Totenhaus - Thriller

von: Bernhard Aichner

btb, 2015

ISBN: 9783641155728 , 416 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Totenhaus - Thriller


 

Man hört, wie sie atmet. Auf dem alten Teppich ihr Gesicht. Irgendwo im Schwarzwald auf einem Hügel, sie hat keine Kraft mehr. Da ist kein Gedanke mehr, der guttut, kein Wort, keine Berührung, nichts mehr. Eine Frau am Boden, allein, die Kinder weit weg, sie hört sie nicht, spürt sie nicht, sie wird sie nicht wiedersehen, sie nie wieder küssen, ihr Weinen nicht mehr hören, ihr Lachen. Weil sie sterben wird. Weil sie auf diesem Teppich liegen bleiben und tot sein wird. In wenigen Stunden schon.

Wie es brennt. Ihr Hals ist eine Wunde, alles tut weh. Ihr Mund ist eine Wüste, ihre Zunge ein Stück Dörrfleisch, das Schlucken eine Qual. Kein Speichel mehr, kein Tropfen Wasser, nichts, das abwendet, was kommt. Sie wird das Bewusstsein verlieren, ihre Organe werden versagen, die Nieren, die Lunge, ihr Körper wird aufhören zu funktionieren, sie kann nichts dagegen tun, sich nicht mehr wehren, nicht mehr gegen die Tür treten, an den Wänden kratzen. Sie hat keine Kraft mehr, sie weiß nicht mehr, wie lange sie schon hier ist, wie viele Stunden, ohne zu trinken, wie oft es Nacht war, seit sie gehört hat, wie sich der Schlüssel gedreht hat. Wann der Tag aufhört, wann er beginnt, sie weiß es nicht.

Keine Fenster, kein Licht von außen. Nur der Kronleuchter an der Decke, die barocken Vorhänge, das Himmelbett, die Jugendstilmöbel und der riesige Spiegel mit dem goldenen Rahmen. Sie sieht sich, wenn sie die Augen offen lässt. Ihr Gesicht, ihre Lippen, keine Bewegung zu viel, sie darf ihre Kraft nicht verschwenden, sie muss wach bleiben. Immer wieder hebt sie kurz ihren Kopf, leicht nur, für zwei Sekunden lang schwebt ihre Wange über dem Boden, weil sie wissen will, ob sie es noch kann, ob sie aufstehen könnte, wenn er kommen würde. Ob sie noch aus eigener Kraft zurückkönnte in ihre Welt. Weil vielleicht doch noch ein Wunder passiert, weil jemand ihr Bitten erhört, ihr Flüstern. Deshalb muss sie wach bleiben, sie darf nicht abtauchen ins Trübe, klar denken will sie, sich erinnern. Wer sie ist. Wie sie heißt. Wie ihr Leben war. Immer wieder wiederholt sie es, wie ein Gebet ist es. Was sie sagt. Ihre kleine verhungerte Stimme. Brünhilde Blum. Ich bin Bestatterin, ich lebe in Innsbruck, ich habe zwei Kinder. Ich will leben, sagt sie und erstickt fast an dem Klumpen in ihrem Mund.

