Wolf - Psychothriller

von: Mo Hayder

Goldmann, 2015

ISBN: 9783641140212 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Wolf - Psychothriller


 

Der Walking Man

Der Mond steigt am Himmel herauf, eine klare, unveränderliche Scheibe, ein Loch im Himmel. Im Chew Valley, am Fuße der Mendips, schläft Amy und träumt von dem kleinen Hund namens Bear, der eine wehe Pfote hatte. Sie träumt von dem Mann mit dem rußschwarzen Bart, der den Hund in ein hübsches, sicheres Haus mit einem tosenden Feuer bringt. Der Mann setzt das Hündchen neben das Feuer und streichelt es, und dann wendet er sich ab und geht hinaus in den Wald.

Zur gleichen Zeit, sechs Meilen weiter, oberhalb der Stauseen und Wälder der Mendips, fährt Detective Inspector Jack Caffery mit einem Ruck aus dem Schlaf hoch.

Blinzelnd schaut er auf die Uhr. Zehn Uhr dreißig. Der Alkohol hat sich durch ihn hindurchgebrannt und nur einen leichten Nelkengeschmack in seinem Mund hinterlassen. Draußen regnet es nicht mehr. Er sitzt eine Weile da, starrt an die Decke und versucht herauszufinden, was ihn geweckt hat. Seine Kopfhaut ist straff, und sein Gehirn fühlt sich an, als klebe es innen an seinem Schädel. Aber die Kopfschmerzen sind nicht zurückgekommen.

Er nimmt sein Telefon vom Nachttisch. Da ist eine SMS vom Superintendent: Rufen Sie mich so schnell wie möglich an. Er löscht sie, ruft den Browser auf und sieht sich das Interview mit Derek Yates noch einmal an. Yates hat etwas Merkwürdiges über seinen einzigen Besucher gesagt …

Während er drin war, haben sie ihn nicht in meine Nähe gelassen, weil ich war, was ich war, und er war, was er war …

Hastig tastet Caffery nach dem Notizblock, auf dem er alle Straftaten notiert hat, die Yates begangen hat. Er starrt die Daten an und dann wieder das Telefon. Er begreift nicht, warum er diesen Zusammenhang nicht schon früher gesehen hat.

Weil er war, was er war …

Caffery weiß genau, wer dieser Ex-Häftling ist. Ganz genau.

Schnell zieht er sich an, und aus den Tiefen eines Schrankes wühlt er eine Fleece-Weste und ein Paar Thinsulate-Handschuhe hervor. Er hat zu viel getrunken. Wenn er angehalten wird und einen Alkoholtest machen muss, bedeutet das seine automatische Entlassung. Aber im Ernst, interessiert ihn das noch? Interessiert es ihn wirklich? Er rafft den Autoschlüssel an sich.

In seinem Wagen riecht es vertraut. Da ist sogar ein Rest Tabakduft aus der Zeit, als er noch Selbstgedrehte geraucht hat, nicht diese Designerdinger aus Stahl, die er jetzt benutzt. Der Regen hat aufgehört, aber im Westen hängen stumm die Wolken, mit schwarzen Adern durchschossen, fast als ob sie lebten und bluteten. Er lässt das Haus hinter sich und fährt in nordöstlicher Richtung bis zu dem Netz der kleinen Landstraßen, die sich kreuz und quer durch das Chew Valley ziehen. Die Sterne kommen hervor, und er fährt langsamer, fährt im Schritttempo über die Landstraße und lässt den Blick über die Felder zu beiden Seiten wandern. Er sucht ein Feuer – die ersten Flammen, die dazu dienen sollen, dem Mann, den er sucht, sein Abendessen zuzubereiten.

Der Walking Man ist ein Nomade. Der »gehende Mann« – wie sein Name schon andeutet, ist Gehen seine einzige Aktivität. Tagsüber geht er unaufhörlich. In der Abenddämmerung hört er damit auf und schlägt sein Lager auf, wo er gerade steht. Im Morgengrauen wacht er auf, zündet ein Feuer an und macht sich ein Frühstück, das ihm die Energie gibt, wieder einen Tag zu gehen. Er bewegt sich Tag für Tag in einem festgelegten Muster. Über Monate hinweg hat Caffery dieses Muster aufgezeichnet, und er ist ziemlich sicher, dass der Landstreicher einem riesigen Kreis folgt, dessen Fläche größtenteils in Somerset liegt, der aber auch die Grenzen nach South Gloucestershire und Wiltshire überquert. Zwanghaft wie ein Lemming: Er bewegt sich vom Mittelpunkt zum Außenrand des Kreises, um ein Viertelgrad auf dem Kreisumfang entlang und wieder zurück zum Mittelpunkt. Caffery weiß nicht, wie der Walking Man die Größe des Kreises bestimmt hat, aber er weiß, dass er den Umfang des Kreises mit einer Reihe Krokusse markiert, die er an einigen seiner Rastplätze pflanzt. Der Mittelpunkt des Kreises ist Shepton Mallet, wo die achtjährige Tochter des Walking Man vor Jahrzehnten entführt wurde.

Das verbindet die beiden Männer. Der Walking Man hat jemanden an einen Pädophilen verloren, genau wie Jack Caffery. Auch er hat keinen Leichnam, den er begraben könnte. Gleich und Gleich gesellt sich gern. Jacqui Kitson glaubt, sie habe so viel Schmerz durchlitten, wie es einem Menschen möglich ist. Aber das hat sie nicht.

