Himmelwärts - Roman

von: Rebecca Hohlbein

Heyne, 2010

ISBN: 9783641050122 , 624 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 15,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Himmelwärts - Roman


 

Kapitel 1

Nordöstlich der Stadt, am Fuß der Hügelkette, auf deren höchstem Punkt die windschiefen Überreste der Klimburg tapfer der Schwerkraft trotzten, zirpten Grillen in der jungen Nacht. Vielleicht besangen sie die außergewöhnliche Geschichte der kleinen Stadt schräg unter der Autobahntalbrücke Frankenwald. Vielleicht lauschten sie auch der Meinung der Sterne auf ihren spindeldürren Knien, während sie die noch immer ungeklärte Frage mit ihnen diskutierten, warum das, was zwischen der Klimburg und Burg Werthersweide lag, Oberfrankenburg hieß. Oder aber sie tauschten den neuesten Klatsch aus den einzelnen Pfarrgemeinden aus. Wahrscheinlich jedoch buhlten sie einfach um die schärfsten Weibchen, und deshalb lassen wir die Grillen an dieser Stelle einfach instinktgesteuertes Insektengetier sein und wenden uns den wirklich interessanten Dingen zu, die das schmucke Vierzigtausendseelenstädtchen in dieser Augustnacht zu bieten hatte. Denn derer gab es ausnahmsweise einmal mehr als genug.

Während sich der Fuchsbau nahe der Abfahrt Oberfrankenburg Nord dank einer gelungenen Geburtstagsfeier eines verhältnismäßig großen Ansturms erfreute, brannte das Fachwerkgemäuer der Konkurrenz Zum Wilden Bock im Süden des Zentrums bis auf die Grundmauern nieder. Ohne Eile und unbeeindruckt von den eher halbherzigen Löschversuchen der freiwilligen Feuerwehr verzehrten die Flammen die heruntergewirtschaftete Wirtschaft vor den Augen eines hervorragend versicherten Wirtschaftseigentümers. Ein Ereignis, das jedoch nur wenige Oberfrankenburger ans Fenster lockte. Wer sich doch zu der kleinen Schar Schaulustiger gesellt hatte, dem stand weniger Angst und Schrecken ins Gesicht geschrieben als die bloße Erleichterung darüber, dass sich der Gastwirt nicht für eine laute und unberechenbare Gasexplosion entschieden hatte - es sei denn, entsprechender Zuschauer lebte noch nicht besonders lange hier und kannte den Eigentümer und die besonderen Sitten und Gebräuche Oberfrankenburgs nicht. Etwa, weil er ein Tourist war.

Und Touristen befanden sich in dieser lauen Sommernacht erstaunlich viele in dem Städtchen im Frankenwaldtal.

Aber nicht ein Einziger von ihnen hatte in eine der beiden bescheidenen Pensionen eingecheckt, über die die Stadt verfügte, und keiner der Fremden hatte seinen fünfunddreißigsten Geburtstag schon hinter sich; die meisten waren deutlich jünger, einige noch nicht einmal volljährig. Aus den auch zu später Stunde noch eintrudelnden Reisebussen privater Unternehmen oder aus den letzten Regionalzügen stiegen sie aus, oder parkten alte Bullis, rostige Vespas und Volkswagen auf dem noch warmen Kopfsteinpflaster der Straßen und Gassen, schulterten Schlafsäcke und Gepäck und legten die restliche Strecke zu ihrem eigentlichen Ziel, dem Trapperseestadion am westlichen Stadtrand, auf Schusters Rappen zurück. Lateinamerikanische Rhythmen schwappten dort wie akustischer Rum über die Mauern, die eigentlich nur bessere Zäune waren, und vermengten sich mit dem Rauch von Lagerfeuern, Zigaretten und diversen anderen Dämpfen und Dünsten, die aus der jüngst auf dem freien Feld zwischen Stadion, See und Schulzentrum errichteten Zeltstadt aufstiegen. Daraus wurde eine berauschende Brause, der zu widerstehen keiner dieser jungen Menschen in der Lage, geschweige denn willens war.

Auch nicht Lukas, der eigentlich Klaus hieß. Und auch nicht das Mädchen in seinem Arm.
Aber anders als die meisten Festivalgäste war Lukas, der Klaus hieß, ein waschechter Oberfrankenburger. Er hatte kein Zelt, sondern eine eigene Wohnung, was ihn in den großen blauen Augen des Mädchens trotz seiner fettigen Haare ungleich charismatischer erscheinen ließ. Kurz vor Mitternacht hatten sie die Zeltstadt verlassen, aber als sie nun sein Apartment in einem Vorort der Stadt erreichten, mogelte sich ein Hauch von Skepsis in ihre Stimme. »Klaus König?«, erkundigte sie sich mit Blick auf das vergilbte, in sprödes Plastik eingefasste Schildchen rechts der Klingel. »Ich dachte, du wohnst allein, Lukas.«
Lukas, der Klaus hieß, zuckte die Schultern und bemühte sich, den Haustürschlüssel in das Schloss zu schieben; eine Herausforderung angesichts seines aktuellen Blutalkoholwerts.
»Tu ich doch«, nuschelte er. Ach, zur Hölle - ihr Dekolleté machte alles noch viel komplizierter. Außerdem ging sie bauchfrei; und dann dieses Röckchen! Pink, Lackleder. Zu mir oder zu dir, du Sau … Zu mir. Geht schneller. »Aber du hast doch gesagt, du heißt Lukas!«, begehrte das Mädchen auf. Es klang ein bisschen beleidigt.
Klaus, der nicht Lukas hieß, verfehlte das Schlüsselloch ein weiteres Mal und fluchte leise. Schöne, volle Lippen, ein perfekter Kussmund … Wären nicht unablässig Geräusche aus Letzterem gekommen, hätte sie fast schon Helga sein können. Aber man konnte schließlich nicht alles haben.
»Scheiß drauf. Sind doch die gleichen Buchstaben drin«, erklärte er gleichgültig, während er den dritten Versuch einleitete.

Für einen Moment schien es, als wollte das Mädchen protestieren. Aber dann beließ sie es bei einem dümmlichen Grinsen, nahm ihm den Schlüssel aus der Hand, schob ihn zielsicher ins Schloss und drehte ihn. Sie war so was von nüchtern, registrierte Lukas, der Klaus hieß, beinahe staunend. Und das nach zwei Stunden Trapstock bei noch immer schweißtreibenden Temperaturen! Bier ein Euro, Eintritt frei. War sie dumm oder der Sonne zu lange ausgeliefert gewesen? Oder nur genauso geil wie er?