Stadtsoziologie - Eine Einführung

von: Hartmut Häußermann, Walter Siebel

Campus Verlag, 2004

ISBN: 9783593407029 , 264 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 26,99 EUR

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Stadtsoziologie - Eine Einführung


 

Eine Einführung in die Stadtsoziologie hat viel zu erzählen. Gibt es einen vielfältigeren Gegenstand als die Stadt? Wohl kaum! Städte haben eine lange Geschichte hinter sich, wandeln sich ständig und bergen eine unüberschaubare Fülle an Anregungen für jeden Sozialforscher. Darüber hinaus werden die Städte von ihren Bewohnern ganz unterschiedlich wahrgenommen. Würden wir Sie, als Leserin oder Leser, befragen, was für Sie die Stadt ausmacht, dann bekämen wir vermutlich viele, aber wenig übereinstimmende Antworten. Und genauso umfangreich wie die individuellen Wahrnehmungen der Stadt ist das Spektrum der Positionen, das die Soziologie zur Entdeckung der Stadt beitragen kann. Wir möchten mit dieser Einführung die grundlegenden Perspektiven und Themen vorstellen, auf die sich die Stadtsoziologie gründet und die sie bis heute umtreiben. Welche Fragen richten Soziologen an das städtische Leben und an die Entwicklung der Städte? Welche wichtigen Ergebnisse haben sie vorzuweisen, und welche wissenschaftlichen Konzepte haben sie zur strukturellen Beschreibung der Städte vorgeschlagen? Die Frage nach dem Neuen, das mit der modernen Großstadt in die Welt kam, stand am Ausgangspunkt der Stadtsoziologie. Wie ist dieses Neue zu erklären, was bedeutet es für die Menschen und den Staat? Die Erfahrungen der Verstädterung und Urbanisierung prägten zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben den Sozialwissenschaften auch die Literatur und die bildenden Künste. Die Großstädte fungierten als Laboratorien der Moderne, dort konzentrierten sich die ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen der entstehenden Moderne. Die Geschichte der Stadtsoziologie ist die Geschichte ihres Gegenstandes Die Entwicklung der Soziologie als akademischer Disziplin ist eng mit der Geschichte ihres Gegenstands verbunden. Die soziale Wirklichkeit war mit den theoretischen Gebäuden der Ökonomie und der Philosophie allein nicht mehr erklärbar. In den Erklärungslücken entstand die Soziologie als eine Wissenschaft, die den gesellschaftlichen Wandel zu ihrem Gegenstand machte. Sie ist ein Kind der Aufklärung und der kapitalistisch organisierten Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Welche Kräfte waren es, die die Jahrhunderte dauernde Ordnung, die als naturgegeben oder gottgewollt gegolten hatte, plötzlich zusammenbrechen ließen? Was trieb diese Umwälzungen voran und wie konnte der soziale Zusammenhalt trotzdem bewahrt werden? Diese Fragen bewegten die ersten Soziologen, und auch die Stadtsoziologie ist ein Produkt dieser Neugierde. Die Herausbildung der modernen Großstadt war mit tief greifenden Veränderungen der Lebensbedingungen und der Lebensart verbunden. Während des Lebens von nur einer Generation verwandelte die Industrialisierung die provinzielle Residenzstadt und Garnison Berlin in die größte Mietskasernenstadt der Welt oder schuf aus einer trostlosen Sumpflandschaft, wo in keiner Ansiedlung mehr als 500 Einwohner gelebt hatten, die größte Maschinerie zur Produktion von Kohle und Stahl in ganz Europa - die Stadtlandschaft des Ruhrgebiets. Diese Art von Stadtentwicklung hatte mit der bis dato bekannten Stadtgeschichte herzlich wenig zu tun. Sie folgte weder der rationalistischen Ästhetik barocker Stadtanlagen noch der grazilen Logik allmählichen Wachstums durch die emsige Tätigkeit von Kaufleuten und Handwerkern auf einer Vielzahl kleiner Parzellen. Auch das städtische Bürgertum - von Max Weber noch ins Zentrum der Europäischen Stadt gerückt - war an dieser Entwicklung wenig beteiligt. Eine neue Gesellschaft brach sich Bahn, die sich neue Städte schuf, alte aufbrach und explosionsartig anschwellen ließ. Sie zog in diesen Agglomerationen derartige Menschenmassen zusammen, dass den verschüchterten Aristokraten und alteingesessenen Stadtbürgern nichts anderes übrig blieb, als diese als bedrohlich fremde Rasse wahrzunehmen. Der Sog der Industrialisierung zog Massenwanderungen