Sozialpolitik - Ökonomisierung und Entgrenzung

von: Adalbert Evers, Rolf G. Heinze

VS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV), 2008

ISBN: 9783531909295 , 341 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 33,26 EUR

Mehr zum Inhalt

Sozialpolitik - Ökonomisierung und Entgrenzung


 

Sozialpolitik: Gefahren der Ökonomisierung und Chancen der Entgrenzung. (S. 9)

Adalbert Evers, Rolf G. Heinze

In der Diskussion des Verhältnisses von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik gab es immer geteilte Meinungen und Kontroversen, insbesondere zur Frage des wirtschaftlichen Werts der Sozialpolitik. Eines aber war bis in die jüngste Zeit konstant: die weitgehende Trennung von beiden Politikbereichen als Sektoren mit je eigenen Prioritäten und Wertorientierungen. Inzwischen ist es jedoch in der Sozialpolitik selbstverständlich geworden, hier auch wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Erwägungen Raum zu geben.

Das betrifft die Frage der wirtschaftlichen Effekte von Reformen der Alterssicherungssysteme ebenso wie die wirtschaftspolitischen Effekte bestimmter Familienpolitiken oder die Diskussion des Gesundheitssystems als sozialpolitischem Garanten und wirtschaftlichem Wachstumsfaktor. Die Grenzen zwischen Sozialpolitik und anderen öffentlichen Politiken, speziell die Grenzziehungen zwischen Sozial- und Wirtschaftspolitik scheinen immer durchlässiger zu werden.

Im Zuge der Konzipierung und Umsetzung entsprechender Reformprojekte ist aber noch etwas anderes deutlich geworden. In klassischen Konzepten der gesamtgesellschaftlichen Verantwortungsteilung wurde der Sozialstaat vor allem als Instrument der Umverteilung und sozialen Absicherung begriffen, der Nachteile und Risiken für Bürger ausgleichen sollte, von denen ganz selbstverständlich angenommen wurde, dass sie im Regelfall ihre Verantwortung in Gesellschaft, Arbeitswelt oder auch Familie ernst nehmen und aktiv leben.

In dem Sinne waren eine „aktive" Gesellschaft und aktivitätsbereite Bürger gewissermaßen der selbstverständliche Bezugspunkt klassischer Sozialpolitik. Heute ist man da skeptischer. In der gesellschaftspolitischen Debatte wird ganz allgemein kollektives und individuelles Besitzstandsdenken beklagt. Speziell im Bereich der Sozialpolitik ist die Frage, inwieweit Modernisierungserfordernisse beim Sozialstaat und bei bisherigen Lebens- und Arbeitsformen mit sozialer Gerechtigkeit, Sicherheit und Vertrauen vereinbar sein können, ein Problem, das sich quer durch die Parteien zieht.

„Mehr Eigenverantwortung" ist zu einem Schlüsselbegriff geworden, den die einen geradezu emphatisch besetzen, die anderen eher als Synonym für Entsicherung und Entsolidarisierung verstehen. Auf den Begriff des aktivierenden Staates (vgl. die Beiträge in Mezger/West 2000 sowie Behrens et al. 2005) greifen die einen zurück, wenn sie fordern, dass Sozialpolitik eine prinzipiell aktionsbereite Bürgergesellschaft ermutigen sollte, statt sie mit einem traditionellen Typus von sozialpolitischen Leistungen zu reglementieren oder gar zu unterfordern.

Für die anderen ist mit dem Begriff eher das Fördern und Fordern bei der Arbeitsmarktpolitik gemeint, also eine Praxis der Aktivierung, die Hilfen mit mehr staatlichen Vorschriften und Verhaltenszumutungen verknüpft. Die Frage nach gutem Regieren (Evers 2006), Good Governance, stellt sich mit aktivierenden Politiken des Sozialstaats neu. Mit beiden gerade skizzierten Entwicklungen verbinden sich Herausforderungen für wissenschaftliche Analyse und politisches Handeln. Auf dem Soziologentag an der Universität Kassel waren sie im Herbst 2006 zentrales Thema der Verhandlungen der Sektion Sozialpolitik.

Die Beiträge im vorliegenden Sammelband sind – ergänzt um die Beiträge einiger zusätzlicher Gäste – überarbeitete Fassungen der damaligen Referate. Alle zusammen haben wir sie in diesem Band unter den zwei Schlagworten Ökonomisierung und Entgrenzung zusammengefasst. Ökonomisierung der Sozialpolitik wird in dem ersten der drei Abschnitte dieses Bandes mit sechs verschiedenen Beiträgen thematisiert.

Es geht um den Umstand, dass Sozialpolitik weit mehr als in früheren Jahrzehnten der Bundesrepublik (a) nicht so sehr in Hinblick auf die Effekte, die sie bei ihren unmittelbaren Adressaten auslöst, sondern in Hinblick auf gesamtgesellschaftliche und vor allem gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge betrachtet wird, (b) Effekte für wirtschaftliches Wachstum, Demographie, Humankapitalbildung und gut funktionierende Arbeitsmärkte haben besonderes Gewicht.