In feinen Kreisen - Historischer Kriminalroman

von: Anne Perry

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641127381

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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In feinen Kreisen - Historischer Kriminalroman


 

1


Der junge Mann stand blass und nervös an der Tür und drehte seinen Hut in den Händen.

»Mr. William Monk, Privatermittler?«, fragte er.

»Ja«, antwortete Monk und erhob sich. »Treten Sie doch bitte näher, Sir.«

»Lucius Stourbridge«, stellte der Besucher sich vor, während er ins Zimmer trat. Er hatte weder einen Blick für die beiden bequemen Armsessel noch für die Schale mit Blumen, die einen angenehmen Duft im Raum verbreiteten. Diese Dinge waren Hesters Idee gewesen. Monk hatte an der kargen und rein zweckdienlichen früheren Einrichtung des Raums nichts auszusetzen gehabt.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Stourbridge?«, fragte Monk und zeigte auf einen der beiden Sessel.

Lucius Stourbridge nahm auf der Kante Platz. Er wirkte angespannt. Er musterte Monk besorgt.

»Ich bin verlobt, Mr. Monk«, sagte er. »Meine zukünftige Frau ist der charmanteste, großzügigste und edelmütigste Mensch, den Sie sich nur vorstellen können.« Er senkte den Blick, dann sah er hastig wieder zu Monk auf. Der Anflug eines Lächelns huschte über seine Züge. »Mir ist natürlich klar, dass ich in diesem Punkt voreingenommen bin, und es muss in Ihren Ohren sehr naiv klingen, aber Sie werden feststellen, dass andere Menschen sie beinahe ebenso hoch schätzen wie ich, und auch meine Eltern haben eine ehrliche Zuneigung zu ihr gefasst.«

»Daran zweifle ich nicht, Mr. Stourbridge«, versicherte Monk ihm, aber da er ahnte, was dieser junge Mann von ihm verlangen würde, fühlte er sich äußerst unwohl. Selbst wenn er dringend einen Auftrag brauchte, übernahm er nur sehr widerstrebend Fälle, die mit Eheproblemen zu tun hatten. Aber nachdem er gerade eine ausgesprochen kostspielige, dreiwöchige Hochzeitsreise in die Highlands von Schottland hinter sich hatte, näherte er sich unaufhaltsam dem Punkt, da tatsächlich Dringlichkeit geboten war. Er hatte ein Abkommen mit seiner Freundin und Gönnerin, Lady Callandra Daviot, demzufolge sie seine Börse zumindest so weit füllte, dass es zum Überleben reichte. Als Gegenleistung dafür hielt er sie über seine interessantesten Fälle auf dem Laufenden und schloss sie – so weit sie das wünschte – in die Ermittlungsarbeiten ein. Aber er hatte weder den Wunsch noch die Absicht, von dieser Übereinkunft weiterhin Gebrauch zu machen.

»Welches Problem führt Sie zu mir, Mr. Stourbridge?«, fragte er.

Lucius sah ihn todunglücklich an. »Miriam – Mrs. Gardiner  – ist verschwunden.«

Diese Eröffnung verwirrte Monk. »Mrs. Gardiner?«

Lucius schüttelte ungeduldig den Kopf. »Mrs. Gardiner ist Witwe. Sie ist …« Er zögerte und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Verärgerung und Verlegenheit. »Sie ist einige Jahre älter als ich. Aber das ist unerheblich.«

Wenn eine junge Frau ihrem Verlobten davonlief, war das eine rein private Angelegenheit. Solange kein Verbrechen im Spiel war und kein Grund bestand, eine Krankheit anzunehmen, dann war es ihre eigene Entscheidung, ob sie zurückkehrte oder nicht. Normalerweise hätte Monk sich nicht um die Angelegenheit gekümmert. Allerdings war er sich im Augenblick seines eigenen Glücks so deutlich bewusst, dass er ein für ihn ganz untypisches Mitleid für diesen jungen Mann empfand, der so offensichtlich mit seiner Weisheit am Ende war.

