Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell

von: George R.R. Martin

Blanvalet, 2010

ISBN: 9783641047153 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 12,99 EUR

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Das Lied von Eis und Feuer 02 - Das Erbe von Winterfell


 

Der Himmel im Osten schimmerte rosig und golden, als die Sonne über dem Grünen Tal von Arryn aufging. Catelyn Stark beobachtete, wie sich das Licht ausbreitete, während ihre Hände auf dem glatt gemeißelten Stein der Balustrade vor ihrem Fenster ruhten. Unter ihr war die Welt schwarz, wurde dunkelblau, dann grün, während der Morgen über Felder und Wälder kroch. Fahle, weiße Nebel stiegen von Alyssa's Tears auf, wo gespenstische Fluten über die Schulter des Berges drängten und ihren langen Sturz die Wand des Giant's Lance hinab begannen. Catelyn spürte den leichten Sprühregen auf ihrem Gesicht.
Alyssa Arryn hatte erlebt, wie ihr Mann, ihre Brüder und ihre Kinder erschlagen wurden, und doch hatte sie nie eine Träne darüber vergossen. So hatten die Götter beschlossen, daß sie keine Ruhe finden sollte, bis ihr Weinen die schwarze Erde des Grünen Tales bewässerte, wo die Menschen, die sie geliebt hatte, begraben lagen. Mittlerweile war Alyssa sechstausend Jahre tot, und dennoch fand kein Tropfen des Wasserfalls je den Weg ins Tal. Catelyn fragte sich, wie groß der Sturzbach ihrer Tränen wäre, wenn sie starb. »Erzählt mir auch den Rest«, sagte sie.
»Der Königsmörder stellt in Casterly Rock ein Heer zusammen«, antwortete Ser Rodrik Cassel aus dem Zimmer hinter ihr. »Euer Bruder schreibt, er habe Reiter zum Rock entsandt und zu wissen verlangt, was Lord Tywin zu tun gedenke, aber er hat keine Antwort erhalten. Edmure hat Lord Vance und Lord Piper angewiesen, den Paß unterhalb vom Golden Tooth zu bewachen. Er schwört, daß er keinen Fußbreit Tullyland aufgeben wird, ohne ihn mit dem Blut der Lannisters zu tränken.«
Catelyn wandte sich vom Sonnenaufgang ab. Seine Schönheit konnte sie nur schwerlich aufmuntern. Es schien ihr grausam, daß ein Tag so schön begann und so übel zu enden versprach. »Edmure hat Reiter geschickt und Schwüre ausgesprochen«, sagte sie, »doch Edmure ist nicht der Lord von Riverrun. Was ist mit meinem Hohen Vater?«
»In dem Brief wurde Lord Hoster nicht erwähnt, Mylady.« Ser Rodrik zupfte an seinem Backenbart. Dieser war weiß wie Schnee und stachlig wie ein Dornenbusch gewachsen, während der Ritter sich von seinen Verletzungen erholt hatte. Fast sah er wieder aus, wie man ihn kannte.
»Mein Vater hätte die Verteidigung von Riverrun nicht Edmure überlassen, wäre er nicht sehr krank«, vermutete sie besorgt. »Man hätte mich gleich wecken sollen, als dieser Vogel kam.«
»Eure Schwester hielt es für besser, Euch schlafen zu lassen, wie mir Maester Colemon berichtet.«
»Man hätte mich wecken sollen«, beharrte sie.
»Der Maester teilte mir mit, Eure Schwester wolle nach dem Kampf mit Euch sprechen«, sagte Ser Rodrik.
»Dann will sie weiter diesen Mummenschanz treiben?« Catelyn verzog das Gesicht. »Der Zwerg hat mit ihr gespielt wie auf einem Dudelsack, und sie ist zu taub, die Melodie zu hören. Was heute morgen auch geschehen mag, Ser Rodrik, es ist längst an der Zeit, daß wir uns auf den Weg machen. Ich gehöre nach Winterfell zu meinen Söhnen. Wenn Ihr für die Reise bei Kräften seid, will ich Lysa um eine Eskorte bitten, die uns nach Gulltown begleitet. Von dort aus können wir ein Schiff nehmen.«
