In den Fängen der Macht - Historischer Kriminalroman

von: Anne Perry

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641127329

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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In den Fängen der Macht - Historischer Kriminalroman


 

1


»Wir sind bei Mr. und Mrs. Alberton zum Dinner eingeladen«, sagte Hester als Antwort auf Monks fragenden Blick über den Frühstückstisch hinweg. »Sie sind Freunde von Callandra. Eigentlich war sie ebenfalls eingeladen, aber sie wurde überraschend nach Schottland gerufen.«

»Ich nehme an, du möchtest die Einladung trotzdem annehmen«, folgerte Monk, wobei er ihr Gesicht beobachtete.

Für gewöhnlich erfasste er ihre Gefühle rasch, manches Mal mit erschreckender Akkuratesse, wohingegen er andere gründlich missverstand. Bei dieser Gelegenheit lag er jedoch richtig.

»Ja, das möchte ich. Callandra sagte, sie seien bezaubernde und interessante Menschen und hätten ein wunderschönes Haus. Mrs. Alberton ist Halbitalienerin, und offenbar sah auch Mr. Alberton viel von der Welt.«

»Nun, ich nehme an, dann sollten wir die Einladung annehmen. Obwohl sie sehr kurzfristig ausgesprochen wurde, nicht wahr?«, sagte er ungnädig.

Es war tatsächlich eine kurzfristige Einladung, Hester wollte jedoch nicht an etwas herumnörgeln, was interessant zu werden versprach und möglicherweise sogar den Beginn einer neuen Freundschaft bedeutete. Sie hatte nicht viele Freunde. Es lag in der Natur ihrer Arbeit als Krankenschwester, dass ihre Freundschaften oft von flüchtigem Charakter waren. Sie war seit geraumer Weile an keinem fesselnden Diskurs mehr beteiligt gewesen. Sogar Monks Fälle, finanziell zwar lukrativ, waren während der letzten vier Frühlings- und Frühsommermonate höchst uninteressant gewesen, und er hatte nur selten ihren Ratschlag erbeten. Dies machte ihr nichts aus. Diebstahl war langweilig und meist durch Gier motiviert, und sie kannte die Betroffenen nicht.

»Gut«, sagte sie lächelnd und faltete den Brief. »Ich werde augenblicklich antworten und sagen, dass wir entzückt sind.«

Seine Antwort war ein schiefer, nur leicht sarkastischer Blick.

 

Kurz vor halb sieben erreichten sie das Haus der Albertons am Tavistock Square. Wie Callandra es beschrieben hatte, war es ein stattliches Haus, obwohl Hester es einer Bemerkung nicht für wert gehalten hätte. Doch sie änderte ihre Meinung, sobald sie in der Eingangshalle standen, die von einer geschwungenen Treppe dominiert wurde, hinter deren halber Höhe sich ein mächtiges bleiverglastes Fenster befand, durch das die Abendsonne schien. Es war wahrhaft wunderschön, und Hester ertappte sich dabei, es anzustarren, während sie doch eigentlich ihre Aufmerksamkeit dem Butler hätte zuwenden müssen, der sie eingelassen hatte.

Auch der Salon war ungewöhnlich. Mit weniger Mobiliar ausgestattet, als es üblich war, und in blasseren und wärmeren Farben gehalten, erzeugte er eine Illusion von Licht, obwohl die hohen Fenster, die auf den Garten hinausgingen, den Blick auf den östlichen Himmel freigaben. Die Schatten wurden bereits länger, obgleich es zu dieser Zeit, so kurz nach der Sommersonnenwende, erst nach zehn Uhr dunkel werden würde.

Hesters erster Eindruck von Judith Alberton war, dass sie eine außergewöhnlich schöne Frau war. Sie war überdurchschnittlich groß, hatte einen schlanken Hals und Schultern, die die üppigen Rundungen ihrer Figur betonten und dieser eine Zierlichkeit verliehen, die sie ansonsten nicht besessen hätte. Betrachtete man ihr Gesicht näher, so entsprach es keineswegs der konventionellen Auffassung von Schönheit. Ihre Nase war kerzengerade, aber ziemlich markant, ihre Wangenknochen hoch, ihr Mund zu groß und ihr Kinn definitiv zu kurz. Ihre schräg stehenden Augen hatten einen goldenen herbstlichen Ton. Die ganze Erscheinung war edel und verriet die der Frau innewohnende Leidenschaft. Je länger man sie betrachtete, desto bezaubernder wirkte sie. Hester mochte sie vom ersten Augenblick an.

»Guten Abend«, sagte Judith herzlich. »Ich freue mich ja so, dass Sie gekommen sind. Es ist sehr liebenswürdig von Ihnen, nachdem die Einladung doch sehr kurzfristig war. Aber Lady Callandra sprach mit solcher Zuneigung von Ihnen, dass ich nicht länger warten wollte.« Sie lächelte Monk an. In ihren Augen funkelte aufflammendes Interesse, als sie sein dunkles Gesicht mit den prägnanten Wangenknochen und der kräftigen Nase betrachtete, dennoch war es Hester, der sie ihre Aufmerksamkeit widmete. »Darf ich Ihnen meinen Gatten vorstellen?«

Der Mann, der auf sie zutrat, war eher als kultiviert denn als gut aussehend zu bezeichnen. Er wirkte weit gewöhnlicher als seine Gattin, doch seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und drückten sowohl Stärke als auch Charme aus.

»Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Mrs. Monk«, sagte er lächelnd, aber als der Höflichkeit Genüge getan war, wandte er sich augenblicklich an Monk, der hinter ihr stand. Gelassen betrachtete er einen Moment lang dessen Gesichtsausdruck, bevor er seine Hand zum Willkommensgruß ausstreckte und dann einen Schritt zur Seite trat, um den Rest der Gesellschaft vorzustellen.