Er konnte sich nicht daran erinnern, je zuvor mit der Welt und dem Leben so zufrieden gewesen zu sein. Gut – es war Sommer 1860, und er wusste bis auf wenige Einzelheiten nichts mehr von seinem Leben vor seinem Kutschunfall im Jahr 1856, nach dem er ohne jede Erinnerung im Krankenhaus erwacht war. Trotzdem vermochte er sich nicht vorzustellen, dass es etwas so Wunderbares geben konnte wie das Glück, das ihn im Augenblick so vollkommen erfüllte.

Nachdem Hester seinen Heiratsantrag angenommen hatte, war er abwechselnd in Jubelstimmung geraten und dann wieder von bösen Ahnungen heimgesucht worden, dass ein solcher Schritt das einzigartige Vertrauensverhältnis, das sie verband, für alle Zeit zerstören würde. Vielleicht konnte es keine andere Beziehung zwischen ihnen geben, die so befriedigend war wie ihre Freundschaft, Seite an Seite in leidenschaftlichem Kampf für die Gerechtigkeit. Er hatte viele trostlose Nächte wach gelegen, von der Angst gequält, etwas zu verlieren, das ihm immer kostbarer schien, je länger er über die Möglichkeit nachdachte, es eines Tages vielleicht nicht mehr zu besitzen.

Aber am Ende hatten sich dann doch alle Ängste zerstreut. Obwohl er in ihr all die Wärme und Leidenschaft gefunden hatte, die er sich nur wünschen konnte, hatte sie ihre Streitlust nicht verloren, vertrat nach wie vor eigensinnig ihre Ansichten, lachte ihn aus und machte dumme Fehler. Es hatte sich im Grunde gar nicht viel verändert, nur dass jetzt eine körperliche Intimität zwischen ihnen herrschte, die er sich nicht im Traum hätte vorstellen können.

Also schickte er Lucius Stourbridge nicht seiner Wege, wie sein Instinkt es ihm vielleicht geraten hätte.

»Vielleicht erzählen Sie mir besser genau, was geschehen ist«, sagte Monk freundlich.

Lucius holte tief Luft. »Ja.« Es kostete ihn einige Mühe, die Fassung wieder zu erlangen. »Ja, natürlich. Gewiss. Es tut mir Leid, ich scheine ein wenig wirr zu reden. Das alles hat mich … sehr hart getroffen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«

Letzteres war ziemlich offensichtlich und Monk musste sich bezähmen, diesen Gedanken nicht auszusprechen. Er war von Natur aus nicht besonders geduldig. »Wenn Sie vielleicht damit anfangen könnten, mir mitzuteilen, wann Sie Miss – Mrs. – Gardiner das letzte Mal gesehen haben, dann könnten wir von diesem Punkt aus fortfahren«, schlug er vor.

»Natürlich«, stimmte Lucius zu. »Wir wohnen am Cleveland Square in Bayswater, nicht weit entfernt von Kensington Gardens. Wir hatten zur Feier unserer bevorstehenden Hochzeit eine kleine Gesellschaft gegeben. Es war ein wunderschöner Tag und wir spielten Krocket, als Miriam – Mrs. Gardiner – ohne offenkundigen Grund plötzlich äußerst verstört war und aus dem Garten lief. Ich habe sie nicht gehen sehen, sonst wäre ich ihr gefolgt – um herauszufinden, ob sie vielleicht krank war, ob ich ihr irgendwie helfen konnte …«

»Ist sie denn häufiger krank?«, fragte Monk neugierig. Echte Kranke waren eine Sache, aber Frauen, die zu Ohnmachtsanfällen neigten, waren Geschöpfe, für die er nicht viel übrig hatte. Und wenn er diesem unglücklichen jungen Mann helfen sollte, musste er so viel von der Wahrheit wissen wie nur möglich.