in die Großstädte nach sich; dort entstand eine neue soziale Schicht: die Arbeiterklasse, das Proletariat. Intellektuelle Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Die konservative Stadtkritik machte die industrielle Großstadt verantwortlich für das Elend, das sich in den Familien der Fabrikarbeiter vor allen Augen breit machte. Diese Stadtkritik war reaktionär, sie forderte nichts weniger als die Abschaffung der großen Städte und die Rückkehr der Menschen in die Kleinstädte und Dörfer. Sie nährte die Illusion, mit der Rückkehr zum - idealisierten - Landleben verschwänden auch die Übel der industriellen Großstadt auf Nimmerwiedersehen. Wenn die konservative Stadtkritik auch hellsichtig die Verluste an Gemeinschaft beschrieb, die mit dem sozialen Wandel verbunden waren, und drastisch das Elend ausmalte, das auf die Menschen zukam, so blieb sie doch blind für deren Ursachen: Die Industrialisierung ging mit einem fundamentalen Umsturz der etablierten Herrschaftsverhältnisse einher. Eine ganz andere Reaktion auf den Wandel war die progressive Gesellschaftstheorie, an deren Anfang die Schrift von Friedrich Engels Die Lage der arbeitenden Klasse in England (Engels 1974 (1845)) steht. Für Engels war die Großstadt nur Bühne und Katalysator sozialer Krisen, die unausweichlich mit der kapitalistischen Gesellschaftsform verknüpft seien. Eine Rückkehr zu früheren Zuständen sah er als weder wünschenswert noch möglich an. Für ihn gab es nur den Weg nach vorne, hin zu einer weiteren Steigerung der gesellschaftlichen Dynamik bis zu jener letzten Krise, aus der lediglich eine Revolution herausführen würde. Stadtsoziologie und Stadtpolitik Neben der konservativen Stadtkritik einerseits, die den Untergang gewohnter Lebensverhältnisse beklagte und sich um die Stabilität der Gesellschaft sorgte, und der progressiven Gesellschaftskritik andererseits, die in der modernen, industriellen Großstadt die Bühne und den Durchlauferhitzer eines notwendigen sozialen Wandels erkannte, stand noch bei der Entstehung der Stadtsoziologie ein drittes Interesse Pate: der Informationsbedarf der Verwaltungen, die damit begannen, das städtische Chaos zu ordnen und die Lebensverhältnisse zu verbessern. Die empirische sozialwissenschaftliche Großstadtforschung begann, das lässt sich mit gutem Recht behaupten, als Gesundheitsforschung. Da Seuchen, hohe Sterblichkeit und zahlreiche körperliche Entwicklungsschäden mit dem Wachstum der frühkapitalistischen Städte verbunden waren, wurde die stadtkritische Bewegung hauptsächlich von Medizinern angeführt. Engels' Bericht über die Lage der städtischen Arbeiterschaft stützte sich weitgehend auf Berichte von Ärzten und Leichenbeschauern, und auch das Elend in den Mietskasernen von Berlin wurde zuerst von Gesundheitsinspektoren und Krankenkassen-Berichten öffentlich gemacht. Bereits im 18. Jahrhundert hatte man die Sterblichkeitsraten und Todesursachen zwischen Land- und Stadtbewohnern verglichen, um Hinweise zur Seuchenbekämpfung zu gewinnen. Die Sterblichkeitsrate lag in den Städten weitaus höher als auf dem Land. Wer waren die neuen Stadtbewohner, die die behäbigen Residenz- und Bürgerstädtchen zu anonymen Großstädten umwandelten, und deren Bedarf an Wohnraum, an medizinischer und technischer Versorgung so schwer zu decken war? Dies interessierte die Kommunen. Sie wollten wissen, wer zuwanderte, wer blieb, wer wieder fortzog und wo in der Stadt sich die größten Probleme finden ließen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde eine differenzierte Bevölkerungsstatistik entwickelt, die - gestützt auf eigene städtische Ämter - den Kommunen half, ihr Steueraufkommen, den Bedarf an Bauland und die Anforderungen an kommunale Infrastruktureinrichtungen abzuschätzen. Angesichts der außerordentlich hohen Mobilität, die zu massiven Bevölkerungsverschiebungen und einem explosionsartigen Wachstum der Städte führte, wurden seit 1870 auch Wanderungen innerhalb der Städte und über die Stadtgrenzen hinweg erfasst. Man erhob Alter und Beruf, später auch Daten zu ökonomischen, soziologischen und psychologischen Aspekten, da man, um das rapide Wachstum der Städte zu steuern, auch über die Gesetzmäßigkeiten der Entwicklung und deren