Der Mauer um die Wette gedenken - Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie

von: Sybille Frank

Campus Verlag, 2009

ISBN: 9783593407395 , 367 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 35,99 EUR

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Der Mauer um die Wette gedenken - Die Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie


 

Ein weiterer Grund für die internationale Bekanntheit des Checkpoint Charlie war der todbringende Schrecken der innerdeutschen Grenze. Am 5. Januar 1974 wurde der 23-jährige Burkhard Niering - ein Anwärter der DDR-Bereitschaftspolizei, der auf der östlichen Seite des Alliierten-Kontrollpunkts als Posten eingesetzt war - bei einem Fluchtversuch über den Grenzübergang von DDR-Grenzern erschossen (Hildebrandt 2006a). Doch sollte nicht das Schicksal des direkt am Checkpoint Charlie zu Tode gekommenen Niering, der als Deserteur gebrandmarkt wurde, sondern der missglückte Fluchtversuch des 18-jährigen Maurergesellen Peter Fechter in den Westen am 17. August 1962 ungefähr 200 Meter südlich des Kontrollpunkts international mit dem Alliierten-Kontrollpunkt verbunden werden. Während sein gleichaltriger Arbeitskollege die Mauer an der Zimmerstraße unverletzt überklettern konnte, wurde Fechter von NVA-Soldaten entdeckt und durch Schüsse schwer verletzt. Weder die östlichen noch die westlichen Grenzbeamten eilten dem Verwundeten zur Hilfe, so dass der 18-Jährige qualvoll im Mauerstreifen verblutete (Sikorski/Laabs 2003). Trotz seiner Verbindung mit dem international wohl berühmtesten Maueropfer konnte der Checkpoint Charlie in den folgenden Jahren zu einem Symbol zahlreicher gelungener Fluchten avancieren. Seinen Sonderstatus nutzten etliche DDR-Bürgerinnen zu heimlichen Kofferraum-Grenzübertritten in Diplomatenautos oder dazu, den Checkpoint als sowjetische Majore oder amerikanische Soldaten verkleidet zu passieren. Allein zwischen 1961 und 1963 glückten auf diese Weise mehr als 1.200 Fluchten über den Alliierten-Kontrollpunkt (Hildebrandt 2006b: 83). Weiterhin zog die Eröffnung des Museums Haus am Checkpoint Charlie auf der westlichen Seite des Grenzübergangs am 14. Juni 1963 eine stetig steigende Zahl von Besucherinnen an. Neben der Vermittlung der Geschichte der Mauer verschrieb sich das Ausstellungshaus, für das sich bald der Name ?Mauermuseum? einbürgerte, der Dokumentation der gelungenen und gescheiterten Fluchtversuche aus der DDR und des friedlichen Kampfes für Menschenrechte in aller Welt. Gezeigt wurden hier neben Zeugnissen des Mauerbaus folglich auch Teile des selbst genähten Heißluftballons, mit dem zwei thüringische Familien in den Westen geflohen waren, Fluchtautos sowie ein selbst gebasteltes Mini-U-Boot, Beleg einer Flucht über die Ostsee nach Dänemark. Ferner gab es Objekte wie die Schreibmaschine der Charta 77 und die Sandalen Mahatma Gandhis zu bestaunen. Das Museum verstand sich dank seines Gründungsdirektors Rainer Hildebrandt - dem Vorsitzenden der gemeinnützigen Fluchthelfergruppe Arbeitsgemeinschaft 13. August e.V., die als Trägerin des Museums fungierte - zugleich als ein politisches Zentrum. In der Friedrichstraße, im letzten Haus vor der Grenze gelegen, konnten 'Fluchthelfer durch ein kleines Fenster alle Bewegungen am Grenzübergang beobachten, hier waren Geflüchtete stets willkommen und wurden unterstützt, hier wurden Fluchtpläne ausgedacht und immer gegen das Unrecht der DDR gekämpft' (ebd.: 206). Vier Dauerausstellungen, zahlreiche Sonderausstellungen, Vorträge geflohener Soldaten, Dokumentarfilme, eine Bibliothek und ein eigener Verlag komplettierten das Konzept, das neben vielen auswärtigen Besuchern auch zahlreiche Schulklassen anzog (Arbeitsbericht, Haus am Checkpoint Charlie 1987). Aufgrund der 'Genialität Hildebrandts, Widerstand, Fluchthilfe und Dokumentation des Geschehens zu bündeln und in einzigartiger Weise miteinander zu verknüpfen', mauserte sich das Haus am Checkpoint Charlie zu einem der meistbesuchten Ausstellungshäuser Westberlins (der DDR-Bürgerrechtler und ehemalige Mauermuseums-Pressesprecher Wolfgang Templin 2004, 12. Januar). Nach dem Fall der Mauer ergänzten Schlagbäume von der Grenze, Mauerreste und Uniformen das Ausstellungsprogramm. Auch nach zwei Museumserweiterungen 1987 und 1999 blieb der Ausstellungsstil 'liebenswert behelfsmäßig' (Sikorski/Laabs 2003: 139). Nicht zuletzt war der Checkpoint Charlie auch deshalb 'Berlins berühmtester Grenzübergang' (Knabe 2004: 15), weil er für ausländische Touristen das Nadelöhr nach Ostberlin darstellte. Sein spezieller Status inspirierte Romanciers wie John Le Carré in 'Der Spion, der aus der Kälte kam' und Filmregisseure wie John Glen, der in 'Octopussy' James Bond alias Roger Moore im Clownskostüm die Grenze am Kontrollpunkt überqueren ließ, zu spektakulären Spionagegeschichten. Einerseits Symbol des Kalten Krieges und der Brutalität der deutsch-deutschen Teilung, andererseits Grenz-Übergang, ?Fluchtpunkt? und Zentrum des friedlichen Widerstands gegen die Mauer, verkörperte der Checkpoint Charlie sowohl einen Ort der ausweglosen Trennung als auch eine hoffnungsvolle Passage. Der Fall der Mauer ließ den Alliierten-Kontrollpunkt über Nacht obsolet werden. Am 22. Juni 1990 wurde er im Beisein der Außenminister der vier Siegermächte und der beiden deutschen Staaten feierlich demontiert. Die Abfertigungshalle der DDR wurde von einer Firma in Trebbin nahe Berlin als Produktionshalle weitergenutzt, während das Kontrollhäuschen der Westalliierten seit 1998 im Alliiertenmuseum in Berlin-Dahlem zu sehen ist (Kaminsky 2004). Das berühmte Sektorengrenzen-Schild mit der Aufschrift 'You are leaving the American Sector' stiftete die US-Armee dem Museum Haus am Checkpoint Charlie (Hildebrandt 1999). Nachdem auch die Berliner Mauer bis Ende 1990 weitgehend abgetragen worden war, legten nur noch ein Wachturm und zwei Schlagbäume Zeugnis vom früheren Standort des Kontrollpunkts ab.