Windfire

von: Lynn Raven

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2015

ISBN: 9783641093464 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Windfire


 

Hinter der Tür der Branners weinte die kleine Julie mal wieder herzerweichend nach ihrer Mutter. Vermutlich zog Lee wie jeden Abend mit ihrem neuen Lover von Club zu Club, ohne sich um ihre Tochter zu kümmern. Wie lange es wohl diesmal dauerte, bis die alte Mrs Goodwin in der Wohnung gegenüber die Fürsorge anrief? Ich hatte bereits mehr als einmal schon selbst das Telefon in der Hand gehabt – und es jedes Mal sein lassen. Mit Lee zu reden, hatte herzlich wenig gebracht, aber ich konnte es auch nicht riskieren, auf uns aufmerksam zu machen. Wer wusste schon, auf welche schwachsinnigen Ideen irgendein übereifriger Sozialarbeiter kam, wenn durch Zufall herauskam, dass ich ganz allein für Danny sorgte. Immerhin war ich noch nicht einundzwanzig.

Annie Kellers Apartmenttür öffnete sich in genau dem Moment, als ich stehen bleiben wollte, um Julie wenigstens vom Flur aus ein bisschen zu trösten. Wenn man mit der Kleinen sprach und ihr eine Geschichte erzählte oder etwas vorsang, beruhigte sie sich meistens ein wenig und hörte auf zu weinen. Zumindest für eine kurze Zeit.

Annie lächelte und winkte mir zu. »Ich schau nach ihr. – Hast du heute wieder Schicht in der Reinigung?«

Ich erwiderte das Lächeln. »Ja. Und ich bin viel zu spät dran.« Weil ich es wegen diesem Idioten nicht gewagt hatte, meine übliche Abkürzung zu nehmen und deshalb den Bus verpasst hatte. Ich wandte mich der Treppe zu, während ich zum Ich-wusste-nicht-wie-vielten-Mal den verschwitzen Uniformblusenstoff von meinen Rippen zupfte. Hier im Treppenhaus war die Luft zwischen den Stockwerken zum Schneiden dick, noch stickiger als draußen auf der Straße. Zumindest war der Kerl nicht wieder aufgekreuzt. Schien so, als hätte ich wenigstens einmal Glück.

Mit einem demonstrativen Blick auf die Uhr zog Annie die Nase kraus, während sie sich zugleich vor Lees Tür kauerte. »Dann lass dich mal von Mr Moskowitz nicht feuern. – Hi Julie, Süße. Was ist denn los?«

Julies Weinen verstummte. Ich konnte nicht hören, was sie sagte, weil ich schon halb die Stufen zum nächsten Absatz hinauf war, nur dass ihre Stimme wie immer schüchtern und zaghaft klang. Jemand sollte Lee mal gehörig die Meinung sagen. Vielleicht wäre Julie ja tatsächlich besser in einer Pflegefamilie aufgehoben? Nur konnte leider niemand garantieren, dass die Kleine nicht am Ende vom Regen in die Traufe kam. Und Lee konnte eine liebevolle und fürsorgliche Mutter sein – wenn sie zu Hause war und ihr Lover ausnahmsweise mal kein egoistischer Vollidiot.

Ich streifte die drei Typen, die ein Stockwerk höher neben dem kaputten Aufzug herumlungerten, nur mit einem flüchtigen Blick. Alles, was ungefähr mein Alter hatte, gehörte normalerweise zu der Gang, die hier in der Straße das Sagen hatte. Oder hatte zumindest in irgendeiner Form damit zu tun. Gewöhnlich ließen sie mich – abgesehen von dem ein oder anderen dummen Spruch, einem großkotzigen Kommentar oder einem anzüglichen Hinterherpfeifen – allerdings in Ruhe. Wenn ich einen von ihnen alleine im Flur oder auf der Treppe traf, konnten sie teilweise richtig nett sein. Francisco aus 8b hatte mir sogar zusammen mit einem seiner Kumpel die Wasserleitung in der Küche repariert. Diese Kerle hatte ich allerdings noch nie hier gesehen. Und keiner von ihnen trug eines der üblichen Tattoos oder Bandanas. Die Uhr am Handgelenk des Linken sprach dafür eine ziemlich eigene Sprache: von sehr erfolgreichen illegalen Geschäften. Wie die Typen mich mit den Augen verfolgten, jagte mir eine Gänsehaut über den Rücken. Entsprechend beeilte ich mich, an ihnen vorbeizukommen.

