Lichtraum - Roman

von: Gary Gibson

Heyne, 2012

ISBN: 9783641094973 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Lichtraum - Roman


 

Kapitel Eins


Konsortium-Standardjahr 2544

 

 

Siebzehntausend Lichtjahre von der Heimat entfernt, durch einen nicht kartographierten Sternhaufen am Rande des galaktischen Zentrums treibend, spürte Dakota Merrick endlich die ersten schwachen Signale auf, die den Aufenthaltsort des Schöpfers verrieten.

Die Signale benutzten eine unglaublich komplizierte Kompressionstechnik, um die größtmögliche Menge an Informationen mit einem minimalen Energiestoß zu übermitteln. Ein Schiff, das nicht über die raffinierte Technologie des Sternenschiffs der Weisen verfügte, hätte die Signale vermutlich nicht von zufälligen Geräuschen unterscheiden können.

Sie verfolgte die Transmissionen zu ihrer Quelle zurück, wobei sie eine dichte Wolke aus kosmischem Staub passierte, die angefüllt war mit so jungen Sternen, dass deren Planeten sich noch kaum ausgebildet hatten. Als ihr Schiff schließlich den Cluster verließ, traf sie auf Dutzende von zerstörten Zweigwelten der Atn, die in einem weiten Orbit an den Rändern wesentlich älterer Systeme kreisten.

Weitere vereinzelte Transmissionen führten sie in Richtung eines Halo-Clusters tausend Lichtjahre über der ekliptikalen Ebene der Galaxis. Sie flog mit ihrem Sternenschiff so weit, bis die Milchstraße allmählich achtern in ihrer Gesamtheit zu sehen war, das Zentrum ein gleißender Lichtbalken, umrankt von schwarzem Rauch.

Im Laufe der Zeit fing sie die Signale uralter Notsender auf, die nach über einhundertfünfzigtausend Jahren immer noch aktiv waren. Und schon bald stellte sie fest, dass sie auf die Überreste der Expedition des Händlers gestoßen war, die vor langer Zeit stattgefunden hatte. Sie fand Kernschiffe, mittlerweile nur noch luftleere Hüllen, deren Meldesysteme weiterhin immer schwächer werdende Hilferufe aussandten, nachdem ihre Crews längst zu Staub zerfallen waren.

Die Transmissionen verdichteten sich, und Dakotas Aufmerksamkeit richtete sich zunehmend auf die nähere Umgebung eines Roten Riesen am Rande eines Sternhaufens. Langstreckensensoren enthüllten schließlich die Eigenart des Schöpfers: Es handelte sich nicht um ein einziges Wesen, sondern entpuppte sich als gigantischer Schwarm von Objekten, die durch zeitlich nicht verzögerte, überlichtschnelle Tach-Net-Transmissionen miteinander verbunden waren. Es gab Millionen davon, die sich über ein mehrere Lichtjahre umfassendes Areal verteilten, in dessen Mitte sich der Rote Riese befand.

Der Schwarm erfüllte den superluminalen Äther mit kurzen Ausstößen von Daten, eine Kakophonie aus unartikulierten Stimmen, die alle einander über enorme Entfernungen hinweg anbrüllten.

 

Wahrend sich das Schiff annäherte, verbrachte Dakota ihre Zeit damit, durch die endlosen virtuellen Welten zu driften, die in den Speicher-Stacks ihres Schiffs enthalten waren; subjektiv vergingen Tage und Monate, wenn draußen im Universum lediglich Sekunden vorbeihuschten. Sie verwandelte sich in eine Schar vogelähnlicher Kreaturen, die durch die dichte Luft einer Welt mit hoher Schwerkraft flogen und auf der Jagd nach Beute ins Wasser hinabtauchten. Sie erfuhr, wie sich das Leben als Krümmung von mit Bewusstsein ausgestatteten magnetischen Wirbeln in der Photosphäre eines Sterns gestaltet, dann erforschte sie die Ruinen einer ertrunkenen Stadt im Körper eines aalgleichen Lebewesens, dessen entfernte Vorfahren sie gebaut und später ihre Vergangenheit vergessen hatten. Ihr eigener Körper fühlte sich an wie eine verblasste Erinnerung; in Wirklichkeit war er schon seit langem mit dem Organismus des Schiffs verschmolzen, wodurch ihr Geist die Freiheit gewann, nach Belieben umherzustreifen.

Ein Teil von ihr wäre am liebsten bis in alle Ewigkeit in diesen Welten geblieben, während ein anderer Teil sie beharrlich daran erinnerte, was es hieß, ein Mensch zu sein.

 

Dakota merkte, dass sie von Gespenstern heimgesucht wurde.

Anfangs konnte sie die Geister noch nicht sehen, vage Präsenzen, die sie höchstens als flüchtige Schemen wahrnahm, doch mit der Zeit gewannen sie an Substanz und wirkten immer realer. Sie besaßen die Stimmen und die Gesichter von Menschen, die sie gekannt und geliebt hatte und die ihretwegen sterben mussten. Sie ertappte sich bei der Frage, ob das bedeutete, dass sie den Verstand verlor.

