Victor Hugo: Die Elenden / Les Misérables (Ungekürzte deutsche Ausgabe)

von: Victor Hugo

AuraBooks – eClassica, 2014

ISBN: 9783956904868 , 1200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 1,99 EUR

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Victor Hugo: Die Elenden / Les Misérables (Ungekürzte deutsche Ausgabe)


 

Zweiter Teil. Cosette

Erstes Buch. Waterloo

I. Was man sieht, wenn man von Nivelles kommt


An einem schönen Maimorgen des Jahres 1861 wanderte Jemand, – Derjenige, der diese Geschichte erzählt, – von Nivelles in der Richtung nach La Hulpe. Eine Viertelstunde hinter einem Wirtshause, auf dessen Schild! »Zu den vier Winden. Echabeau, Privatcafé« zu lesen war, gelangte er auf der welligen Chaussee in ein kleines Tal, wo rechts vom Wege eine Herberge lag. Hier zog sich seitwärts neben einem Ententeich ein schlecht gepflasterter Pfad, den der Wanderer betrat. Nachdem er daselbst an einer spitzgibeligen Mauer aus dem 15. Jahrhundert eine Strecke entlang gegangen, sah er ein großes gewölbtes Tor mit geradem Kämpfer, in dem majestätischen Stil Ludwigs XIV., mit einem flachen Rundbild an jeder Seite. Auf der Wiese, die sich vor dem Tor ausdehnte, lagen drei Eggen, durch deren Öffnungen alle möglichen Maiblumen hindurchgewachsen waren.

Der Wanderer bückte sich und betrachtete aufmerksam das untere Ende des Gurtpfeilers, wo ihm eine merkwürdige rundliche Aushöhlung auffiel. In demselben Augenblick öffneten sich auch die beiden Torflügel und eine Bäuerin trat heraus.

»Das ist von einer französischen Kanonenkugel!« bemerkte sie zu dem Fremden. »Und das Loch weiter oben, in der Tür, hat eine Kartätschenkugel gemacht. Die ist nicht durchgegangen.«

Wie heisst dieser Ort?« fragte der Wanderer.

»Hougomont.«

Der Fremde richtete sich wieder auf, warf einen Blick über die Hecken und bemerkte am Horizont, durch die Bäume hindurch, eine Art Hügel und auf diesem Hügel etwas, das aus der Ferne einem Löwen ähnlich sah.

Er stand auf dem Schlachtfeld von Waterloo.

 

II. Hougomont


Hougomont war das erste Hindernis, auf das Napoleon, Europas großer Baumfäller, bei Waterloo stieß; der erste Knast, den seine Axt nicht durchhauen konnte.

Ehedem war es ein Schloss, jetzt nur noch ein Gehöft. Hougomont ist für den Altertumskenner eine von Hugo, dem Herrn von Somerel, erbaute Burg.

Der Wanderer stieß die Tür auf und trat in den Hof. Hier sah er eine Mistgrube, Spaten und Karste, einige Karren, einen alten Brunnen mit Traufrinne und eisernem Drehkreuz, ein hüpfendes Füllen, einen Trutahn, eine Kapelle mit einem Türmchen, einen Birnbaum. Dies also war der Hof, dessen Eroberung für Napoleon ein unerreichbares Ideal blieb! Dieser Fleck Erde würde ihm, wenn er ihn hätte bekommen können, zur Weltherrschaft verholfen haben.

Hier bewiesen die Engländer eine bewundernswert Tapferkeit. Hier erwehrten sich die vier Kompagnien der Cooke'schen Garden sieben Stunden lang einer ganzen Armee.

