Wie viel Musik braucht der Mensch? - Über Oper und Komponisten

von: Hans Neuenfels

Edition Elke Heidenreich, 2009

ISBN: 9783641037161 , 256 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 17,99 EUR

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Wie viel Musik braucht der Mensch? - Über Oper und Komponisten


 

Eine Art Vorwort

In 35 Jahren - von 1974 bis 2009 - habe ich 30 Opern inszeniert. Die erste war Giuseppe Verdis Der Troubadour, die vorläufig letzte Verdis La Traviata nach Macbeth, Aida, Die Macht des Schicksals, Rigoletto, nochmals Der Troubadour und Nabucco. Spät erst, als 57-Jähriger, die Begegnung mit Mozart auf der Bühne: Die Entführung aus dem Serail, Così fan tutte, Don Giovanni, Idomeneo und Die Zauberflöte. Zuvor ein einmaliges Erlebnis mit Richard Wagner Die Meistersinger von Nürnberg, das nach langer Unterbrechung mit Tannhäuser fortgesetzt wurde. Dazwischen große Gegensätze, die Musikwelten von Franz Schreker, Bernd Alois Zimmermann, Ferruccio Busoni, Alexander Zemlinsky, Giacomo Meyerbeer, Johann Strauß, Leos Janäcek, Ludwig van Beethoven, Dimitri Schostakowitsch, Othmar Schoeck. Und vier glückliche Abenteuer mit drei zeitgenössischen Komponisten: mit York Höller Der Meister und Margarita nach Michail Bulgakow - parallel dazu entstand ein Musikfilm Das blinde Ohr der Oper, den ich mit meinem Sohn Benedict, der Kameramann ist, drehte -, mit Adriana Hölszky, deren Oper Die Wände nach Jean Genet ich uraufführte und für die ich ein Libretto nach meinem Text Giuseppe e Sylvia schrieb, sowie mit dem Komponisten Moritz Eggert. Seinem Sing- und Tanzspiel Die Schnecke liegt mein Libretto zugrunde. Schließlich, fast zu nah, Schumann, Schubert und der Schnee, eine Oper aus Liedern der zwei Komponisten, zu deren Librettisten ich mich ebenfalls - verwegenerweise - machte.

Die folgenden Texte entstanden im Vorfeld oder im Umkreis der Inszenierungen, sind eher Beschwörungen, Ablagerungen freigelegter Empfindungsschichten, Auffangbecken der überwältigenden Gefühle. Ich musste etwas tun, um nicht von der Gewalt der Kompositionen fortgeschwemmt zu werden. Ich wollte mitgerissen werden - o ja! -, nur nicht dumpf, bewusstlos, passiv. Ich wollte vor allem die Genüsse aus Irrtümern und Erkenntnissen wiederholen können, um sie neu zu überprüfen und die Musik bis zum Letzten auszukosten. Jedes Libretto hat mich hauptsächlich informativ interessiert. Die Hauptsache ist, sagte ich mir, dass es den Komponisten zur Musik verführt hat. Was liegt hinter den Noten, fragte ich mich, wie ich mich ebenso fragte, was liegt hinter meinem täglichen oder geplanten Tun. Ich suchte ununterbrochen nach möglicher Identifikation, nach unmittelbaren oder verborgenen Verknüpfungen zu den Komponisten und ihrer Musik. Deswegen berücksichtigen die Texte auch nicht die wichtigsten Realisatoren, die Sänger und Dirigenten, nicht die Bühnen- und Kostümbildner und Dramaturgen. Es ist noch nicht soweit. Die Texte umkreisen noch, spüren auf, wärmen sich an, umwerben, hoffen auf Freundschaft, auf Einlass, auf Zusammenarbeit.

