Vergissmichnicht - Ein Bodensee-Krimi

von: Eva-Maria Bast

Gmeiner-Verlag, 2012

ISBN: 9783839239865 , 326 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Vergissmichnicht - Ein Bodensee-Krimi


 

Erstes Kapitel


 

Überlingen

 

Alexandra Tuleit beobachtete verblüfft, wie sich der Ausdruck im Gesicht der alten Dame binnen Sekunden komplett veränderte. Die Wangen wirkten mit einem Mal eingefallen, die sorgfältig geschminkten Lippen waren fest aufeinander gepresst und die Augen begannen zu flackern. Dabei war es doch nur eine ganz einfache Frage gewesen, eine, die Alexandra mehr aus Routine als aus echtem Interesse gestellt hatte. Denn eigentlich hatte sie die Hoffnung, Licht ins Dunkel der Geschichte zu bringen, schon längst aufgegeben.

»Und Sie wissen auch nicht, wer Carlo Bader war?«, hatte sie gefragt.

Die Hände der alten Dame, die dünnen, knöchernen Hände mit der Pergamenthaut, den Altersflecken und den dicken, goldenen Ringen, begannen zu zittern. Das Zittern übertrug sich auf die zarte, blau-weiße Teetasse aus Meissener Porzellan, die Elisabeth Meierle in den Händen hielt. Das Zittern wurde zu einem Klappern, lauter und immer lauter. Es klang in der Stille, die sich über das Zimmer gelegt hatte, beinahe bedrohlich und fand sich in einem skurrilen Rhythmus mit der laut tickenden Wanduhr.

Alexandra Tuleit sprang auf, nahm der alten Dame die Tasse aus der Hand und stellte sie vorsichtig auf den runden, auf Hochglanz polierten kleinen Kirschbaumtisch, der vor den geblümten Jugendstil-Sesseln stand, auf denen sie Platz genommen hatten.

»Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe«, sagte sie und fühlte Unbeholfenheit in sich aufsteigen. Unbeholfenheit deshalb, weil sie plötzlich vor einem ganz anderen Menschen saß. Verschwunden war die rosige, fröhliche, redselige Frau, die so begeistert gewesen war, die erzählt und alte Fotos herausgezogen hatte. Die es gar nicht hatte fassen können, als sie erfuhr, dass Alexandra Tuleit ausgerechnet sie ausgewählt hatte, ihre Lebensgeschichte im Zuge der Serie ›Geheimnisse der Heimat‹, die später auch als Buch erscheinen sollte, in der regionalen Zeitung, dem Südkurier, zu erzählen. So geschmeichelt war die zierliche, elegante alte Dame gewesen, dass sie unzählige Fotoalben und alte Briefe aus ihren schweren, reich mit Schnitzereien verzierten Wohnzimmerschränken hervorgekramt und Alexandra stundenlang von ihrem Leben in Überlingen erzählt hatte. Von ihren Eltern, die, nahe des Münsters in der Altstadt, noch einen Bauernhof gehabt hatten. Von dem köstlichen Vanille- und Himbeereis, das sich Überlingens Kinder im Sommer immer in tropfenden Eistüten auf der Rückseite des Café Hoch abholten. Und auch von den angstvollen Nächten im Luftschutzkeller, wo sie während des Krieges viele Stunden lang ausgeharrt hatte. Gemeinsam mit der Mutter, den Zwillingsmädchen, die vier Jahre jünger waren als sie, und der alten Dame, bei der sie in der Luziengasse zur Miete wohnten und die sie bei Fliegeralarm immer erst aufwecken mussten, weil sie schlecht hörte. Mit großem Eifer hatte Elisabeth Meierle erzählt, war tief in ihre eigene Vergangenheit eingetaucht und hatte Alexandra, eine völlig Fremde, daran teilhaben lassen.

Und nun – die komplette Verwandlung. Wegen einer einzigen Frage.

Elisabeth Meierle atmete tief durch. Ein Ruck ging durch ihren schmalen Körper, sie straffte sich und die Augen, die eben noch so trüb, fast fiebrig, geglänzt hatten, wurden eiskalt. Alexandra wurde zum ersten Mal bewusst, dass sie von einem tiefen Blau waren. Sie fröstelte.

Elisabeth Meierles Stimme war leise und schneidend, als sie antwortete: »Nein, ich weiß nicht, wer Carlo Bader war. Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Wie Sie sicher bemerkt haben, ist mir nicht gut. Ich habe Kopfschmerzen.« Als müsse sie ihre Worte unterstreichen, legte sie ihre schmale Hand an die Schläfe. »Die Nachwirkungen einer Grippe, die mich letzte Woche plagte«, fuhr Elisabeth Meierle fort und ihr Ton nahm eine aufgesetzt-leidende Klangfärbung an. »Bitte gehen Sie. Bitte lassen Sie mich alleine.«

Alexandra Tuleit glaubte ihr den plötzlichen Anfall von Kopfschmerzen nicht. Und auch nicht die kürzlich überwundene Grippe. Hatte sie doch in den Tagen vor dem Treffen häufig mit Elisabeth Meierle telefoniert und die alte Dame hatte weder krank geklungen noch von einer Unpässlichkeit erzählt. Es war offensichtlich, dass der Name Carlo Bader der Seniorin einen riesigen Schrecken eingejagt hatte.