»Wieder ein Schiff?« Ser Rodrik wurde leicht grünlich im Gesicht, brachte es hingegen fertig, den Schauer auf seinem Rücken zu unterdrücken. »Wie es Euch beliebt, Mylady.«
Der alte Ritter begab sich nach draußen vor die Tür, als Catelyn die Dienerinnen hereinrief, die Lysa ihr überlassen hatte. Wenn sie noch vor dem Duell mit Lysa spräche, wäre sie vielleicht noch umzustimmen, dachte sie, während man sie anzog. Lysas Politik wandelte sich mit ihren Launen, und ihre Launen wechselten stündlich. Das scheue Mädchen, das sie einst in Riverrun gekannt hatte, war zu einer Frau herangewachsen, die abwechselnd stolz, ängstlich, grausam, verträumt, leichtsinnig, verschreckt, halsstarrig, eitel und vor allem wankelmütig war.
Als dieser abscheuliche Kerkermeister auf Knien angekrochen kam, um ihnen zu sagen, daß Tyrion Lannister gestehen wollte, hatte Catelyn Lysa bedrängt, ihnen den Zwerg in aller Stille bringen zu lassen, aber nein, ihre Schwester mußte ihn dem halben Tal vorführen. Und nun das . . .
»Lannister ist mein Gefangener«, erklärte sie Ser Rodrik, indem sie die Turmtreppe hinabstiegen und durch die kalten, weißen Hallen der Eyrie schritten. Catelyn trug schlichte graue Wolle und einen versilberten Gürtel. »Das muß meiner Schwester in Erinnerung gerufen werden.«
An den Türen zu Lysas Gemächern begegneten sie ihrem Onkel, der gerade herausstürmte. »Auf dem Weg zum Narrenfest?« schimpfte Ser Brynden. »Ich würde dir raten, deiner Schwester Vernunft einzuprügeln, wenn ich nur glaubte, daß es etwas nützt, aber du würdest dir nur die Hand verletzen.«
»Von Riverrun ist ein Vogel eingetroffen«, begann Catelyn, »ein Brief von Edmure...«
»Ich weiß, Kind.« Der schwarze Fisch, der seinen Umhang hielt, war Bryndens einziges Zugeständnis an Schmuck.
»Ich mußte es von Maester Colemon erfahren. Daraufhin habe ich deine Schwester um die Erlaubnis gebeten, tausend erfahrene Männer zu nehmen und so schnell wie möglich nach Riverrun zu reiten. Weißt du, was sie entgegnet hat? Das Grüne Tal kann weder tausend Streiter entbehren noch einen einzigen, Onkel, hat sie erwidert. Ihr seid der Ritter des Tores. Euer Platz ist hier.« Ein Schwall von kindischem Gelächter drang durch die offenen Türen hinter ihm heraus, und ihr Onkel warf einen finsteren Blick über die Schulter. »Nun, ich habe ihr gesagt, da kann sie sich ebensogut gleich einen neuen Ritter des Tores suchen. Blackfish oder nicht, noch bin ich ein Tully. Bei Einbruch der Dunkelheit breche ich nach Riverrun auf.«
Das konnte Catelyn nicht überraschen. »Allein? Ihr wißt so gut wie ich, daß Ihr auf der Bergstraße nicht überleben werdet. Ser Rodrik und ich kehren nach Winterfell zurück. Kommt mit uns, Onkel. Ich gebe Euch Eure tausend Mann. Riverrun wird nicht allein kämpfen.«
Brynden dachte einen Moment lang nach, dann nickte er barsch. »Wie du sagst. Es ist ein langer Heimweg, aber wir werden es schon schaffen. Ich warte unten auf euch.« Er schritt von dannen, und sein Umhang flatterte ihm hinterher.
Catelyn wechselte einen Blick mit Ser Rodrik. Zum Klang von hohem, angespanntem Kinderkichern traten sie durch die Tür.