Der Orden der Erleuchteten - Roman

von: Peter Haff

Heyne, 2008

ISBN: 9783894809720 , 224 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Der Orden der Erleuchteten - Roman


 

Kaum Falten, graues Haar und ein Vogelnestchen im Nacken. Sie ging im Winter gekrümmt, und meine Erinnerung sieht sie mit jenem scheuen, fast abwesenden Lächeln von Menschen, die sich auf dem Weg zur Auflösung befinden. Sie war fromm, und vielleicht roch sie deshalb immer ein bisschen nach Kirche; das zerlesene Büchlein 'Nachfolge Christi' gehörte zu ihr wie die dunkelblauen wollenen Strickjacken und der weiße Fransenschal aus indischer Seide.
Sie hatte ihren Mann früh verloren und war, ungewöhnlich für eine Frau der damaligen Zeit, mit ihrem kleinen Sohn oft auf Reisen. Aus diesen ruhelosen Tagen stammte die einzige Leidenschaft - 'mon petit vice', wie sie es nannte -, die ich an meiner Großmutter entdecken konnte: das Horten von wertlosen und ziemlich unnützen Dingen. Das Nützlichste war eine Sammlung von emaillierten Fingerhüten, die kurz vor Kriegsende durch eine englische Brandbombe auf ein Dutzend zurückgestutzt wurde. In dem hohen Biedermeierschrank gab es bemalte Seifenschalen, Schuhlöffel, Emaillegriffe von altmodischen Wasserspülungen, Aschenbecher, Anhänger von Zimmerschlüsseln; lauter Dinge, die Großmutter im Laufe der Jahre in den Hotels ihrer extravaganten Wahl hatte mitgehen lassen.
Meine Großmutter konnte erröten wie ein Schulmädchen, wenn man sie vor dem Schrank überraschte. Erst sehr viel später begriff ich, dass es in jeder Stadt, jedem Haus, in jedem Menschen eine Zone der Ruhe gibt, einen Schrank, ein Loch, wo die Erinnerung hinschlüpft, um Kräfte zu sammeln für die Utopien der Zukunft.
Die Gegenstände im Schrank mit ihren fremdklingenden Namen, den aufregend exotischen Figuren und Bildern versetzten mich als fünfjährigen Jungen über Manrovenwälder und Meere hinweg in die fernsten Teile dieses Planeten - weiter und ferner, als Kara Ben Nemsi oder der letzte Mohikaner es jemals vermocht hätten. Ein Schlüsselanhänger aus Bronze, es ist der des Hotels 'La Mamounia' in Marrakesch, liegt noch heute als Postbeschwerer auf meinem Tisch; er hat die Nummer 333 und die Form eines Lasten tragenden Kamels. Vielleicht ist dieses hässlichste aller Bronzetiere der Grund für meine Liebe zu Marokko, für meine Reisen in die Sand- und Steinwüsten der Erde.
Unter diesen aufregenden Dingen befand sich auch ein mit blauem Satin ausgeschlagenes Kästchen; darin lag ein leergeblasenes Ei. Es war bernsteinfarben und ziemlich groß; vielleicht war es ein Entenei. Drei Seiten zeigten verschiedene Porträts eines bärtigen Mannes: Auf einem Bild lächelte der Bärtige, auf dem anderen schaute er grimmig, ein drittes zeigte ihn mit abgenommenem Schädeldach.
Man konnte die Gehirnwindungen erkennen; sie hatten die Form eines Kreuzes mit einem Kreis am oberen Ende. Daneben waren fremdartige Zeichen gemalt, von denen Großmutter sagte, das seien griechische Buchstaben und die würden bedeuten, dass 'die Zeit geht, indem sie zurückkommt'.

