Die Tote von Higher Barton - Ein Cornwall Krimi mit Mabel Clarence

von: Rebecca Michéle

Dryas Verlag, 2011

ISBN: 9783940258120 , 356 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Die Tote von Higher Barton - Ein Cornwall Krimi mit Mabel Clarence


 

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Zum ersten Mal in ihrem Leben bedauerte Mabel, kein Handy zu besitzen.

„Heutzutage gehört ein Mobiltelefon ebenso wie ein Lippenstift in die Handtasche einer jeden Frau“, hatte ihre ehemalige Kollegin und Mitbewohnerin Henny gesagt, als Mabel sich strikt weigerte, sich solch ein technisches Gerät anzuschaffen.

„Ich sehe nicht ein, jederzeit und überall erreichbar zu sein“, konterte Mabel. „Als Krankenschwestern waren wir immer in Rufbereitschaft, darum bin ich jetzt froh, meine Ruhe zu haben. Warum hätte ich sonst in Rente gehen sollen?“

Bisher hatte Mabel Clarence ein Handy nicht vermisst, jetzt musste sie jedoch zugeben, dass so ein Mobilteil durchaus seine Vorteile hätte. Wenn man nämlich mitten in der Nacht bei einem Gewitter und bei sintflutartigen Wolkenbrüchen mit leerem Tank irgendwo auf einer Landstraße, die kaum diesen Namen verdiente, festsaß und man keine Ahnung hatte, wo man sich überhaupt befand. Über ein Navigationssystem verfügte Mabels zehn Jahre alter Vauxhall natürlich auch nicht. Das war bisher ebenfalls nicht nötig gewesen, denn Mabel war eine gute Kartenleserin. Auch heute hatte sie sich nach der Straßenkarte und zusätzlich nach der Wegbeschreibung gerichtet, die sie von ihrer Cousine erhalten hatte:

Bei Launceston die A30 verlassen und auf die B3254 einbiegen, South Petherwin passieren, bei Congdon’s Shop links halten, an der zweiten Gabelung nach rechts abbiegen bis zu einer T-Kreuzung, an dieser nach links, dann zweimal wieder rechts

Mabel hatte sich strikt an die Anweisungen gehalten, außerdem war sie nicht zum ersten Mal in Cornwall. Ihr letzter Besuch lag allerdings über vierzig Jahre zurück, und seitdem war das Straßenbauamt fleißig gewesen. Früher, da war die A30 – die Hauptverbindung zwischen Exeter und Land’s End, dem westlichsten Punkt der britischen Insel – eine schmale, kurvige und beschauliche Landstraße gewesen, die sich an normannischen Kirchen vorbei und durch liebliche Dörfer und einige größere Städten geschlängelt hatte. Heute durchschnitt die vierspurige Bundesstraße die Grafschaften Devon und Cornwall wie ein Graben. Das brachte zwar die zahlreichen Touristen, die wie Heuschreckenschwärme jeden Sommer in Cornwall einfielen, schneller zu ihren Ferienorten an den Küsten, zerstörte aber auch die wildromantische Landschaft. Verließ man jedoch die Hauptstraße, so fand man sich in einem Gewirr von engen, gewundenen Sträßchen mit zahlreichen unbeschilderten Kreuzungen wieder. Mabel hatte jedenfalls nirgends ein Schild, das auf die Ortschaft Lower Barton oder das Herrenhaus Higher Barton, ihrem eigentlichen Ziel, hinwies, entdecken können.

Mabel Clarence war eine praktische Frau, die sich mit den Gegebenheiten abfand. Das hatte das Leben sie gelehrt. Wenn sie jetzt nervös oder zornig auf das Lenkrad schlagen würde, änderte es nichts an der Tatsache, dass sie sich verirrt hatte. Warum hatte sie nicht früher auf ihre Tankuhr gesehen und bemerkt, dass das Benzin nur Neige ging? Mabel ärgerte sich über ihren Fehler und musste versuchen, nun das Beste aus der Situation zu machen. Da es bereits dunkel war, Blitze über den Himmel zuckten und es in Strömen goss, machte es wenig Sinn zu versuchen, zu Fuß ein Haus zu erreichen, von dem aus sie ihre Cousine anrufen konnte.

„Dann findet die Party eben ohne mich statt“, sagte Mabel laut zu sich selbst und eigentlich empfand sie kein Bedauern darüber. Seit sie vor zwei Wochen die Einladung von Abigail zu deren sechzigsten Geburtstag erhalten hatte, war Mabel durch ein Wechselbad der Gefühle gegangen.

Keiner weiß, wie lange wir noch auf dieser Erde sind, darum sollten wir die Vergangenheit ruhen lassen. Es ist mein sehnlichster Geburtstagwunsch, Dich noch einmal sehen zu können, und dass Du mir sagst, dass du mir verziehen hast

Dieser handschriftliche Zusatz stand unter der gedruckten Einladung, und Mabel hatte die steile, eckige Schrift ihrer Cousine sofort erkannt, auch wenn sie diese seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hatte. Damals waren von Abigail regelmäßig Briefe gekommen, oft ein-, zweimal die Woche, aber Mabel hatte alle Schreiben ungeöffnet verbrannt. Mabel wollte mit ihrer Cousine nichts mehr zu tun haben, vor allen Dingen nicht wissen, wie sie an Arthurs Seite auf Higher Barton lebte. Zu tief waren der Schmerz und die Enttäuschung über das, was sie ihr angetan hatte. Ebenso wie sie Arthur niemals wiedersehen wollte. Arthur … Bei der Erinnerung lächelte Mabel wehmütig. Ihm würde sie tatsächlich nie wieder begegnen, denn er war vor vier Jahren gestorben. Ein plötzlicher Herzinfarkt, so lautete der Text der offiziellen Anzeige, die in allen englischen Zeitungen erschienen war. Damals hatte Mabel mit sich gekämpft, rund ein Dutzend Mal versucht, Abigail einen Kondolenzbrief zu schreiben und ihr Bedauern über den Verlust ihres Ehemannes auszudrücken, aber entweder waren ihr die Worte zu banal oder zu hochtrabend erschienen. Mabel wusste, es war nicht richtig gewesen, dass sie Abigail schlussendlich ihr Beileid nicht ausdrückte. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie der Cousine immer noch zürnte, sondern vielmehr, dass Abigail und Arthur zu einem anderen Leben gehörten. Einem Leben, das für Mabel so weit entfernt war wie der Mond von der Erde.