Die Suche nach dem Leichnam seiner Tochter ist es, was den Walking Man dazu treibt, Tag für Tag das Land zu durchkämmen. Wenn er auf ein unbewegliches Objekt stößt – eine Straße, ein Haus, eine Stadt –, beurteilt er es. Wenn es da war, bevor seine Tochter verschwunden ist, umgeht er es. Wenn es danach entstanden ist, tut er, was er kann, um es abzureißen und nachzusehen, ob es nicht auf einem Grab erbaut wurde. Es interessiert ihn nicht, wie oft er dabei gegen Gesetze verstoßen muss. Er hat lange genug gesessen, um sich deshalb nicht mehr den Kopf zu zerbrechen.

Eine andere Eigenschaft des Walking Man besteht darin, dass es fast unmöglich ist, ihn zu finden. Anscheinend entscheidet er selbst, wann er entdeckt werden will. Caffery hat ihn schon monatelang gesucht, aber auf seine geheimnisvolle, verschlagene Art ist der Walking Man wie vom Erdboden verschwunden. Er hat sich in irgendeinem Wäldchen, einem Graben, einer Scheune niedergelassen und dafür gesorgt, dass er von der Straße aus nicht zu sehen ist. Er ist schlau. Schlauer als die Füchse, bei denen er lagert, und auf jeden Fall schlauer als jeder Polizist. Als Caffery heute Nacht nach stundenlangem Suchen um eine Kurve biegt und auf der linken Seite ein Lagerfeuer sieht, weiß er, dass nicht er den Walking Man gefunden hat. Der Walking Man hat sich von ihm finden lassen.

Anscheinend will er etwas von Caffery.

Das Amethystzimmer

Es wäre besser gewesen, denkt Oliver, die Männer hätten ihn und die Familie einfach umgebracht, als sie zur Tür hereinkamen. Dieser sich hinschleppende Ablauf ist unerträglich. Vor zehn Jahren, ja, noch vor einem Jahr hätte Oliver vielleicht etwas dagegen unternehmen können. Vielleicht hätte er mit roher Gewalt das alte Bett auseinandergebrochen, an das sie ihn gekettet haben. Er hätte vielleicht einen der Bettfüße benutzt, um das Fenster zu zerschlagen und hinauszuklettern – auf dieser Seite sind es nur zwei Stockwerke bis zum Boden, und einen solchen Sprung hätte er leicht überstanden. Aber das leise Ziehen hinter seinem Brustbein erinnert ihn an die Wahrheit: Bei einem solchen Versuch würde er sterben.

Und wenn er tot wäre – wie verzweifelt würden die beiden Männer darauf reagieren? Was würden sie mit dem Rest der Familie tun? Mit Matilda und Lucia? Er hat Geschrei und Gerangel gehört. Eine Zeit lang hat Lucia geschrien, schrill und aus voller Lunge. Er hat kein Wort verstehen können, aber die Männer sind im Laufschritt gekommen. Was dann passiert ist, weiß er nicht.

Oliver hat bereits eine langsam keimende Theorie über diese beiden Männer und was sie darstellen. Es ist eine Ansammlung von unauffälligen Kleinigkeiten: Honey und Molina spielen ihre erfundenen Dienstgrade, Inspector und Sergeant, sehr natürlich, und der eine begegnet dem andern mit instinktivem Gehorsam. Ihre Arme sind immer ein wenig abgespreizt, als verhinderten die Muskeln dort, dass sie sich vollkommen entspannten, oder als hätten sie jahrelang in dieser Haltung paradiert. Auch die Methoden, mit denen sie die Frauen nach oben befördert haben, verraten ihm etwas. Molina hat Lucias Hand zusammengequetscht und den Arm zurückgebogen, als sie sich sträubte, und sie mühelos unter Kontrolle behalten.

Die Methode heißt landläufig »Polizeigriff«, und sie gibt Oliver hundert Hinweise.

Aber er weiß nicht genau, ob das bedeutet, dass die Überlebenschancen für seine Familie größer sind. Oder kleiner.

Was immer mit ihnen geschieht, wird von den Überwachungskameras aufgezeichnet werden. Sie sind unmittelbar mit einer Festplatte verbunden, die er diskret unter der Treppe in einem der Türme installiert hat. Die ganze Anlage ist ein streng gehütetes Geheimnis, und er hat alle Spuren verwischt, indem er mehrmals die beauftragte Firma gewechselt hat. Nicht mal Matilda weiß, wo die Kameras sind. Sie hat es aufgegeben, danach zu fragen. Nur eines bereut er: dass er Lucias hartnäckiger Gegenwehr nachgegeben und hier, in ihrem Zimmer, keine Kamera installiert hat. Was Oliver passiert, wird nicht aufgezeichnet werden.

Er kommt nur selten hier herein. Seit fünfzehn Jahren hält sie das Zimmer in Schwarz oder Violett – seit Kable damals Hugo und Sophie ermordet hat. Die Vorhänge sind aus grauem Schleierstoff mit schwebenden roten Totenschädeln. Normalerweise vermeidet er lieber, sich anzusehen, womit seine Tochter ihr Zimmer dekoriert.

An der Wand hängt eine Uhr, die aussieht wie eine Elektrogitarre, und daneben ein hart konturiertes Foto einer dunkelhaarigen Frau in einem petrolfarbenen Ballkleid, die sich so zurückbeugt, dass ihre weißen Brüste fast entblößt sind. Der Mann, der stützend ihre Taille umfasst – Oliver nimmt an, dass es ein Mann ist –, trägt einen Fledermauskragen und eine Krawatte. Sein schwarzes Haar ist lang und zur Seite gekämmt, und sein Gesicht ist schneeweiß, mit Ausnahme der schwarz umrandeten Augen und des rot geschminkten Mundes. Oliver hat keine Ahnung, wer das Paar ist, aber er weiß, die beiden bedeuten seiner Tochter etwas. Ein anderes Plakat ist ihm vertrauter: Es zeigt Patty Hearst im olivgrünen Kampfanzug und...