Der tragische Tod des Carlo Bader hatte sich 1980 in Überlingen ereignet. Der junge Mann war erschlagen und mit üblen Prellmarken in der Nierengegend im Stadtgarten aufgefunden worden. Der Mörder wurde nie gefasst und merkwürdigerweise hatte Alexandra bisher keinen Überlinger gefunden, der ihr mehr darüber sagen konnte. Und das, wo die Überlinger doch sonst alles wussten. Ihr Ehrgeiz war nun, die Geschichte für die Zeitung und ihr Buch aufzudecken. Fast hatte sie es schon aufgegeben. Und nun tat sich hier ganz unvermittelt eine Spur auf. Nur: Wohin führte sie? Sie durfte sich nicht abwimmeln, sich nicht hinauswerfen lassen. Es war klar: Würde sie dieses Haus einmal verlassen, würde sie nie wieder Einlass finden. Krampfhaft suchte sie nach einem Ansatz, nach etwas, mit dem sie die alte Dame wieder für sich einnehmen könnte. Sie musste sich ganz unbefangen zeigen. Naivität vorspielen. So tun, als hätte sie Elisabeth Meierles Reaktion nicht als merkwürdig empfunden.

Was sie dann sagte, schien ihr zu plump, zu trivial, als dass es fruchten könnte. Aber sie wagte es trotzdem. »Ach, ich dachte mir schon, dass Sie auch nichts wissen«, sagte sie beiläufig. Es weiß ja keiner was. Ich werde die Suche wohl aufgeben müssen. Schade, ich hätte so gerne etwas darüber in meinem Buch oder in der Zeitung geschrieben. Aber man muss akzeptieren, wenn man verloren hat.« Kam es ihr nur so vor oder entspannte sich Elisabeth Meierle bei ihren Worten etwas? Krampfhaft suchte Alexandra nach einem neuen Anknüpfungspunkt für ein entspanntes Gespräch, einem Mittel, um Elisabeth Meierle vollends aus ihrer Starre zu lösen. Ihr Blick raste durchs Zimmer und blieb an zwei gerahmten Kinderzeichnungen hängen. Das eine Bild zeigte ein Strichmännchen und eine blaue Blume. Das andere ein großes, von Bäumen umstandenes Haus. Sie deutete auf die Bilder. »Die sind aber schön. Haben Sie die von Ihren Enkeln geschenkt bekommen?« Ein Lächeln, ein glückdurchtränktes, sonniges Lächeln, flog über Elisabeth Meierles Gesicht. »Ja. Die blauen Blumen sind Vergissmeinnicht. Meine Lieblingsblumen. Meine Enkelin hat mir das Bild mit einem kleinen Blumensträußchen zum Muttertag geschenkt.« Das Lächeln wurde breiter, wärmer, malte Tiefe und Innigkeit in das Gesicht der alten Dame, ließ die eben noch so fahlen Wangen erröten und brachte wieder jenen liebevollen Glanz in ihre Augen zurück, den Alexandra schon ganz am Anfang wahrgenommen hatte. Bevor sie den Namen gesagt hatte. Bevor das Schillern eingefroren und zu einem harten, kalten Leuchten geworden war. Wie Eiskristalle, die in einer sonnenbeschienenen Schneelandschaft funkelten. Alexandra legte Elisabeth Meierle vorsichtig eine Hand auf den Unterarm. »Sie haben zwei Enkel, sagen Sie?«

»Ja«, strahlte Elisabeth Meierle stolz.

»Und leben Ihre Enkel hier in Überlingen?«

»Leider nein. Meine Tochter wohnt mit ihrer Familie in Villingen-Schwenningen. Aber wir besuchen uns gegenseitig häufig. Es ist ja nur eine Stunde mit dem Auto. Und die Kleinen, Tim und Nina, waren auch schon das eine oder andere Mal hier bei mir zum Übernachten. Besonders im Sommer. Sie lieben es, direkt nach dem Aufwachen in den See hüpfen zu können. In Villingen-Schwenningen gibt es ja keinen See.«

Na also, dachte Alexandra. Habe ich sie wieder eingefangen gekriegt.

»Sehen Sie«, sagte Elisabeth Meierle und deutete auf unzählige Fotos in prunkvollen Goldrahmen, die auf einem scheinbar nie genutzten und ausschließlich als Bilderständer dienenden Flügel standen. Kein Staubkörnchen war auf dem gewaltigen Instrument zu sehen. Alexandra fragte sich flüchtig, ob ein Dienstmädchen für diese fast schon sterile Sauberkeit verantwortlich war. Vermutlich, denn sie konnte sich die sehr wohlhabende alte Dame nicht mit einem Staubtuch in der Hand vorstellen. Außerdem hatte ihr ein Dienstmädchen die Tür geöffnet und ein anderes später Kaffee gebracht. Elisabeth Meierle beschäftigte bestimmt eine ganze Heerschar von Dienstboten.

Die Gesichter auf den Fotos lächelten Alexandra Tuleit entgegen. Es waren die typischen Familienbilder. Aufgenommen beim Fotografen, in Pose geworfen, ein Sonntagslächeln auf den Lippen.

Auch auf den Lippen von Elisabeth Meierle zeigte sich jenes Sonntagslächeln, als sie die perfekten, staubfreien Bilder ihrer Familie betrachtete. Ein glückliches Leben ohne den geringsten Makel, so, wie auch auf dem Flügel kein Staubkörnchen liegt, dachte Alexandra. Aber wahrscheinlich ist der Flügel nur nach außen hin schön und eigentlich grauenhaft verstimmt – wahrscheinlich kann man auf ihm nur disharmonische Melodien spielen. Und vermutlich gibt es auch in dieser Familie viel Disharmonie. Das wirkt alles viel zu glatt und lässt sich so gar nicht mit Frau Meierles Reaktion auf meine Frage in Einklang bringen.

Und während all der Stunden, die sie nun noch beisammensaßen und in denen die alte Dame der jungen Frau von ihrer Familie erzählte, fragte sich Alexandra, ob sich Elisabeth Meierle wirklich so leicht hatte ablenken lassen oder ob sie ihr ihrerseits etwas...