Die Brücken der Freiheit - Roman

von: Ken Follett

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2010

ISBN: 9783838703398 , 543 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Brücken der Freiheit - Roman


 

ERSTER TEIL
SCHOTTLAND
KAPITEL 1


SCHNEE KRÖNTE DIE HÖHEN VON HIGH GLEN und lag in perlweißen Flecken auf den bewaldeten Hängen wie Geschmeide auf dem Mieder eines grünen Seidenkleids. Auf der Talsohle schlängelte sich ein hurtiger kleiner Fluss zwischen vereisten Felsen hindurch. Mit dem scharfen Wind, der von der Nordsee her über das Land heulte, fegten Graupel- und Hagelschauer heran.

Die Zwillinge Malachi und Esther McAsh gingen an diesem Morgen über einen Zickzackpfad, der am östlichen Abhang der Schlucht entlangführte, zur Kirche. Malachi, den alle Mack nannten, trug einen karierten Umhang und Kniehosen aus Tweed, doch unterhalb der Knie waren seine Beine bloß. Die nackten Füße in den Holzschuhen waren eiskalt, aber Mack war jung und heißblütig und störte sich daran nicht.

Der Weg, den sie eingeschlagen hatten, war nicht der kürzeste zur Kirche, doch High Glen begeisterte ihn immer wieder. Die hohen Berge, die stillen, geheimnisvollen Wälder und das fröhlich plätschernde Wasser bildeten eine Landschaft, die ihm seelenverwandt war. Hier hatte er drei Jahre lang ein Adlerpärchen bei der Aufzucht seiner Brut beobachtet. Wie die Adler hatte er die Lachse des Lairds aus dem fischreichen Wasser gestohlen, und wie die Hirsche hatte er sich still und reglos zwischen den Bäumen verborgen, wenn die Wildhüter kamen.

Der Laird von High Glen war eine Frau, Lady Hallim, eine Witwe mit einer Tochter. Das Land auf der anderen Seite des Berges gehörte Sir George Jamisson und war eine andere Welt. Dort hatten Ingenieure große Löcher in die Flanken des Berges gerissen; von Menschenhand aufgehäufte Schlackehalden entstellten das Tal. Schwere Kohlekarren durchpflügten die schlammige Straße, und der Fluss war schwarz vom allgegenwärtigen Kohlenstaub. Dort lag das Dorf namens Heugh, das aus einer langen Reihe geduckter Steinhäuschen bestand, die sich wie eine Treppe den Hügel hinaufzog, und dort lebten die Zwillinge.

Mack und Esther boten die männliche und die weibliche Version ein und desselben Bildes: Beide hatten sie blondes, vom Kohlenstaub geschwärztes Haar und auffallend blassgrüne Augen. Beide waren sie untersetzt, mit breitem Kreuz und starken, muskulösen Armen und Beinen. Beide waren sie eigensinnig und streitsüchtig.

Die Streitsucht war eine Familientradition. Der Vater der Zwillinge war ein unbeirrter Nonkonformist gewesen, stets bereit, sich mit der Regierung, der Kirche und jedweder anderen Autorität anzulegen. Die Mutter hatte vor ihrer Heirat bei Lady Hallim gearbeitet und sich, wie so viele Hausbedienstete, mit der Oberklasse identifiziert. In einem bitterkalten Winter, als die Grube in der Folge einer Explosion einen Monat lang geschlossen blieb, war Vater am schwarzen Auswurf gestorben, jenem Husten, der so viele Bergarbeiter dahinraffte. Mutter bekam eine Lungenentzündung und folgte Vater innerhalb weniger Wochen in den Tod. Doch die Streitereien gingen weiter, gewöhnlich an den Samstagabenden in Mrs. Wheighels Salon, der in dem Dörfchen Heugh einer Schenke noch am nächsten kam.

Die Gutsarbeiter und die kleinen Pächter waren der gleichen Meinung wie Mutter. Sie sagten, der König sei von Gott eingesetzt und deshalb habe ihm das Volk zu gehorchen. Die Grubenarbeiter hatten inzwischen schon neuere Ideen gehört. John Locke und andere Philosophen meinten, die Autorität einer Regierung setze die Zustimmung des Volkes voraus. Diese Theorie gefiel Mack.

Nur wenige Kumpel in Heugh konnten lesen. Macks Mutter konnte es, und ihr Sohn hatte sie so lange bearbeitet, bis sie’s ihm endlich beibrachte. Sie hatte beide Kinder Lesen und Schreiben gelehrt und die Sticheleien ihres Ehemanns, der meinte, sie habe Flausen im Kopf, die über ihrem Stand seien, geflissentlich überhört. Bei Mrs. Wheighel wurde Mack aufgefordert, aus der Times, dem Edinburgh Advertiser und politischen Journalen wie dem radikalen North Briton vorzulesen. Die Zeitungen waren immer schon mehrere Wochen, mitunter sogar Monate alt, doch die Männer und Frauen aus dem Dorf lauschten begierig den langen, im Wortlaut wiedergegebenen Redeprotokollen, satirischen Glossen und Berichten über Streiks, Proteste und Aufstände.

Nach einem Samstagabendstreit bei Mrs. Wheighel hatte Mack den Brief geschrieben.

Sie hatten lange darüber diskutiert, über jedes einzelne Wort, denn keiner der Bergarbeiter hatte je einen Brief geschrieben. Adressat war Caspar Gordonson, ein Anwalt in London, der in seinen Zeitungsartikeln über die Regierung herzog. Dann war der Brief Davey Patch, dem einäugigen Hausierer, zur Postaufgabe anvertraut worden, und Mack hatte sich gefragt, ob er seinen Bestimmungsort wohl jemals erreichen würde.