Auf der Karte stellt sich Hougomont als ein unregelmäßiges Rechteck dar, dessen eine Ecke abgestumpft ist. Hier befindet sich das Südthor. Denn Hougomont hat zwei Tore, ein südliches, das Schlossthor, und ein nördliches, das in das Gehöft führt. Gegen diesen Ort also sandte Napoleon seinen Bruder Jérôme; hier trafen die Divisionen Guilleminot, Foy und Bachelu zusammen, fast das ganze Armeekorps Reille wurde hier verwendet und zurückgewiesen; Kellermanns Kanonen richteten nichts aus gegen dies tapfere Stück Mauer und es bedurfte der größten Anstrengungen seitens der Brigade Bauduin, um von Norden in Hougomont einzudringen, während die Brigade Soye im Süden sich nur eines geringen Teils bemächtigen konnte.

Ein Bruchstück des Nordthors hängt noch an der Mauer. Es besteht aus vier Brettern samt den zwei Querhölzern, worauf die Bretter aufgenagelt sind; an diesem Bruchstück sieht man noch die Spuren, die von dem Kampfe beredtes Zeugnis; ablegen. Auch der Türpfosten wies noch lange Zeit nachher Abdrücke von blutigen Händen auf. An dieser Stelle wurde Bauduin getödtet.

Im Jahre 1815 standen auf diesem Hof eine Menge Gebäude, die in der Schlacht als Redouten, Fleschen, Schanzen benutzt wurden. Die Franzosen konnten sie nicht nehmen, nicht behaupten. Von allen Seiten, den Böden, den Kellern, den Fenstern herab beschossen, brachten die Angreifer Faschinen herbei, um die Gebäude in Brand zu stecken, aber ohne Erfolg.

In dem zerfallenen Schlossflügel sieht man durch vergitterte Fenster demolierte Wachtstuben und eine zweistöckige, vom Erdgeschoss bis zum Dach hinauf geborstene Wendeltreppe. Auf den oberen Stufen dieser Treppe belagert, zerstörten die englischen Gardisten die unteren, deren Trümmer, große blaue Fliesen, noch heute zwischen den Brennnesseln liegen.

Auch in der Kapelle haben Franzosen und Engländer sich gemordet. Drinnen sieht es seltsam genug aus. Die Messe ist hier seit dem Gemetzel nicht mehr gelesen worden. Aber der Altar ist stehen geblieben. Vier weiß getünchte Wände, dem Altar gegenüber eine Tür, zwei gewölbte Fensterchen, oben an der Tür ein Kruzifix, darüber ein viereckiges mit Heu verstopftes Loch, in einer Ecke ein alter Fensterrahmen: So sieht diese Kapelle jetzt aus. In der Nähe des Altars ist eine Holzstatue der heil. Anna aus dem 15. Jahrhundert angenagelt; der Kopf des Jesuskindes wurde von einer Kanonenkugel abgeschlagen.

Auch durch Feuer ist das Gotteshaus beschädigt worden. Die Franzosen, die sich desselben schon bemächtigt hatten, wurden hinausgetrieben, kehrten aber wieder zurück und warfen Feuer hinein. Das ganze Gebäude brannte wie ein Hochofen, die Tür, die Dielen brannten, nur das hölzerne Christusbild nicht. Zwar die Füße hat das Feuer arg mitgenommen, aber sonst ist es unbeschädigt geblieben. Ein Wunder! sagen die Leute der Umgegend. Ja, aber das Jesuskind, dem der Kopf abgerissen wurde, ist doch nicht so glücklich gewesen, wie das Christusbild!

Die Wände der Kapelle sind mit Inschriften bedeckt. Nahe den Füßen des Christusbildes liest man den Namen Henquinez. Und viele andere: Conde de Rio Maior, Marques y Marquesa de Almagro (Habana). Auch französische Namen mit wütenden Ausrufungszeichen.

An der Tür der Kapelle wurde ein Leichnam aufgelesen, der eine Axt in der Hand hielt. Es war die Leiche des Unterlieutenants Legros.