Auf dem nächsten Absatz war die Wandfarbe unter all den Graffiti und irgendwelchen Schmierereien kaum noch zu erkennen. Wie eigentlich im ganzen Hausflur. Nicht, dass das Fahlbraun besonders hübsch gewesen wäre. Ein paar Papierfetzen in der Ecke wirbelten in einem scheinbar aus dem Nichts kommenden Luftzug auf und tanzten um sich selbst. Daneben flappten die Reste einer alten Zeitung auf und fielen wieder in sich zusammen. Das giftgrüne Gekrakel links unten war neu. Zumindest war es mir zuvor noch nicht aufgefallen. Der Riss, der sich in Augenhöhe inzwischen beinah einen halben Meter durch die Mauer fraß, verursachte mir jedes Mal ein mulmiges Gefühl. Hoffentlich stammte das, was da in der Ecke lag, nur von Mäusen und nicht wieder von Ratten.

Paul würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, wo wir gelandet sind. Von Mom ganz zu schweigen Aber nach seinem Autounfall hatte das Geld aus Pauls Lebensversicherung gerade so Dannys Rechnungen gedeckt. Zumindest am Anfang. Und danach … Tja. Tante Gwen, Pauls Schwester, hatte dafür gesorgt, dass die Konten ihres Bruders eingefroren wurden, bis die ›Verhältnisse geklärt‹ waren. Und als ob das nicht genug gewesen wäre: Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie Danny keine vierundzwanzig Stunden nach der Beerdigung in ein drittklassiges Hospiz zum Sterben abgeschoben, in der Hoffnung, so noch ein bisschen mehr von Pauls Erbe für sich sichern zu können. Ich glaubte, ihre Stimme noch immer im Ohr zu haben, als sie – vor Danny – verkündete, dass es Studien gäbe, nach denen sein Krebs in 78 % aller Fälle ohnehin binnen weniger Monate tödlich verlief. Mom hätte sie zum Teufel gejagt. Aber Mom war seit über zwei Jahren nicht mehr da – ohne mir all das zu sagen, was sie mir hatte sagen wollen. Ich verdrängte den Gedanken. Und das eine Wort, das er immer mit sich brachte: Hexe. Tatsache war: Nach Pauls Tod und Tante Gwens Auftauchen war mir nichts anderes eingefallen, als mit Danny mitten in der Nacht zu verschwinden.

In den ersten Wochen hatte ich permanent in der Angst gelebt, dass bei jedem Klopfen, jedem Geräusch vor der Tür, jedes Mal, wenn jemand meinen Namen nannte, plötzlich die Cops vor mir stehen würden – um mich wegen Entführung zu verhaften. Vielleicht auch wegen Diebstahls. Immerhin hatte ich nicht nur das letzte Bargeld aus dem Safe im Wohnzimmer genommen, sondern auch Pauls Honda. Auch wenn ich den beim Busbahnhof hatte stehen lassen. Anstatt ihn zu Geld zu machen. Nichts war geschehen. Inzwischen wagte ich beinah, darauf zu hoffen, dass Tante Gwen gar nicht nach uns suchte. Solange sie mir Entführung und Diebstahl anhängen konnte, konnte sie ziemlich sicher sein, dass ich es nicht wagen würde, etwas wegen Pauls Erbe gegen sie zu unternehmen. Damit hatte sie mich in der Hand. – Trotzdem fühlten sich die letzten vier Monate wie eine Ewigkeit an.