Gestern nun war die Antwort gekommen, und das war das Aufregendste, was Mack in seinem bisherigen Dasein widerfahren war. Es wird mein ganzes Leben auf den Kopf stellen, dachte er. Vielleicht macht es mich sogar frei …

So lange er zurückdenken konnte, hatte er sich nach Freiheit gesehnt. Als Kind hatte er Davey Patch beneidet, der, Messer, Bindfaden und Balladen feilbietend, von Dorf zu Dorf zog. Was dem kleinen Mack an Daveys Leben so wunderbar erschien, war der Umstand, dass der Hausierer erst bei Sonnenaufgang aufstehen musste und sich schlafen legen konnte, wenn er müde war. Mack war seit seinem siebten Lebensjahr kurz vor zwei Uhr morgens von seiner Mutter wachgerüttelt worden, hatte dann fünfzehn Stunden lang in der Grube geschuftet und war nach Feierabend um fünf Uhr nachmittags wieder nach Hause gewankt, wo er dann nicht selten über seinem Porridge einschlief.

Hausierer zu werden, wünschte er sich schon lange nicht mehr, doch die Sehnsucht nach einem anderen Leben beherrschte ihn nach wie vor. Er träumte davon, ein eigenes Haus zu bauen, in einem Tal wie High Glen und auf einem Stück Land, das ihm selbst gehörte. Dort wollte er von morgens bis abends arbeiten, die Nachtstunden hindurch jedoch ruhen. Er träumte auch von der Freiheit, an sonnigen Tagen zum Fischen gehen zu können – und zwar an einem Ort, wo die Lachse nicht dem Laird gehörten, sondern demjenigen, der sie fing.

Der Brief in seiner Hand bedeutete, dass seine Träume vielleicht in Erfüllung gehen würden.

»Ich weiß immer noch nicht genau, ob es richtig ist, ihn in der Kirche vorzulesen«, sagte Esther, als sie über den gefrorenen Berg wanderten.

Mack wusste es ebensowenig, doch er gab zurück: »Warum denn nicht?«

»Es wird Scherereien geben. Ratchett wird schäumen vor Wut.« Harry Ratchett war der Obersteiger, der Mann, der die Grube im Auftrag des Besitzers leitete. »Vielleicht erzählt er es sogar Sir George, und was werden sie dann mit dir machen?«

Er wusste, dass seine Schwester recht hatte, und in seinem Herzen war er voller Angst. Doch das hielt ihn nicht davon ab, weiterhin mit ihr zu streiten. »Warum sollte ich den Brief für mich behalten?«, fragte er. »Das gibt doch keinen Sinn.«

»Nun, du könntest ihn doch Ratchett unter vier Augen zeigen. Dann lässt er dich vielleicht laufen, ohne großen Wirbel zu machen.«

Mack streifte seine Zwillingsschwester mit einem Blick aus dem Augenwinkel. Diesmal widersprach sie ihm nicht einfach aus Prinzip, da war er sich ganz sicher. Sie wirkte eher besorgt als trotzig. Eine Woge der Zuneigung überkam ihn. Was immer auch geschehen mochte – Esther würde auf seiner Seite stehen.

Und doch schüttelte er eigensinnig den Kopf. »Ich bin nicht der Einzige, den dieser Brief betrifft. Da sind mindestens noch fünf andere, die gern von hier fortgehen würden, wenn sie wüssten, dass das geht. Und denk doch einmal an die kommenden Generationen!«

Sie sah ihn prüfend an. »Das mag ja alles stimmen – aber darum geht’s dir doch gar nicht. Du willst bloß in der Kirche deinen Auftritt haben und beweisen, dass der Grubenbesitzer im Unrecht ist.«

»Nein, will ich nicht!«, protestierte Mack. Dann überlegte er einen Augenblick und fügte grinsend hinzu: »Na ja, da mag schon was dran sein. Wie oft hat man uns strenge Gesetzestreue und Respekt vor den Oberen gepredigt! Und jetzt kommen wir auf einmal darauf, dass sie uns über das Gesetz, das unser Leben bestimmt, von Anfang an belogen haben. Natürlich will ich aufstehen und das laut hinausschreien.«

»Gib ihnen bloß keinen Anlass, dich zu bestrafen«, erwiderte Esther ängstlich.

Er versuchte, sie zu beruhigen. »Ich werde es mit aller gebotenen Höflichkeit und Demut sagen«, erklärte er. »Du wirst mich kaum wiedererkennen.«

»Du und Demut!«, gab seine Schwester skeptisch zurück. »Das möcht’ ich sehen!«

»Ich will ja nur erzählen, was das Gesetz besagt – was soll daran falsch sein?«

»Es ist unvorsichtig.«

»Aye, das ist es«, gab er zu. »Aber ich mach’s trotzdem.«

Sie überquerten eine Bergkuppe und stiegen auf der anderen Seite hinab ins Tal der Gruben. Auf halber Höhe wurde die Luft ein klein wenig milder, und kurz darauf kam auch schon die kleine Steinkirche in Sicht. Sie stand gleich neben einer Brücke, die über den verschmutzten Fluss führte.

Jenseits des Kirchhofs standen dicht gedrängt ein paar Pächterhäuschen. Es waren runde Hütten mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte des Fußbodens, der aus gestampftem Lehm bestand. Im Dach darüber war ein Loch, das als Rauchabzug diente. Im Winter mussten sich Mensch und Vieh den einzigen Raum der Hütte teilen. Die Häuschen der Bergarbeiter, etwas höher, nahe den Gruben gelegen, waren besser. Zwar standen auch sie auf nacktem Boden und hatten ebenfalls nur...