Tritt man hinaus, so sieht man links einen Brunnen. Auf dem Hofe ist noch ein anderer. Man fragt: »Wozu zwei Brunnen? Warum ist der hier nicht mit Rolle und Eimer versehen?« »Ja, der ist voller Skelette!«

Der Letzte, der Wasser aus diesem Brunnen geschöpft hat, hieß Wilhelm van Kylsom. Er war ein Bauer, der in Hougomont wohnte und die Gärtnerei betrieb. Seine Familie flüchtete sich am 18. Juni 1815 in den Wald, der damals mehrere Tage und Nächte die obdachlose Bevölkerung der Umgegend aufnahm und noch viele Jahre nachher Spulen dieses Aufenthalts, namentlich verkohlte alte Baumstümpfe, aufwies.

Wilhelm van Kylsom dagegen blieb in Hougomont, um »das Schloss zu hüten« und – verkroch sich in einen Keller. Hier entdeckten ihn die Engländer, holten ihn aus seinem Schlupfwinkel heraus und bedeuteten ihm, indem sie mit den flachen Klingen auf ihn losschlugen, dass sie Wasser haben wollten. Dies brachte er ihnen dann aus dem erwähnten Brunnen.

Nach der Schlacht hatte man Eile, die Leichen wegzuschaffen. Denn der Tod verfolgt auch nachher noch den Sieger, indem er die Pest gegen ihn ausschickt. Der Typhus ist eine Ergänzung des Triumphes. Da kam also den Siegern der Brunnen, der sehr tief ist, recht gelegen. Er nahm dreihundert Leichen auf. Waren auch Alle, die hineingeworfen wurden, wirklich schon Leichen? Manche behaupten »Nein!« Die Nacht darauf liehen sich im Brunnen schwache Stimmen, die um Hilfe riefen, vernehmen.

Ein Haus auf dem Gehöft ist noch bewohnt, An der Tür dieses Hauses ist eine kunstvolle Klinke, Diese ergriff der hannoversche Lieutenant Wilda, um sich in das Haus zu flüchten, als plötzlich ein Sappeur ihm die Hand abhieb.

Die Familie, die in diesem Hause wohnt, stammt von dem erwähnten Gärtner Wilhelm van Kylsom, der nun schon längst gestorben ist. Eine Frau in grauen Haaren erzählte mir, als ich mich 1861 dort aufhielt! »Ich war damals drei Jahre alt, Meine Schwester, die größer war als ich, fürchtete sich und weinte. Man trug uns weg, in den Wald, Mich nahm meine Mutter auf den Arm, Alles legte sich platt auf die Erde und horchte. Ich machte den Kanonendonner nach: Bumm! Bumm!«

Durch die eine Tür des Hofes gelangt man in den Garten, einen wahren Schreckensort,

Er besteht aus drei Teilen. In dem einen, dem Blumengarten, der tiefer gelegen ist, fingen sich sechs Voltigeure des ersten Regiments der Chevaux-legers wie Bären in einer Grube, und nahmen den Kampf gegen zwei Kompagnieen Hannoveraner auf, von denen die eine mit Karabinern bewaffnet war. Die Angreifer, zweihundert an der Zahl, legten sich hinter das Steingeländer, das den Blumengarten umgibt, und schossen von oben auf die Sechs hinab, die, nur von den Sträuchern geschützt, sich eine Viertelstunde lang wehrten, ehe sie unterlagen.

Von dem Blumen- zu dem Obstgarten hinauf führen einige Stufen. Hier fielen binnen einer Stunde, auf einem Raum, der nur wenige Quadratklaster misst, fünfzehnhundert Mann, Noch steht die Mauer so verteidigungsfähig wie damals, mit den achtunddreißig Schießscharten, die von den Engländern in verschiedenen Höhen angebracht wurden. Vor der Mauer, nach Süden zu, ist eine hohe Hecke, die sie dem Blick entzieht, und als die Franzosen den Ort stürmten, glaubten sie, sie hätten es nur mit diesem Hindernis zu tun. Plötzlich aber sahen sie die Mauer vor sich, und aus den Schießscharten prasselte ein fürchterliches Kanonen- und Gewehrfeuer auf sie hernieder, so dass der Angriff der Brigade Soye hier scheiterte. So fing Waterloo an.

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