»Nein«, entgegnete Lucius scharf. »Sie erfreut sich bester Gesundheit und ist von sehr ausgeglichenem Temperament.«

Monk ertappte sich dabei, dass er ganz leicht errötete. Wenn jemand ihm gegenüber angedeutet hätte, Hester habe möglicherweise eine Neigung zu Ohnmachten, so hätte er mit einiger Schroffheit darauf hingewiesen, dass sie sich in einer Krisensituation zweifellos besser bewährte als die meisten anderen Menschen. Als Krankenschwester auf den Schlachtfeldern der Krim hatte sie das mehr als einmal unter Beweis gestellt. Aber er brauchte sich bei Lucius Stourbridge nicht zu entschuldigen. Das war eine notwendige Frage gewesen.

»Wer hat sie weggehen sehen?«, forschte er weiter.

»Mein Onkel, Aiden Campbell, der die meiste Zeit und auch im Augenblick bei uns lebt. Und ich glaube, meine Mutter hat sie ebenfalls weggehen sehen und auch ein oder zwei der Diener und andere Gäste.«

»Und war sie krank?«

»Ich weiß es nicht! Darum geht es doch gerade, Mr. Monk! Niemand hat sie seither wieder gesehen. Und es sind jetzt drei Tage vergangen!«

»Und was haben diejenigen, die sie gesehen haben«, hakte Monk geduldig nach, »Ihnen erzählt? Sie kann doch nicht einfach allein aus dem Garten spaziert sein, ohne Geld oder Gepäck, um spurlos zu verschwinden?«

»Oh … nein«, korrigierte Lucius sich, »der Kutscher, James Treadwell, ist ebenfalls verschwunden und mit ihm natürlich eine der Kutschen.«

»Dann sieht es also so aus, als hätte Treadwell sie irgendwohin gefahren«, schlussfolgerte Monk. »Da sie das Krocketspiel aus freien Stücken verlassen hat, hat sie ihn wahrscheinlich darum gebeten, sie zu fahren. Was wissen Sie über Treadwell?«

Lucius zuckte mit den Schultern, schien dabei aber noch blasser zu werden. »Er arbeitet seit drei oder vier Jahren bei der Familie und ist mit der Köchin verwandt – ein Neffe oder so etwas. So weit ich weiß, ist man absolut zufrieden mit ihm. Sie glauben doch nicht, er könnte … ihr etwas angetan haben?«

Monk hatte keine Ahnung, aber es war sinnlos, dem jungen Mann weiteren Kummer zu bereiten. Er war ohnehin schon verzweifelt genug.

»Ich halte es eher für wahrscheinlicher, dass er sie lediglich dorthin gebracht hat, wo sie hin wollte«, erwiderte er, aber dann wurde ihm klar, dass seine Antwort keinen Sinn ergab. Wenn es wirklich so gewesen wäre, wäre der Kutscher binnen weniger Stunden zurückgekommen. »Aber es sieht tatsächlich so aus, als hätte er ihre Kutsche zu eigenen Zwecken benutzt.« Noch andere, weitaus düsterere Gedanken gingen ihm durch den Kopf, aber es war noch zu früh, um sie auszusprechen. Es gab viel simplere Lösungen für diese alltägliche, private Tragödie, Lösungen, die wahrscheinlicher waren. Am ehesten konnte man sich vorstellen, dass Miriam Gardiner einfach ihre Meinung geändert hatte, was die Heirat betraf, aber nicht den Mut gefunden hatte, es dem jungen Lucius Stourbridge zu sagen.

Lucius beugte sich vor. »Ich mache mir Sorgen um Miriam, Mr. Monk. Wenn es ihr gut geht, warum hat sie sich dann nicht bei mir gemeldet?« Seine Kehle war so zugeschnürt, dass die Worte halb erstickt klangen....