Nur noch ein leises Flüstern ist es, kaum hörbar. Mein Name ist Blum. Weil sie ihren Vornamen immer schon gehasst hat, weil sie ihn nicht mehr wollte, als sie sechzehn war. Ich heiße Blum. Für wenige Sekunden hebt sich wieder ihr Kopf. Ich habe zwei Kinder. Uma und Nela. Sie muss sich um sie kümmern, sie darf sie nicht alleinlassen, nicht aufhören zu leben, nicht auf diesem Teppich liegen bleiben. Sie muss weiteratmen, darf die Augen nicht schließen, nicht einschlafen. Sie muss die kleinen Zauberwesen beschützen, sie in den Arm nehmen, das ist alles, was sie will. Es wiedergutmachen. Sie nie wieder allein lassen. Doch zu weit weg sind sie, Blum weiß, dass sie nichts mehr für sie tun kann, sie macht sich nur noch etwas vor, nur ein weiterer unerfüllter Wunsch ist es. Sie kann sie nicht zu sich holen, nicht einfach aufstehen und aus dem Zimmer gehen, nicht zu ihnen fahren und sie in den Arm nehmen. Sie kann nicht zurück in ihr altes Leben, sogar dann nicht, wenn das Wunder eintreten sollte, das sie sich herbeisehnt. Wenn die Tür aufgehen und Wasser in ihren Mund rinnen sollte. Blum wird nie wieder ihr Haus betreten, sie wird nie wieder in ihrem Garten sitzen und Wein trinken. Da ist nichts mehr von dem, was war, die Welt hat sich gedreht, sie wird hier zugrunde gehen wie ein angeschossenes Tier, anstatt für ihre Kinder zu kochen. Anstatt mit ihnen auf der Couch zu sitzen und ihnen vorzulesen. Der Geschmack in ihrem Mund sagt ihr, dass es nicht mehr lange dauern wird. Der Uringeruch und diese Stille. Alles hört auf.

Kein Laut ist zu hören von draußen. Wo früher wahrscheinlich Fenster waren, ist jetzt eine Mauer, keine Tür führt ins Licht, keine Tür zum Badezimmer. Da ist kein Wasserhahn, da ist nur ihr Durst, die Sehnsucht nach einem See, einer Pfütze, da ist nur ihr Flüstern, das sich gegen das langsame Sterben wehrt. Szenen aus ihrem Leben, an die sie sich mit Gewalt erinnern will. So laut sie kann, spricht sie es aus. Ich lebe in Innsbruck. Bin Bestatterin. Wort für Wort, weil sie ihre Gedanken nicht mehr unter Kontrolle hat, weil alles durcheinander ist, weil sie Angst hat, dass sie den Verstand verliert. Dass sie es vergisst. Wer sie ist. Was war.

Mein Name ist Blum. Ich bin Bestatterin. Wir raten Ihnen, sich von dem Verstorbenen am offenen Sarg zu verabschieden. Es ist wichtig für die Trauerarbeit, den Verstorbenen noch einmal zu sehen. Um zu begreifen. Jedes Wort tut weh, und trotzdem sagt sie es. Blum will ihren Alltag zurück, sie sehnt sich nach diesem leicht süßlichen Geruch, nach den Toten im Kühlraum. Sie will sich um sie kümmern, sie waschen, ihre Wunden schließen, sie anziehen. Arbeiten und nicht sterben. Ihnen die Haare waschen, sie kämmen, ihre Münder schließen und sie in die Särge betten. Seit sie denken kann, war es so, eine Kindheit lang, eine Jugend, der Tod machte ihr keine Angst, das Bestattungsunternehmen Blum war ihre Heimat, der Versorgungsraum ihr Kinderzimmer. Vertraut war alles. Der Leichenwagen, der durch die Einfahrt kam, die traurigen Gesichter im Abschiednahmeraum, ihre Kinder, die im Freien auf den Kirschbaum kletterten. Und Karl, der unten stand und sie auffing.

Der beste Schwiegervater der Welt. Blum weiß, dass er für sie da ist. In diesem Moment sitzen sie auf seinem Schoß, er kocht Kakao für sie, Uma und Nela sind glücklich. Es muss so sein. Egal was kommt, auf Karl kann sie sich verlassen, er wird sich um die Kinder kümmern. Es sich anders vorzustellen, ist unerträglich. Da sind nur Bilder in ihrem Kopf, in denen die Mädchen unbeschwert im Garten spielen. Nichts fehlt ihnen, sie lachen, tollen herum, sind geborgen, da ist keine Angst, da sind keine Tränen, keine Albträume in der Nacht, aus denen sie aufwachen und nach ihrer Mutter schreien. Karl ist da. Sie fleht ihn an, sie wünscht sich nichts mehr auf dieser Welt. Bitte, pass auf sie auf, Karl. Ich komme nicht zurück. Sag ihnen, dass ich sie liebe, Karl.

