen mir sofort Wölfe ein. Aber leider eben auch der Konkurrenz und dem Publikum. Nur muss ich Adela in die Karpaten schicken. Das lässt sich nicht vermeiden, weil sie ja im vorigen Roman von Graf Damianescu dorthin verschleppt wurde. Es gelingt ihr, sich aus der Schlossruine zu befreien, und sie läuft hinein in die undurchdringlichen Wälder, in die sich kaum ein Mensch verirrt, geschweige denn die wärmenden Strahlen der Sonne … Verzeihung, ich lasse mich schon wieder von meiner eigenen Geschichte mitreißen.«

Matilda lachte und nahm sich noch eine Scheibe Toast. »Bären.«

»Bären?« Mrs. Westlake ließ klirrend das Messer fallen und zeigte triumphierend auf Matilda. »Das ist es! Ein Bär, nein, zwei Bären, ein ganzes Rudel, hungrig, seit Tagen auf der Suche nach Beute – ja bitte?«

»Ich sage es ungern, aber meines Wissens sind Bären Einzelgänger. Die jagen nicht im Rudel.«

Mrs. Westlake überlegte kurz. »Hm. Gut, dann sind es nur zwei. Zwei sind völlig ausreichend. Jedenfalls wittern sie diese junge Frau, ihre Panik, ihren Angstschweiß – das schreibe ich natürlich nicht, auch wenn es der Wahrheit entspricht. Unzüchtig, Sie wissen schon.«

Matilda sah ihre Vermieterin belustigt und liebevoll zugleich an. Der Artikel über den Krieg im Süden Afrikas hatte wieder einmal die Sorge um ihren Bruder geweckt, doch Mrs. Westlake gelang es, ihre trüben Gedanken mit Wölfen und Bären zu vertreiben.

Dass sie hier ein Zimmer gefunden hatte, war ein unerhörter Glücksfall. Beatrice Westlake war früh verwitwet. Was ihr Mann nicht vertrunken hatte, war dem Glücksspiel zum Opfer gefallen, und sie war darauf angewiesen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, da ihr zwar das Haus, aber kein Penny geblieben war. Matilda hatte sich manches Mal gefragt, ob sein Tod nicht dennoch wie eine Befreiung gewesen sein musste.

Sie wohnte seit einem knappen Jahr bei der Verfasserin der erfolgreichen Serie um die liebreizende Adela Mornington, die von einem Abenteuer ins nächste stürzte. Wenn Mrs. Westlake bis spät in die Nacht geschrieben hatte oder abends eingeladen gewesen war, frühstückte Matilda gewöhnlich allein. Ungestört Zeitung lesen zu können war schön, eine amüsante Unterhaltung bei Tee und Toast jedoch noch viel angenehmer. Und Chelsea war voller Künstler, das ganze unkonventionelle Viertel sprühte vor Leben.

In diesem Augenblick trat das Hausmädchen Sally ein. »Soll ich noch Tee bringen, Ma’am?«

Mrs. Westlake schaute Matilda an, die den Kopf schüttelte. »Ich muss gleich los.«

Sally nickte und verließ den Raum rasch wieder.

»Sie haben doch hoffentlich noch eine Minute für mich, meine Liebe? Ich bin heute Morgen besonders früh aufgestanden, weil mir die Wölfe keine Ruhe ließen. Ihr brillanter Einfall wird mir neuen Schwung verleihen, ich sehe jetzt das ganze Kapitel vor mir. Aber da wäre noch etwas …« Mrs. Westlake schaute Matilda prüfend an.

»Und?« Sie schob ihr Geschirr zusammen.

