Im Tunnel - Metro 2033-Universum-Roman

von: Sergej Antonow

Heyne, 2013

ISBN: 9783641101329 , 384 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Im Tunnel - Metro 2033-Universum-Roman


 

2

DER ROTE NIKITA

Obwohl Tolik als erfahrener Kämpfer galt, hatte er noch nie die Ehre gehabt, Nestors Zelt zu betreten. Die Kommandosoldaten bekamen ihre Instruktionen normalerweise von Ded, einem ehemaligen Offizier der Luftlandetruppen, der während seines Dienstes in der russischen Armee in vielen postsowjetischen Krisenherden gekämpft hatte. Doch seit einer Woche war Ded spurlos verschwunden.

Der alte Draufgänger fürchtete weder Gott noch den Teufel und unternahm häufig Erkundungsmärsche in das Tunnelsystem im Umfeld der Station. Das mit der »Erkundung« war wohl eher ein Vorwand für ihn, in Wirklichkeit brauchte er einfach den Nervenkitzel.

Zu seinen Expeditionen brach er mit einem Dreitagesvorrat an Verpflegung, Wasser und Machorka auf. Wenn er zurückkam, berichtete er Nestor über nützliche Funde und bemerkenswerte Entdeckungen in den endlosen Labyrinthen, von denen niemand wusste, von wem und wozu sie errichtet worden waren.

Ded war nie länger als vier Tage ausgeblieben, deshalb hatte man am fünften Tag einen Suchtrupp losgeschickt. Nachdem dieser mit leeren Händen zurückgekommen war, hatte man Ded für tot erklärt. Tolik kam beiläufig in den Sinn, ob man ihn womöglich hatte rufen lassen, um ihm Deds frei gewordenen Posten anzutragen.

Im Stabszelt war es ausgesprochen hell. Während es in den meisten Unterkünften bestenfalls Petroleumlampen gab, war das Quartier des Kommandanten an die Stromversorgung der Station angeschlossen.

Eine schwarze Trennwand teilte das Zelt in zwei Hälften. Im hinteren Bereich befanden sich Nestors Privatgemächer. Er wohnte nicht ganz so bescheiden wie gewöhnliche Anarchisten, doch als komfortabel konnte man seine Hütte nicht bezeichnen.

Zur schlichten Einrichtung gehörten ein Klappbett, ein durchgesessener Lehnstuhl, ein Kästchen, ein Bücherregal, ein Schrank und ein abgewetzter Schreibtisch, auf dem sich Papiere stapelten. Das war natürlich mehr, als zum Beispiel Tolik besaß, doch irgendeinem Apparatschik von einer abgelegenen roten Station hätte dieser Hausrat nur ein mitleidiges Lächeln abgenötigt.

Den Großteil der vorderen Hälfte des Zelts nahm ein großer runder Esstisch ein. Auf diesem war eine riesige Metrokarte ausgebreitet, die aus einem Dutzend Tapetenbahnen zusammengeklebt war. Eine so große und detaillierte Karte hatte Tolik noch nie gesehen. Alle bekannten Metrostrecken waren als schwarze, punktierte Linien dargestellt. Das gehörte zum Standard. Nach einigen Jahren im Untergrund konnte jeder Metrobewohner sämtliche Stationen auswendig aufzählen und den entsprechenden Linien zuordnen.

Der Clou von Nestors Karte bestand darin, dass auch kaum bekannte Abzweigungen, Lüftungsschächte und Korridore, die in gewöhnlichen Karten fehlten, in verschiedenen Farben eingezeichnet waren. Auf dem ganzen Plan wimmelte es von Frage- und Ausrufezeichen. Mit den Fragezeichen hatte Nestor vermutlich Stellen markiert, die noch nicht ausreichend erkundet waren oder die Aufklärer vor Rätsel gestellt hatten. Die Ausrufezeichen bedeuteten Gefahr. Patronen verschiedenen Kalibers waren auf der Karte wie Spielfiguren verteilt. In mehreren Blechdosen qualmten Zigarettenkippen.

Nestor nickte den Ankömmlingen aufmunternd zu, und diese verteilten sich hüstelnd um den Tisch. Bei der Auswahl der Sitzgelegenheiten machte sich eine unsichtbare Rangordnung bemerkbar.

Der Kommandant nahm in einem bequemen Sessel mit lederbezogenen Armlehnen Platz. Der Chef der hiesigen Spionageabwehr – an der Woikowskaja als Genosse Karetnikow bekannt, an anderen Stationen vermutlich unter anderem Namen – begab sich auf einen Stuhl, dessen Lehne aus Rotholz gefertigt und mit einer schnörkeligen Schnitzerei verziert war. Arschinow versank in einem mit Segeltuch bespannten Liegestuhl. Die sieben Kämpfer verteilten sich auf einer langen Holzbank und grob zusammengezimmerten Hockern.