Verzweifelt kommt es aus ihrem Mund. Diese Ohnmacht. Blum möchte schreien, um sich schlagen, sie möchte aufstehen und losrennen. Und sie möchte weinen. Doch da sind keine Tränen mehr, leer ist alles, sie kann nichts mehr tun, sie kann die Uhr nicht zurückdrehen, es nicht ungeschehen machen. Alles, was sie getan hat. Es ist kein Geheimnis mehr, in allen Zeitungen steht es, die Nachrichten sind voll davon, jeder kennt ihr Gesicht, alle wissen es. Dass sie ein Monster ist, dass sie ihr altes Leben nicht mehr zurückbekommt. Blum. Sie hat alles kaputt gemacht, und dafür hasst sie sich. Dass sie mit dem Schicksal ihrer Kinder gespielt hat, dass sie nur an sich gedacht hat. An ihre Wut. Daran, dass sie ihn umgebracht haben. Den Vater ihrer Kinder. Einfach so.

Erinnerungen, die ihr Herz zerreißen. Verdörrtes Fleisch auf einem teuren Teppich. Nur noch ihr Wille verhindert, dass ihre Augen für immer zufallen, dass sie ihr Bewusstsein verliert. Nur noch diese Gedanken an die Kinder, die sie am Leben halten, die Sehnsucht nach diesem Kichern, wenn sie etwas Verbotenes tun, nach ihrem Übermut, dem Geschrei, wenn sie müde sind. Die Tränen, wenn sie stürzen. Wie sie in ihren kleinen Betten liegen und schlafen, Blum sieht es. Wie alles beginnt zu verschwimmen.

Langsam dreht sie sich auf den Rücken. Seit Stunden in Seitenlage, ihre Hüfte tut weh, ihr Arm ist eingeschlafen, einmal bewegt sie ihn noch. Was früher selbstverständlich war, ist jetzt beinahe unmöglich, die einfachsten Dinge, jede Bewegung, das Atmen. Sie wird auf dem Rücken liegen bleiben, vielleicht wird sie noch einige Male den Kopf heben, aber ihr Leib wird sich nicht mehr rühren. Bis sie tot ist. Mein Name ist Blum, flüstert sie. Ich hatte zwei Kinder. Und ich hatte einen Mann. Ihre Liebe, die nach acht Jahren einfach tot auf der Straße lag. Mark. Ein letztes Mal denkt sie an ihn, an seine Hände, seine Haut, seinen Mund. Und was er immer zu ihr gesagt hat. Alles wird gut, Blum. Doch nichts wurde gut. Er ist einfach in einer Kiste unter der Erde verschwunden. Das Glück hat einfach aufgehört zu existieren. Bis jetzt kam es nicht zurück. Da ist niemand, der sie hochhebt, sie in die Arme nimmt. Blum ist allein. Die gute Fee kommt nicht. Kein Wunsch hilft. Es ist die Strafe für das, was sie getan hat, sie weiß es. Sie kann nichts mehr tun, nur noch daliegen und warten, zum letzten Mal ihre Lippen bewegen, bevor es für immer still ist. Bevor ihre Stimme verschwindet. Egal, was sie dafür geben würde, um weiterzureden, weiterzuleben, nur noch zwei Sätze kommen aus ihrem Mund. Kaum hörbar, langsam das Ende. Es tut mir so leid, sagt sie. Es tut mir alles so unendlich leid. Dann ist da nur noch ein leerer Mund.

Sie starrt an die Zimmerdecke. Seit Stunden der goldene Stuck, dieses Deckenfresko, das Paradies. Ein Bild, in dem sie sich verliert, ein Garten mit Obstbäumen, alles blüht und strahlt und wächst. Das Letzte, das sie sieht. Eine üppig gemalte Dame, die nackt in einen Apfel beißt. Wieder und wieder hat Blum in den letzten Tagen diese Frau angestarrt. Wie unbeschwert sie ist, wie sie sich dem Essen hingibt, dem Wein, dem Leben. Ein Gelage an der Zimmerdecke, Völlerei, ein Schlag ins Gesicht ist es. Blum sieht, was sie nie wieder haben wird. Wie es hätte sein können. Kirschen, die sie pflückt,...