DARK LOVE - Dich darf ich nicht begehren - Roman

von: Estelle Maskame

Heyne, 2016

ISBN: 9783641184759 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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DARK LOVE - Dich darf ich nicht begehren - Roman


 

Kapitel 1

Obwohl das Wasser eisig ist, wate ich bis zu den Knöcheln hinein. Meine Chucks trage ich in der Hand, ich habe mir die Schuhbänder um die Finger gewickelt. Der Wind wird stärker, wie das abends meistens der Fall ist. Es ist zu dunkel, um allzu weit hinauszublicken auf die sanften Wogen des Ozeans, und trotzdem höre ich das Brechen und Tosen der Wellen um mich herum. Um ein Haar hätte ich vergessen, dass ich nicht alleine bin. Aus der Ferne dringt der Lärm des Feuerwerks, der Klang von Gelächter und Stimmen an mein Ohr, festliche, freudige Geräusche. Eine Sekunde lang war mir entfallen, dass wir ja heute den vierten Juli haben und den Unabhängigkeitstag feiern.

Ein Mädchen läuft im Wasser an mir vorbei und stört die Ruhe, das beständige Auf und Ab der Wellen. Ein Junge sprintet hinter ihr her, sie liefern sich eine wilde Verfolgungsjagd. Vermutlich ihr Freund. Versehentlich spritzt er mich im Vorbeirennen nass, doch er lacht nur laut und packt das Mädchen von hinten. Spielerisch zieht er sie an sich. Ich beiße die Zähne zusammen, und ohne dass es mir bewusst wäre, umklammere ich die Schuhbänder ein wenig fester. Die beiden sind etwa in meinem Alter, aber ich kenne sie nicht, noch nie gesehen. Vermutlich kommen sie aus der Stadt oder aus der unmittelbaren Umgebung und sind hier, um den guten alten Unabhängigkeitstag in Santa Monica zu verbringen. Mir unerklärlich, warum sie das tun. Der vierte Juli wird hier auch nicht spektakulärer gefeiert als anderswo. Feuerwerkskörper sind verboten, ein total hirnrissiges Gesetz, das für mich gleich an zweiter Stelle kommt nach diesem Gesetz in Oregon, das besagt, dass man sein Benzin nicht selbst zapfen darf. Es gibt also kein Feuerwerk, abgesehen von denen in Marina del Rey etwas weiter südlich oder in Pacific Palisades im Norden. Beide kann man von hier aus sehen. Es ist schon nach neun, die Vorführungen haben soeben begonnen. In der Ferne leuchtet der Himmel in den verschiedensten Farben, wenn auch nur undeutlich. Doch den Touristen und den Einwohnern hier scheint das zu genügen.

Das junge Pärchen steht jetzt im knietiefen Wasser und knutscht, etwas abseits des Lichtscheins, der vom Pacific Park ausgeht. Ich wende den Blick ab. Langsam setze ich mich in Bewegung und entferne mich vom Pier, stapfe durch die Fluten und gehe so auf Abstand zu dem ganzen Rummel, den der Unabhängigkeitstag jedes Jahr aufs Neue mit sich bringt. Am Pier tummeln sich viel mehr Menschen als hier unten am Strand, sodass ich ein wenig durchschnaufen kann. Dieses Jahr habe ich einfach keinen Nerv für den ganzen Trubel. Ich verbinde viel zu viele Erinnerungen mit diesem Tag, an die will ich nicht denken müssen. Daher gehe ich weiter, immer weiter die Küste entlang.

Ich bleibe erst stehen, als ich Rachael meinen Namen rufen höre. Bis eben hatte ich nicht mehr daran gedacht, dass sie ja zurückkommen wollte. Ich drehe mich um und beobachte, wie meine beste Freundin halb springend, halb laufend über den Strand auf mich zukommt. Sie trägt die amerikanische Flagge als Stirnband um den Kopf, und sie hat zwei Eisbecher in den Händen. Vor einer Viertelstunde ist sie losgezogen, um sie uns zu organisieren. Das Soda Jerks hat wie alle Läden am Pier heute Abend länger geöffnet als sonst.