Ursachen wissen wollte. Für Politik und Verwaltung waren und sind allerdings nur solche Fragen relevant, die mit deren Aufgabenstellungen verknüpft und mit deren Instrumentarium bearbeitbar sind. Der Soziologie wurden und werden von dort auch heute noch andere und engere Fragen gestellt, als sie sie in der Reflexion krisenhafter Veränderungsprozesse der Gesellschaft zu beantworten hat. Die soziologische Forschung steht, wenn sie sich zu weitgehend darauf einlässt, in der Gefahr, zu einem Steigbügelhalter der Verwaltungen zu werden. Anstatt grundlegender Auseinandersetzungen mit Gesellschaftstheorie erwartet die Verwaltung praxisrelevante Daten und Prognosen. Diese Spannung kennzeichnete die Stadtsoziologie von Anfang an; als Stadtplanungssoziologie (Schäfers 1970) einerseits liefert sie der Verwaltung nach deren Kriterien relevante Informationen, als gesellschaftstheoretisch angeleitete Soziologie andererseits fragt sie nach den Ursachen und Konsequenzen der Urbanisierung und setzt sich mit Problemen auseinander, die außerhalb des Handlungsspielraums einer vorwiegend technisch-räumlichen Planung stehen. Die Soziologie der Stadt kann dieses Spannungsverhältnis nicht zur einen oder anderen Seite hin auflösen, will sie nicht akademische Theorie ohne Bezug zur politischen Praxis sein oder praxisbezogene Datenbeschaffung ohne theoretische Reflexion. Aber nur theoretische Reflexion kann die Soziologie über das Alltagswissen der Praktiker hinausheben und damit für die politische Praxis erst produktiv machen. Stadt ist zunächst nur ein Begriff, der eine bestimmte Siedlungsstruktur benennt: Bebauungs- und Bewohnerdichte vor allem. Mit Stadt werden üblicherweise auch andere Berufstätigkeiten verbunden als mit ländlichen Räumen, und andere Haushaltsformen. Was Stadt soziologisch bedeutet, wird eine der Leitfragen dieses Buches sein. Dass sie insgesamt nicht als soziologischer Gegenstand betrachtet, sondern vielmehr entsprechend der Überlagerung von ökonomischen, sozialen, geographischen und politischen Prozessen in Analysen einzelner Fachdisziplinen aufgelöst werden müsse, hat Saunders (1987) mit einiger Plausibilität dargelegt. Krämer-Badoni (1991) hat mit Recht dagegen gehalten, dass sie als empirischer Gegenstand dennoch existiere und eine Herausforderung für die soziologische Analyse darstelle. Wie Soziologen im Zuge der Entwicklung der Stadtsoziologie mit diesem Problem umgegangen sind, wollen wir ebenfalls darlegen. Wie ist das Buch aufgebaut In diesem Buch werden wir weder die eine noch die andere Perspektive hervorheben. Unsere Absicht ist es, eine gleichermaßen real- wie theoriegeschichtlich angeleitete Einführung in die Stadtsoziologie vorzulegen. Gleichzeitig werden wir uns bemühen, praktisch verwertbare Ergebnisse der soziologischen Forschung zur Stadt- entwicklung darzustellen. Wir haben die unterschiedlichen Kapitel des Textes in fünf thematische Teile untergliedert. Teil I gibt eine Einführung in die empirischen Veränderungen der Sozialstruktur ab Mitte des 19. Jahrhunderts und eröffnet eine historische Perspektive auf die Geburtsstunde der soziologischen Stadtforschung. Im Teil II beschreiben wir in sechs schlaglichtartigen Kapiteln die Besonderheiten der urbanen Lebensweise; die charakterliche Haltung der Großstädter, das vielfältige Nebeneinander unterschiedlicher Lebenswelten in der Stadt, die Unterscheidung einer öffentlichen und einer privaten Sphäre und schließlich die Einbindung der urbanen Haushalte in abstrakte Versorgungssysteme. Wir streifen auch die Motive der Suburbanisierung. Teil III haben wir der empirischen Analyse und theoretischen Reflexion der Großstadt gewidmet. Dabei geht es uns zunächst um die Frage, ob die Stadt für sich selbst, zum Beispiel unabhängig vom Staat, ein souveräner sozialer und politischer Akteur sein kann. Die Stadt ist aber nicht allein ein abstraktes System, sondern von Interesse sind auch die sozialen Beziehungen zwischen Menschen, die in der unmittelbaren Umgebung wohnen, die Nachbarn, mein Freundeskreis, die Mitglieder im Sportverein, die Kirchengemeinde. Darauf, wie sich Gemeinschaften in der Großstadt generieren und wandeln, werden wir ebenfalls zu sprechen kommen. Abschließend stellen