Mrs. Westlake räusperte sich. »Nun, Sie sind eine unverheiratete junge Dame aus gutem Hause …«

»Jetzt machen Sie mich aber neugierig«, sagte Matilda lächelnd. »Fragen Sie nur, aber rasch, sonst komme ich zu spät zum Unterricht.«

»Adrian. Sie begegnet ihm im Wald. Er nimmt sie mit in seine Hütte und gibt ihr zu essen. Und ein Lager für die Nacht, damit sie ihre grünen, von Müdigkeit geröteten Augen endlich schließen kann – die Augenfarbe stelle ich mir wie Ihre vor, das nur nebenbei. Nun die Frage: Wo schläft er?«

»Am anderen Ende der Hütte? Draußen im Heu?«

»Matilda, meine Liebe, ich muss doch bitten, das ist eine winzige Waldhütte in den Karpaten. Da gibt es weder ein anderes Ende noch Heu – wobei, er könnte einen winzigen Vorratsschuppen haben, der wäre nah genug, um ihre Schreie zu hören …«

»Schreie?«, fragte Matilda belustigt, während sie aufstand und ihren Stuhl an den Tisch schob.

»Natürlich, meine Liebe, sie leidet unter Albträumen von verfallenen Schlössern und Bären.«

»Ach so.«

»Gehen Sie nur, gehen Sie, die Arbeit ruft. Ich werde Ihnen heute Abend von meinen Fortschritten berichten.«

»Es wäre mir ein Vergnügen, Mrs. Westlake. Und gutes Gelingen.«

Matilda machte sich auf den Weg zum Bahnhof Chelsea. Es war Anfang September, noch warm, und doch lag schon ein Hauch von Herbst in der Luft. Es war schwer zu sagen, worin sich milde Tage in Frühjahr und Herbst unterschieden, und doch hätte sie die Jahreszeit mit geschlossenen Augen erkannt. Der September roch frischer, der Wind strich ein wenig rauer über ihre Haut.

Sie verspürte keine Wehmut, denn am Sommer festzuhalten war ebenso unnütz wie der Versuch, Wasser mit den Händen aufzufangen. Im Frühjahr erfreute sie sich an den Pflaumenblüten, im Herbst am reifen Obst. Sie dachte an Spaziergänge, bei denen braunes Herbstlaub unter ihren Füßen rascheln und zarter Nebel in den Baumkronen hängen würde. Das Kaminfeuer würde hell lodern, wenn Mrs. Westlake ihr abends das neueste Kapitel vorlas und sie mit gespannter Erwartung über die halbmondförmige Brille hinweg ansah.

Matilda ging auf der King’s Road, die um diese Zeit schon von Leben wimmelte, unter den Markisen der Geschäfte hindurch, die sich über den sonnenbeschienenen Gehweg spannten. Aus einer Bäckerei wehte der Duft von frisch gebackenem Brot, nebenan duftete es aus einem Schuhgeschäft betäubend nach teurem Leder. Gegenüber lag das mit Flaggen geschmückte Kaufhaus Peter Jones, in dessen endlos wirkender Fensterflucht alle nur erdenklichen Waren ausgestellt waren.

Matilda stieg südlich des Flusses in Clapham Junction um. Gewöhnlich nutzte sie die Fahrt nach Richmond, um den Lehrstoff für den Tag zu überfliegen. Im Englischunterricht wählte sie die Lektüre großzügig aus und besprach auch Werke, die von ihren Kolleginnen als unpassend erachtet wurden. Sie vertrat die Ansicht, dass ein umfassender Überblick über die englische Lyrik auch Byron, Shelley und Blake einschloss. »Aber nicht Byrons Privatleben, Miss Gray«, hatte Miss Haddon, die Schulleiterin, sie gewarnt. »Das würden die Eltern nicht dulden. Und das Kuratorium ebenso wenig.«

An diesem Morgen schaute Matilda jedoch aus dem Fenster, der Tag war einfach zu schön. Nachdem der Zug Clapham Junction verlassen hatte, wo sich hölzerne Aufbauten wie Brücken über die Gleise spannten, überragt von Fabriken und rauchenden Schornsteinen, wurde die Umgebung langsam freundlicher. Der Zug hielt in Wandsworth und Putney, bevor die Strecke in Mortlake fast die Themse berührte. Dann kam schon Richmond, wo Matilda ausstieg.

Die meisten Menschen fuhren morgens zur Arbeit in die Stadt hinein und kehrten abends in die Vororte zurück, während Matildas Weg genau...