»Hab’s gerade noch geschafft, die wollten schon schließen«, sagt Rachael ein wenig außer Puste. Ihr Pferdeschwanz wippt auf Schulterhöhe hin und her. Sie bleibt stehen und reicht mir das Eis, leckt aber vorher noch über ihren Zeigefinger, weil es bereits am Schmelzen ist.

Ich komme aus dem Wasser und schenke ihr ein dankbares Lächeln. Den ganzen Abend über war ich schon recht einsilbig, und auch jetzt fällt es mir schwer, so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung, als wäre ich so glücklich und zufrieden wie alle anderen auch. Ich nehme den Becher in die freie Hand, in der anderen die roten Chucks – rote Schuhe, das ist heute mein einziges Zugeständnis an den Patriotismus –, und werfe einen kurzen Blick auf das Eis. Die Sorte nennt sich Toboggan Carousel, benannt nach dem gleichnamigen Fahrgeschäft oben am Pier im Looff-Hippodrome. Das Soda Jerks befindet sich dort gleich an der Ecke. In den drei Wochen, die ich nun schon zu Hause bin, waren wir mehr als einmal auf ein Eis dort. Ich glaube sogar, dass wir in letzter Zeit viel öfter auf ein Eis waren als auf einen Kaffee. Irgendwie ist das viel tröstlicher fürs Gemüt.

»Sie sind alle oben am Pier«, ruft Rachael mir in Erinnerung. »Vielleicht sollten wir doch auch hoch.« In ihrer Stimme schwingt etwas Zögerndes mit, als sie diesen Vorschlag macht, als würde sie erwarten, dass ich ihr sofort ins Wort falle und Nein sage. Sie richtet ihre blauen Augen auf ihr Eis, Sorte Peanut-Butter-Cup, und leckt hastig daran.

Als sie schluckt, wandert mein Blick über ihre Schulter rauf zum Pier. Das Pacific Wheel zieht seine jährliche Show zum vierten Juli ab, Tausende von LED-Lämpchen leuchten abwechselnd in Rot, Blau und Weiß auf. Das Ganze fing um kurz nach acht an, genau bei Sonnenuntergang. Ein paar Minuten lang sahen wir zu Beginn zu, doch schnell wurde uns das zu langweilig. Ich unterdrücke ein Seufzen und richte den Blick stattdessen wieder auf die Promenade. Dort ist viel zu viel los, aber ich will Rachaels Geduld nicht allzu sehr überstrapazieren, daher erkläre ich mich einverstanden.

Wir machen also kehrt, überqueren den Strand und schlängeln uns zwischen den Leuten durch, die den Abend lieber hier unten verbringen. Schweigend essen wir unser Eis aus den Plastikbehältern. Nach ein paar Minuten bleibe ich stehen und schlüpfe in meine Chucks.

»Hast du Meghan schon gesehen?«

Ich blicke hoch zu Rachael, während ich die Schuhbänder schnüre. »Hab sie nicht gesehen.« Wenn ich ehrlich sein soll, hab ich auch nicht groß nach ihr Ausschau gehalten. Meghan ist eine alte Freundin von uns, aber mehr auch nicht. Zufällig ist sie wie wir den Sommer über zu Hause, deshalb will Rachael unbedingt, dass wir uns mal wieder zu dritt treffen, genau wie früher.