»Siehst du?«, rief eines der Gespenster, das sie durch ein Labyrinth aus Daten verfolgte. Es trug Josefs Antlitz. »Der Schwarm ist nicht nur eine Wolke aus miteinander vernetzten Objekten; sie stellen ein einziges Wesen dar. Wenn wir den Transmissionen lauschen, hören wir die Gedanken dieses Individuums.«

»Verschwinde!«, kreischte sie, weil sie sich vor den Erinnerungen fürchtete, die er in ihr auslöste. Doch selbst als sich Josefs Geist verflüchtigte, vergegenwärtigte sie sich, dass er Recht hatte. Jedes Mitglied dieses Schwarms – jede Komponente – war ein einzelnes Neuron in einem ungeheuer weit verteilten Gehirn. Der Schöpfer war fremdartig in einer Art und Weise, wie sie ihr noch nie zuvor begegnet war; er hatte die Prinzipien der ohne Zeitverlust funktionierenden Kommunikation über Tach-Net-Signale angewandt und so eine neue Form von Maschinenleben geschaffen. Aber dann fiel ihr ein, in was sie sich verwandelt hatte, und sie fragte sich, ob sie wirklich so viel anders war. Ein paar Tage später – jedenfalls nach Zeitmaßstäben, die im äußeren Universum gültig waren – steuerte Dakota das Schiff in ein Rendezvousmanöver mit einer der Schwarmkomponenten. Vorsichtig näherte sie sich an, argwöhnisch, wie das Objekt auf die Anwesenheit ihres Schiffs oder auf das behutsame Sondieren seiner internen Systeme reagieren würde. Als es schien, dass kein Widerstand zu erwarten war, ließ sie die Komponente von ihrem Schiff hereinholen.

Zum ersten Mal seit über einem Jahr formte Dakota ihren physischen Körper wieder aus und schuf an Bord einen Raum für sich und für die soeben geborgene Komponente. Ihr schwarzes Haar fiel ihr tief in die Stirn, und über den dunkelbraunen Augen wölbten sich wieder die dichten schwarzen Brauen.

Die Schwarmkomponente war ungefähr zehn Meter lang; feine Sensoren und neuronale Leitungen verbargen sich unter einer Reihe von robusten Platten, die vom jahrhundertelangen Bombardement durch mikroskopisch kleine Partikel zerschrammt und eingedellt waren. Es handelte sich eindeutig um eine Von-Neumann-Maschine, die imstande war, sich unendlich oft selbst zu replizieren; Isotopen-Messungen und eine Analyse der Außenhülle zeigten, dass das Rohmaterial zu ihrer Konstruktion von Asteroiden und durch den Raum treibenden interstellaren Körpern stammte.

Seit ihrer Ankunft in der Umgebung des Roten Riesen hatte Dakota unterschiedliche Typen von Komponenten ausgemacht. Einige schienen in erster Linie als Relais für Transmissionen innerhalb des Schwarms zu fungieren, während andere ausschließlich Reparaturen an anderen Komponenten ausführten, entweder indem sie Teile herstellten oder ältere Maschinen zerlegten, um neue zu konstruieren. Noch mehr Objekte schienen Scouts zu sein, die weit entfernt vom Hauptkörper agierten, vielleicht um Ressourcen zu lokalisieren. Dakota vermutete, dass die spezielle Komponente, die sie sich zu Studienzwecken ausgesucht hatte, fast am Ende ihrer Nutzungsdauer angelangt war.

Sie bog ihre Finger durch, spürte das halbvergessene Spiel der Muskeln und gewahrte, dass sie Gesellschaft hatte – sie war nicht mehr allein. Ein eiskalter Schauer überlief sie, als der Geist hinter dem blatternarbigen Objekt hervortrat und sie mit ruhigen, grauen Augen betrachtete.

Natürlich war es kein richtiges Gespenst, nur ein Doppelgängers ihres toten Liebhabers, Josef Marados, der kraft ihrer eigenen Erinnerungen eine stoffliche Gestalt angenommen hatte. Vielleicht bediente sich ihr Unterbewusstsein, das immer stärker rebellierte, dieser Methode, um gegen das wachsende Gefühl von Einsamkeit anzukämpfen, das so weit entfernt von zu Hause in ihr aufkeimte.

Zumindest war das die rationale Erklärung.

»Das Ding ist lebendig«, kommentierte er lässig, als greife er den Faden einer Konversation auf. »Das weißt du, nicht wahr? Aber es scheint keine Ahnung zu haben, dass wir hier sind.«

Plötzlich überkam Dakota eine lebhafte Erinnerung an Josefs blutigen Leichnam, der zusammengekrümmt auf dem Boden seines Büros in Mesa Verde gelegen hatte. An seinem Tod trug sie keine Schuld – nicht im eigentlichen Sinne; damals stand sie unter der mörderischen Kontrolle des Fäkalienhändlers, eines Agenten der Shoal. Er hatte fatale Schwachstellen in ihren Maschinenkopf-Implantaten dazu benutzt, sie in seine willenlose Marionette zu verwandeln. Das wusste sie, und dennoch vermochte sie die Schuldgefühle nicht abzuschütteln.

Wenn ich mich so benehme, als sei das Gespenst real, dann kann das nur bedeuten, dass ich tatsächlich verrückt bin.

Sie tat es trotzdem. Sie konnte gar nicht anders.

»Ich … ich glaube, mit etwas Zeit und Mühe könnte ich versuchen, über dieses Objekt mit dem Rest des Schwarms Kontakt aufzunehmen.«

Der Geist lachte und sah sie mit einem halben Lächeln an, welches verriet, dass er sie bis auf den Grund ihrer Seele durchschaute und sehr wohl über ihre Unsicherheit Bescheid wusste. »Zeit«, entgegnete er, »ist vielleicht das Einzige, was du nicht hast.«

Er spielte natürlich auf den Roten Riesen an. Bis zu seinem Tod waren es nur noch Wochen, möglicherweise sogar wenige Tage. Eine neue und gänzlich natürliche Nova würde entstehen, wenn er den Großteil seiner Masse in einer einzigen kataklysmischen Explosion ins All schleuderte. Trotz der offenkundigen Gefahr blieben zig Milliarden der...