1945 atmeten die Eltern auf, weil keine Bomben mehr fielen; mich fing eine Zahnspange an zu bedrücken. Ich hasste das klebrige Ding und warf es ein paarmal ins Rhododendrongebüsch vor meinem Fenster; Vaters Vorstehhündin Flak brachte es immer wieder zurück. Später, wenn ich einmal groß sein würde, wollte ich mir im Gesicht Haare wachsen lassen wie der Mann auf Großmutters Ei. Dann könnten meine Zähne in die Welt ragen wie die Hauer eines Wildschweins, und keinen würde es stören. Der Bärtige wurde mein Trost.
Auf die Frage, wer dieser Mann denn eigentlich sei, wusste Großmutter keine Antwort. Ein Zauberer, sagte sie, vielleicht war er ein Zauberer. Sie hatte das Ei als junge Frau von einem Verehrer in Alexandria geschenkt bekommen; Vater sagte, es sei ein belgischer Hochstapler im Hotel 'Cecil' gewesen, der sich als Archäologe ausgab.
Großmutter starb, während ich nach einem Unfall im Krankenhaus lag. Der Schrank mitsamt der Sammlung verschwand. Als ich meine Mutter nach dem Ei fragte, zuckte sie die Achseln. Du meine Güte, sagte sie, es war ja so viel Kram in dem Kasten, wir haben drei Körbe voll verschenkt. Hier ist noch ein Schlüsselanhänger, willst du ihn haben? Mutter gab mir das Kamel.
Die Geschichte dieses Kamels wäre Anlass genug, sich in der Weitläufigkeit der Zeit zu verlieren. Aber weil nie alles erzählt werden kann, was man erzählen möchte, weil unsere Lebenszeit wie die einer Fliege ist und ich nur die Geschichte des bärtigen Mannes auf Großmutters Ei erzählen will, beginne ich an einem warmen sonnigen Herbsttag und sage: Im September des Jahres 1972 lernte ich im Haus der Kunsthistorikerin Professor Kynast einen Mann kennen, den die Gastgeberin bereits in der Garderobe flüsternd ankündigte: 'Sie haben Glück, ER ist hier.'
ER war ein kleiner älterer Herr, der mit unverkennbar bayrischem Akzent sprach, herzhaft lachen konnte und dem der Ruf vorausging, ein bedeutender Gelehrter zu sein; Kunstsammler, Besitzer einer wertvollen Bibliothek von mehr als zwanzigtausend Bänden und Handschriften. Schwerpunkte seien Philosophie, Weltreligionen und die Esoterik des Abendlandes. ER hieß Oskar R. Schlag und galt einem kleinen Kreis der Zürcher Gesellschaft als einer der 'Eingeweihten, Wissenden und/oder Verschwiegenen' - Begriffe, deren Bedeutung mir, dessen Seele kein guter Boden ist für den Samen des Numinosen, spanische Dörfer waren (und, fürchte ich, immer noch sind).
Dennoch wuchs aus dieser Begegnung eine Freundschaft, die bis zu Schlags Tod im November 1989 dauerte und der ich, neben viel Wertvollem, auch dieses Buch verdanke. Ich hatte mich seit 1986 mit dem Versuch abgeplagt, über den Renaissance-Gelehrten John Dee Material zusammenzutragen. Das Thema war faszinierend genug: ein Mathematiker, Astronom, Magier, Erfinder, Teufelsündler, einer, der mit Engeln verkehrt und, das schien mir das Faszinierendste von allem zu sein, einer, der dreißig Jahre lang aus den Kulissen der Macht heraus eine Mächtige wie Königin Elisabeth von England mit Nachrichten aus der Zukunft versorgt.
Aber ich kam mit der Arbeit schlecht voran. Das Thema war zu fremd, zu phantastisch; vielleicht war es auch zu verwischt von den Distanzen der Zeit. Dem mir zugänglichen Material war mit den Maßstäben von Ratio und Wissen nicht beizukommen. Ich empfand eine komische Traurigkeit über meinen mangelnden Sinn für die Atmosphäre des Wunderbaren, meine Unfähigkeit, mich von geheimnisvollen Botschaften auf vergilbten Pergamentrollen mitreißen zu lassen; zu wissen, dass es eine andere Form von Begeisterung gab, es nur zu wissen, nicht mehr.