Es waren noch drei weitere Gäste anwesend. Der eine war ein Mann Mitte vierzig, dessen dunkles Haar sich bereits ein wenig lichtete. Als Erstes fiel Hester sein offenes Lächeln und der spontane Händedruck auf. Er strahlte ein natürliches Selbstvertrauen aus, als ob er seiner selbst und seiner Anschauungen so sicher wäre, dass er kein Bedürfnis verspürte, sie jedermann aufzudrängen. Er begnügte sich damit, anderen zuzuhören. Dies war eine Eigenschaft, die sie sogleich schätzte. Sein Name war Robert Casbolt, und er wurde nicht nur als Albertons Geschäftspartner und Jugendfreund, sondern zudem als Judiths Cousin vorgestellt.

Der andere anwesende Herr war Amerikaner. Es war kaum zu vermeiden, zur Kenntnis zu nehmen, dass sein Land in den letzten Monaten tragischerweise an den Rand eines Bürgerkriegs geschlittert war. Bis jetzt war es zwar zu nichts Ernsterem als ein paar hässlichen Scharmützeln gekommen, aber mit jedem aktuellen Bulletin, das über den Atlantik kam, schien offene Gewalt und Krieg immer wahrscheinlicher zu werden.

»Mr. Breeland kommt aus den Unionsstaaten«, sagte Alberton höflich, doch in seiner Stimme klang keine Herzlichkeit.

Hester sah Breeland an, der die Vorstellung mit einem Nicken quittierte. Er schien Anfang dreißig zu sein, war groß und hielt sich sehr kerzengerade, er hatte breite Schultern und die stramme Haltung eines Soldaten. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig, sein Ausdruck höflich, aber streng kontrolliert, als ob er ständig vor einem Missgeschick oder dem Nachlassen seiner Aufmerksamkeit auf der Hut wäre.

Die letzte anwesende Person war die Tochter der Albertons, Merrit. Sie war ungefähr sechzehn Jahre alt und verfügte über all den Charme, die Leidenschaft und die Verletzlichkeit ihrer Jahre. Sie war hellhäutiger als ihre Mutter und besaß nicht deren Schönheit, aber in ihrem Gesicht stand eine ähnliche Willensstärke und ein geringeres Vermögen, ihre Emotionen zu verbergen. Die Vorstellung ließ sie durchaus artig über sich ergehen, aber sie machte keinerlei Versuch, mehr als höflich zu sein.

Die einleitende Unterhaltung handelte von so simplen Themen wie dem Wetter, dem zunehmenden Verkehr auf Londons Straßen und den zahlreichen Menschen, die eine Ausstellung in der Nähe besuchten.

Hester fragte sich, warum Callandra angenommen hatte, sie und Monk würden diese Menschen sympathisch finden, aber vielleicht hatte sie sie einfach nur ins Herz geschlossen und war der Meinung, auch Hester und Monk würden ihre Liebenswürdigkeit schätzen.

Breeland und Merrit traten ein wenig zur Seite und führten eine ernste Unterhaltung. Monk, Casbolt und Judith Alberton diskutierten über das neueste Theaterstück, und Hester begann eine Unterhaltung mit Daniel Alberton.

»Lady Callandra erzählte mir, Sie hätten nahezu zwei Jahre auf der Krim verbracht«, sagte er interessiert. Dabei lächelte er entschuldigend. »Ich werde Ihnen nicht die üblichen Fragen über Florence Nightingale stellen. Mittlerweile müssen Sie dies gewiss als ermüdend betrachten.«

»Sie war eine äußerst bemerkenswerte Person«, erwiderte Hester. »Ich würde niemanden kritisieren, der mehr über sie erfahren möchte.«

Sein Lächeln wurde breiter. »Das müssen Sie schon sehr oft gesagt haben. Sie waren darauf vorbereitet!«

Sie spürte, wie sie sich entspannte. Es war überraschend angenehm, mit ihm zu plaudern. Offenheit war stets so viel einfacher als fortgesetzte Höflichkeiten. »Ja, ich gebe es zu, ich war vorbereitet. Es ist …«

»Wenig originell«, vollendete er ihren Satz.

»Ja.«

»Vielleicht war das, was ich sagen wollte, auch wenig originell, aber ich werde es dennoch sagen, weil ich es tatsächlich wissen möchte.« Er runzelte leicht seine Stirn und zog die Brauen zusammen. Seine Augen waren von einem klarem Blau. »Sie müssen dort draußen eine beträchtliche Beherztheit aufgebracht haben, sowohl physisch als auch moralisch, vor allem, wenn Sie sich tatsächlich nahe dem Schlachtfeld befunden haben. Sie müssen Entscheidungen getroffen haben, die anderer Leute Leben beeinflussten, sie möglicherweise retteten oder verloren gaben.«

Das war nur zu wahr. Erschüttert erinnerte sie sich, wie hoffnungslos es gewesen war, wie weit entfernt von diesem ruhigen Sommerabend in einem eleganten Londoner Salon, in dem der Farbton einer Abendrobe, der Schnitt eines Ärmels von Bedeutung war. Krieg, Krankheit, zerfetzte Körper, die Hitze, die Fliegen oder die schreckliche Kälte, das alles hätte ebenso gut auf einem anderen Planeten gewesen sein können, ohne jegliche Verbindung zu dieser Welt, abgesehen von einer gemeinsamen Sprache; und doch, Worte allein hätten niemals die eine Welt des anderen erklären können.

Sie nickte.

»Finden Sie es nicht außerordentlich schwierig, sich...