Ein Blitz zuckte über den nachtschwarzen Himmel, nur zwei Sekunden später krachte ein unbeschreiblich lauter Donner, dem gleich darauf der nächste Blitz folgte. Der Regen verstärkte sich und prasselte so hart und laut auf das Autodach, dass Mabel zuerst dachte, es würde hageln. Sie lächelte und seufzte. Offenbar hatte sie vergessen, um wie viel heftiger Unwetter in Cornwall im Vergleich zu London sein konnten. Die Uhr im Armaturenbrett zeigte inzwischen nach dreiundzwanzig Uhr, und sie gab die Hoffnung auf, dass jemand sie noch heute Nacht aus dieser misslichen Lage befreien würde. Augenscheinlich hatte sie sich in eine Gegend verirrt, in die nie jemand kam, zumindest nicht bei diesem Wetter. Sie fürchtete sich nicht vor Gewitter, denn sie wusste um die Sicherheit des Faradayschen Käfigs. Überhaupt war sie keine schreckhafte Frau, sondern stand mit beiden Beinen im Leben und nahm gerne jede Herausforderung an. Nun, die heutige Nacht hätte Mabel natürlich lieber in einem warmen, weichen Bett verbracht als auf einer einsamen Straße. Sie streckte ihre steifen Glieder, so gut das in der Enge ihres Kleinwagens möglich war. Sie angelte nach der Tasche auf dem Rücksitz, zog sie nach vorne und holte eine Plastikbox und eine Thermoskanne hervor. Henny hatte darüber gelächelt, als Mabel Tee und Sandwichs für die Fahrt einpackte.

„Mabel, alle paar Meilen gibt es Rasthäuser, in denen man sich verköstigen kann“, klangen ihr Hennys Worte in den Ohren.

„Auf den Rastplätzen ist es sehr teuer, und es könnte ja auch eine Situation eintreten, in der es mir nicht möglich ist, einen Tee zu kaufen.“

Jetzt war Mabel über ihre Entscheidung froh, denn seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, und ihr Magen knurrte vernehmlich. Da sie glaubte, bis spätestens zwanzig Uhr ihr Ziel erreicht zu haben, und bei der Geburtstagsfeier würde es ausreichend zu essen geben, hatte sie auf einen ausgiebigen Lunch verzichtet. Wie hätte sie wissen sollen, dass sie zuerst auf der Höhe von Stonehenge über drei Stunden im Stau stehen würde, da die Straße wegen eines Frontalzusammenstoßes zweier Autos gesperrt worden war, und dass sie sich dann im Unwetter hoffnungslos verirrte? Mabel trank einen Schluck des Tees, der sich seit über zwölf Stunden in der Kanne befand und deswegen nur noch lauwarm war und aß langsam ein Hähnchenbrustsandwich mit Eisbergsalat, der bereits angewelkt war. Dann zwängte sie sich zwischen den Sitzen nach hinten, was gar nicht so einfach war, denn in ihrem Alter war man nicht mehr ganz so beweglich, entfaltete eine karierte Wolldecke und versuchte, eine einigermaßen bequeme Position zu finden. Wenn Mabel die Beine anzog, passte sie mit ihren einhundertsechzig Zentimetern gerade so auf die Rückbank. Es war Nacht, es regnete und stürmte und sie saß hier fest – dann würde sie eben versuchen, so gut es ging zu schlafen, um sich bei Tagesanbruch auf den Weg zu machen, um Hilfe zu holen. Glücklicherweise war es nicht kalt, und Mabel war durch die Nachtdienste im Krankenhaus daran gewöhnt, auch unter widrigen Umständen zu schlafen. Wenn sich Mabel die Situation richtig überlegte, so war sie eigentlich ganz froh, die Party versäumt zu haben. Es war ihr lieber, wenn ihre erste Begegnung mit Abigail nach über vierzig Jahren in einem kleinen Kreis, am besten unter vier Augen stattfand, anstatt inmitten von Dutzenden von Menschen, die sie nicht kannte. Mabel rollte sich zusammen, zog die Wolldecke bis zum Kinn und war binnen kurzer Zeit eingeschlafen.

Ein Dröhnen und ein grelles Licht, das ihr direkt ins Gesicht fiel, weckten sie. Erschrocken fuhr sie hoch und stieß dabei mit dem Kopf gegen den Wagenhimmel.

„Was in aller Welt …?“

Das Licht blendete sie noch immer, so hörte sie nur, wie jemand gegen die Scheibe klopfte und rief: „Hallo, Sie! Sie blockieren die Straße.“

„Einen Augenblick!“ Mabel zwängte sich auf den Fahrersitz und öffnete die von innen verriegelte Tür. Das Licht blendete sie erneut und sie blinzelte. „Machen Sie doch bitte das Licht aus, ich kann ja gar nichts sehen.“

Nachdem die...