»Wir sehen sie bestimmt noch«, sagt sie und wechselt sofort das Thema, indem sie hinzufügt: »Schon gehört? Das Riesenrad wurde dieses Jahr zum Beat eines Songs von Daft Punk programmiert.« Sie hopst voraus, wirbelt im Sand herum und kommt dann hüpfend auf mich zu. Entschlossen greift sie nach meiner freien Hand, zieht mich zu sich heran, ein breites, strahlendes Grinsen im Gesicht, und dreht mich im Kreis. Gegen meinen Willen tanze ich eine Runde mit ihr, obwohl da gar keine Musik ist. »Wieder ein Sommer, wieder ein Jahr.«

Ich mache mich von ihr los und muss aufpassen, dass ich meinen Eisbecher nicht fallen lasse. Dann beobachte ich sie. Sie hüpft immer noch, tanzt weiter zu dem imaginären Song in ihrem Kopf. Während sie die Augen schließt und erneut herumwirbelt, denke ich über ihre Worte nach. Wieder ein Sommer, wieder ein Jahr. Seit vier Sommern sind wir nun schon beste Freundinnen, und abgesehen von einer kleineren Meinungsverschiedenheit letzten Sommer, sind wir uns so nahe wie eh und je. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir meine Fehltritte vergeben würde, doch das tat sie. Sie ließ es einfach auf sich beruhen, weil es ihrer Meinung nach wichtigere Dinge gab, um die man sich Gedanken machen musste. Zum Beispiel mich mit Eis zu versorgen und Ausflüge quer durchs Land mit mir zu machen, nur um mich abzulenken, um mich ein wenig aufzumuntern. In schweren Zeiten braucht man eine beste Freundin. Und obwohl ich irgendwann nach Chicago musste, wo ich das vergangene Jahr am College war, sind wir immer noch beste Freundinnen. Jetzt, da ich bis September wieder in Santa Monica bin, liegen ein paar gemeinsame Monate vor uns.

»Die schauen schon alle deinetwegen«, sage ich zu ihr. Meine Mundwinkel kräuseln sich zu einem Lächeln, als sie erschrocken die Augen aufreißt und sich mit knallroten Wangen umsieht. Ein paar Leute sind stehen geblieben und haben ihren wilden Tanz beobachtet.

»Höchste Zeit, von hier zu verschwinden«, flüstert sie. Sie packt mein Handgelenk und spurtet los. Sie zerrt mich hinter sich her, lässt den Sand unter unseren Füßen aufspritzen, und mir bleibt nichts anderes übrig, ich folge ihr. Wir lachen schallend. Weit laufen wir allerdings nicht: nur ein paar Meter, weit genug, um sie vor ihrem Publikum zu retten. »Zu meiner Verteidigung«, sagt sie schwer atmend, »muss ich sagen, dass man sich am vierten Juli zum Idioten machen darf. Das gehört dazu zum Erwachsenwerden. Außerdem leben wir in einem freien Land. Verstehst du? Hier kann man tun, worauf man Lust hat.«

Ich wünschte, es wäre wirklich so. Wenn ich eines gelernt habe in den neunzehn Jahren meines jungen Daseins, dann ist es Folgendes: nämlich, dass wir ganz bestimmt nicht das tun können, worauf wir Lust haben. Man darf sein Benzin nicht selber zapfen. Man darf den Hollywood-Schriftzug nicht berühren. Man darf auf keinen Fall fremde Grundstücke betreten. Und es ist verboten, den eigenen Stiefbruder zu küssen. Klar können wir all diese Dinge rein theoretisch tun. Aber nur, wenn wir mutig genug sind, mit den Konsequenzen zu leben.

Augenrollend sehe ich Rachael an, während wir die Stufen rauf zum Pier erklimmen. Je näher wir kommen, desto lauter ist die Musik, die vom Pacific Park zu uns herüberweht. Das Riesenrad blinkt nach wie vor abwechselnd in Rot, Blau und Weiß auf. Der Rest des Jahrmarkts erstrahlt ebenfalls in hellem Licht, wenn auch nicht alles in den Farben des Vaterlandes. Wir schlängeln uns durch den oberen Parkplatz am Pier und quetschen uns zwischen den viel zu dicht geparkten Fahrzeugen hindurch, als mein Blick plötzlich auf Jamie fällt. Er ist...