Das hier war das Einzige, was ich mir leisten konnte. Und auch das nur gerade so.

Zwischendurch hatte Danny immer mal wieder versucht, einen auf tough zu machen, und gemeint, es wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn er in ein Hospiz gehen würde; so etwas wäre bestimmt nicht so teuer, wie die ganze Zeit im Krankenhaus zu liegen … Das letzte Mal war gerade drei Tage her. Ich hätte ihn deshalb beinah geschlagen. Stattdessen hatte ich nur den Kaffeebecher aus Pappe zerquetscht, mir die Finger an der heißen Brühe verbrannt und eine riesige Sauerei auf dem Boden hinterlassen. Sah man mal davon ab, dass ich Paul an seinem Grab versprochen hatte, auf Danny aufzupassen: Ich liebte meinen Stiefbruder. Und solange es in meiner Macht stand, würde er jede Behandlung bekommen, die er brauchte und die auch nur ansatzweise Erfolg versprechend war. Wenn ich dafür noch einen Job mehr annehmen musste, würde ich es eben tun. Schlaf wurde sowieso überschätz- …

Ein Scharren hinter mir. Hastig sah ich über die Schulter zurück. Die drei Typen standen am Fuß der Treppe zum vorherigen Stockwerk und starrten zu mir herauf. Vor allem der mit dem zurückgegelten Irokesen hatte die Augen auf eine Art zusammengekniffen, als … Fast ein wenig zu schnell, um mit der Bewegung nicht ganz laut ›Opfer‹ zu schreien, wandte ich mich wieder ab, lief die nächsten Stufen hinauf und bog dann in den Flur ein, auf dem unsere Wohnung lag. Noch im Gehen kramte ich den Schlüssel aus meiner Tasche, sperrte auf und warf hastig einen sichernden Blick hinter mich, ehe ich hineinschlüpfte und die Tür hinter mir zudrückte. Nebenan schlug Mr Housemans Uhr gerade dreimal. Fünfzehn Minuten, um mich umzuziehen und zur Bushaltestelle zu hetzen, wenn ich den nächsten Bus Downtown noch erwischen wollte. Hoffentlich waren die Typen bis dahin von der Treppe verschwunden. Allein der Gedanke, noch mal an ihnen vorbeizumüssen, löste ein Schaudern bei mir aus.

Vorsichtiger als sonst warf ich meine Tasche auf die Schlafcouch. Paco hatte mir die neueste Ausgabe von Dannys Lieblingscomic – X-Men – ins Big D’s gebracht. Wenn Mr Moskowitz mich ausnahmsweise pünktlich gehen ließ, würde ich im Krankenhaus vorbeischauen und ihm das Ding bringen können. Heute Abend hatte Schwester Alexa Dienst. Die würde mich bestimmt noch mal ganz kurz zu Danny lassen. Vom Spülstein aus grinste mich das Geschirr von gestern und vorgestern quer durch das kleine Wohnzimmer, das auch mein Schlafzimmer war, geradezu höhnisch an. Vielleicht konnte ich heute Nacht noch schnell abspülen, bevor ich ins Bett fiel. Bei der Vorstellung, dass sich die kleinen, vierpfotigen Bewohner vom Treppenhaus auch hier einnisten könnten, schüttelte es mich. Ich verdrängte den Gedanken und hastete ins Bad, um endlich meine verschwitzten Arbeitsklamotten loszuwerden. Das Bettzeug lag noch immer zerwühlt auf der Couch. Ich hatte es am Morgen einfach nicht mehr geschafft, alles in Ordnung zu bringen. Die Jeans von gestern und vorgestern taten es auch für meine Schicht heute in der Reinigung, aber ich brauchte ein anderes Oberteil. Zwei. Bei der Hitze draußen würden im Inneren von Mr Moskowitz’...