wir mehrere theoretische Erklärungsmuster vor, wie sich die Stadt in struktureller Hinsicht entwickelt. Dies legt das notwendige Fundament für die Auseinandersetzung mit dem stadtsoziologischen Hauptthema, der Segregation. Diesem ist Teil IV gewidmet: Mit Segregation beschreibt man eine Struktur oder ein Muster, in dem verschiedene soziale Gruppen verschiedene Teilgebiete der Stadt vorrangig bewohnen. Die Sozialökologen der Chicago School of Sociology haben dies ausführlich untersucht. Für die marxistische Analyse der Stadt ist Segregation nicht das ausgewogene Ergebnis von Konkurrenz und Anpassung, sondern ein Produkt der Herrschaft und gleichzeitig der Ausdruck ungleicher Verteilung von Lebenschancen. Wir setzen uns anhand empirischer Forschungen mit den Folgen sozialräumlicher Segregation in Städten auseinander, versuchen das Für und Wider abzuwägen und gehen auf die lange planungspolitische Diskussion zur sozialräumlichen Verteilung unterschiedlicher Gruppen im Stadtgebiet ein. Die feministische Stadtkritik ist ein integraler Bestandteil der Debatte um soziale Ungleichheiten in der Stadt. Teil V ist als abschließendes Zwiegespräch der Autoren konzipiert. Darin werden nochmals wichtige Punkte zusammengefasst und ein Ausblick auf zukünftige relevante Forschungsfragen im Zusammenhang mit städtischer Entwicklung gegeben. Wir haben es bewusst unterlassen, Bücher oder Positionen so ausführlich zu schildern, dass sich das Lesen der Originaltexte erübrigt. Uns war durchaus bewusst, dass sich an ein stadtsoziologisches Einführungsbuch sehr verschiedene Erwartungen richten werden und haben uns deshalb um eine uns sinnvoll erscheinende Schnittmenge bemüht. Explizit nicht beabsichtigt war, eine Dogmengeschichte bzw. eine wissenschaftssoziologisch korrekte Abhandlung der Spezialdisziplin Stadtsoziologie vorzulegen. Wir schildern die Entwicklung der Stadtsoziologie nicht als Kampf von Ideen oder Schulen und liefern letztlich auch keinen Überblick über die aktuellen Probleme der Stadtentwicklungspolitik in Deutschland, Europa oder gar der ganzen Welt. Auch haben wir nicht angestrebt, einen hinreichenden Überblick über die internationale Entwicklung der Stadtsoziologie zu geben. Zwar spielt die internationale Debatte bei den Themen und Kontroversen selbstverständlich eine Rolle, eine Einführung in den rasch wachsenden Literaturbestand war angesichts der Vielfalt der Themen aber nicht unsere Absicht. Wir haben versucht, Stadtsoziologie und Stadtpolitik getrennt zu halten. Das ist nur für die Zwecke der Begrenzung in diesem Buch zu rechtfertigen, in Forschung und Lehre ist die soziologische und die politikwissenschaftliche Thematisierung von Stadt dagegen kaum sinnvoll auseinander zu halten. Daher wird die Trennung auch in diesem Buch nicht ganz strikt durchgehalten. Aber im Großen und Ganzen sind Fragen der politischen Herrschaft, der Steuerung, der Bürgerbeteiligung, der Machtverteilung und der neuen Formen lokaler Politik weitgehend ausgespart. Diese Themen würden ihrerseits eine separate Einführung rechtfertigen. Schließlich haben wir darauf verzichtet, die Entwicklung der Stadtsoziologie in der DDR darzustellen. Dort gab es selbstverständlich Anknüpfungen an die Thematisierung der Stadt bei Marx und Engels (vgl. Grundmann 1984), aber auch umfangreiche empirische Forschungen zu Großwohnsiedlungen (vgl. zum Beispiel Kahl 2003) und zu Stadtmilieus. Stadtforschung hatte in der DDR neben der Industrieund Betriebssoziologie eine prominente Stellung, aber Theorie und Forschung waren insgesamt politisch derart kontrolliert, dass die veröffentlichten Berichte stark von den legitimatorischen Bemühungen um eine sozialistische Lebensweise geprägt sind (vgl. Ettrich 1992, Kuhn 1997). Mit dem Ende des Realsozialismus haben sie so sehr an Relevanz und Aktualität verloren, dass sie in der Stadtsoziologie heute überwiegend nur noch von historischem Interesse sind. Wir hoffen, dass wir damit einen lesbaren Weg zwischen systematisierender Darstellung einerseits und Bericht über wichtige Forschungsergebnisse andererseits gefunden haben, der möglichst viele Leser dazu motiviert, die Bücher selbst zu lesen, die sie im Folgenden nur aus zweiter Hand kennen lernen werden.