Erst jetzt bemerkte Tolik einen kleinen, dicken Mann, der argwöhnisch hinter Nestors Rücken hervorlugte. Der Unbekannte trug die Uniform eines NKWD-Offiziers, wie sie Tolik aus Filmen über den Zweiten Weltkrieg kannte, die er in seiner Kindheit gesehen hatte. Dunkelblaue Stiefelhose, khakifarbene, hochgeschlossene Jacke mit Rauten am Kragenspiegel, Schirmmütze mit krapprotem Saum und blauem Oberteil – die Montur verströmte Museumsflair. Der Blick unter dem tief ins Gesicht gezogenen Schild wirkte unheilvoll und maskenhaft. Hätte nur noch gefehlt, dass dieser operettenhafte NKWDler »Für die Heimat! Für Stalin!« bellt, dann wäre das Bild komplett gewesen.

Tolik jedenfalls empfand von Anfang an eine abgrundtiefe Abneigung gegen den Mann.

Mit einer Handbewegung beendete Nestor das Gemurmel im Zelt.

»Was ich euch jetzt erzähle, bleibt unter uns«, sagte er und ließ die Finger knacken. »Abgesehen davon würde es euch sowieso niemand glauben … Hat einer von euch Grünschnäbeln schon mal was von Eugenik gehört? Oder vom Vorhaben nationalsozialistischer Wissenschaftler, den vollkommenen Menschen zu erschaffen? In der UdSSR gab es solche Forschungen auch, es wurden Experimente gemacht. Die Deutschen wurden für diese Experimente vor ein Tribunal gezerrt und aufgehängt. Nicht etwa wegen ihrer Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sondern weil Deutschland den Krieg verloren hatte. Wir dagegen hatten ihn gewonnen. Und Sieger verurteilt man nicht. Auch für Menschenversuche wird man nicht bestraft. Die Experimente gingen weiter – bis zum Zerfall der Sowjetunion.«

Unter den Anwesenden erhob sich Geflüster. Der Operettenoffizier überzog die Störer mit einem strafenden Blick.

»Dann wurden sie abgebrochen«, fuhr Nestor lauter fort. »Logisch – das Geld ging aus, und die Sache brachte nicht viel. Doch wie sich nun herausgestellt hat …« – er wandte sich an den NKWDler –, »… wurden sie nach der Katastrophe fortgesetzt. Und zwar an der Roten Linie.«

»Und? Züchten sie dort Leute mit goldenen Eiern?«, lästerte Sergej.

Arschinow lehnte sich weit aus seinem Liegestuhl und verpasste dem Frechling eine saftige Ohrfeige. Der übrige Kindergarten verstummte augenblicklich.

»Fast«, erwiderte der Kommandant mit wehender Mähne. »Was man so hört, stehen sie kurz davor, einen Dings zu entwickeln, einen genetischen …« Er blickte sich abermals zu dem Offizier um.

»Einen genetischen Modifikator«, plapperte der NKWD-Mann los. »So eine Art Virus, das in den Organismus eingeschleust wird und den Menschen nach und nach umkrempelt. Viren verändern nämlich den genetischen Code …«

»Jedenfalls haben sie vor, Übermenschen zu erschaffen, die gegen radioaktive Strahlung immun sind«, ergriff abermals Nestor das Wort. »Was für uns eine tödliche Strahlung ist, wäre für die nur eine Lappalie. Und was, meine Herren, bedeutet das?«

»Das bedeutet, wenn wir an dieses Zeug rankommen …«, begann Tolik, doch der Kommandant ließ ihn nicht ausreden.

»Falsch, Tomski. Das bedeutet, wenn sie an dieses Zeug rankommen, gehört ihnen das ganze oberirdische Areal über der Metro. Sie werden sich sämtliche Waffen und Geräte holen, die für Stalker bisher unerreichbar waren. Das gibt ihnen die Chance, ein Imperium aufzubauen! Die Gewichte werden sich endgültig zu ihren Gunsten verschieben. Sie unterwerfen zuerst die Hanse und dann alle übrigen Stationen. Das dürfen wir auf keinen Fall zulassen. Deshalb haben wir beschlossen, ihr Forschungslabor und alle am Projekt beteiligten Personen zu liquidieren. Niemand darf dieses Teufelszeug in die Hände bekommen.«

Nestor verstummte, und im Stabszelt kehrte verlegenes Schweigen ein.

»Wieso denn liquidieren?«, ereiferte sich Karetnikow. »Wenn die genetische Veränderung so grandiose Möglichkeiten eröffnet, wäre es doch viel sinnvoller, sich diese Technologie unter den Nagel zu reißen. Angenommen, wir bekämen einen solchen Modifikator in die Hände …«

»Und das aus dem Munde eines Anarchisten?«, unterbrach ihn Nestor und schüttelte den Kopf. »Die wollen doch eine neue Rasse züchten. Eines habe ich gelernt: In diesem verdammten Leben gibt es nichts umsonst. Wer weiß schon, womit diese Übermenschen für ihre Strahlenresistenz bezahlen müssen? Werden das überhaupt noch Menschen sein? Woher willst du wissen, ob du sie unter Kontrolle behältst? Nein, mein Lieber. Die Sache ist mir zu heiß. Und für dich wäre sie auch eine Nummer zu groß.«

Karetnikow ließ die Schultern hängen und fand sich mit seiner Niederlage ab.

Nestor wandte sich an den NKWDler und zeigte mit dem Finger auf ihn.

»Das ist übrigens Nikita. Ich habe ganz vergessen, ihn euch vorzustellen. Er ist direkt von der Lubjanka zu uns gekommen. Also quasi aus der Höhle des...