HANS NEUENFELS
Berlin, März 2009

Ferruccio Busoni - imago mio

Deine Musik tut mir weh
Sie ist bald Morgen
Gegen den schmalen Rand Utopie
Muss ich blinzeln bis ich denke

Wenn du eine rosa Hyazinthe Auf einen alten Tisch stellst Vor ein Fenster das groß ist Und draußen liegt Schnee Habe ich fast deinen Klang

Deine Musik tut mir weh
Ist kurz vor dem Moment
Bevor der Samen austritt
Aber das Gefühl noch länger danach

Als ich dich in Zürich traf 1917 oder 1919 im Mai oder Europa Und wann wurde ich geboren Ich glaube 1941 sagen die Eltern Deine Musik tut mir weh

Als ich dich in Zürich traf Und Bergson so schweigsam war Und Pfitzner höhnisch wie ein Pfau Das Törtchen Madeleine als Dessert aß Ging Lenin vorbei und grüßte dich

Deine Musik tut mir weh
Gleicher Raum den gleiche Zeit betritt
Die doppelte Identität
Die mich schizophren macht

Wenn der Gruß aufrichtig wird
Die Keuschheit scharf
Und Sympathie kein Schimpfwort mehr
Dann spielt Chaplin mit dir
Vierhändig das humane Klavier

Meine Treffen mit Verdi

1974 inszenierte ich in Nürnberg meine erste Oper, Verdis Der Troubadour. Der Kostüm- und der Bühnenbildner stritten sich über das Aussehen eines Engels, der in der Leonoren-Arie »Der Tod ist mir die größte Lust« genau in der Generalpause auftreten sollte. Es gab einen schlaksigen Statisten mit langen Haaren und Nickelbrille. Ihn in einem weißen knielangen Hemd mit zwei kleinen, gewissermaßen gestutzten Flügeln - so stellte ich mir den Engel vor. Der Kostümbildner protestierte am heftigsten. Die Diskussion dauerte sehr lange. Am nächsten Morgen spürte ich an der linken Kopfseite einen kühlen Schmerz. Vor dem Spiegel entdeckte ich eine ungefähr fünfmarkstückgroße kahle Stelle in meinem Haar. »Verdis Rache« lächelte der Kostümbildner erfreut. Es war eine sogenannte Alopecia areata, ein kreisrunder Haarausfall, mit dem schon der Surrealist Roger Vitrac in seinem Stück Der Coup von Trafalgar seine weibliche Hauptfigur versah. Aber ich war davon überzeugt, dass Verdi sich keinesfalls an mir rächen wollte, und bestand auf meiner Idee. Die Alopecia verschwand. 1981 wiederholte ich den Auftritt des Engels in Die Macht des Schicksals. Die wunderbare Sängerin Julia Varady geriet wegen meines Einfalls völlig aus dem Häuschen. Ich spürte ein heftiges Stechen in der linken Kopfseite, doch nach einigen harten Tagen - würde die Varady singen?, würde die Alopecia ausbrechen? - entschloss sich die Sängerin, Freundschaft mit dem Engel zu schließen. Meine Kopfschmerzen verschwanden, und es wurde ein großer Triumph. Die Anekdoten, die meine Verdi-Inszenierungen begleiteten, umspielen in Verdi einen Mann, der scheinbar dazu nicht den geringsten Anlass bietet, der fast feindlich jeden Einblick in sein Privatleben verwehrte, nie aber aus seinen intimen und gesellschaftlichen Ansichten ein Hehl machte, jede staatliche Belobigung bis auf eine - und das war ein Missverständnis - ablehnte und erst, als seine Verbindung mit der Sängerin Giuseppina Strepponi im Städtchen Busseto zum quälenden Tagesgespräch wurde, mit ihr nach Paris zog, und zwar in die Rue Fontaine-St.-Georges 24, wie die Spitzel berichteten.
Man trifft im Leben, wenn man Glück hat, einige Lebende, die das Leben lebenswert machen. Doch glaube ich, die Zahl der Toten ist ungleich größer. Deswegen habe ich zu der Musik von Adriana Hölszky ein Libretto geschrieben. Giuseppe e Sylvia heißt die Oper, die das Leben der Toten zum Thema hat, wobei mit Giuseppe Giuseppe Verdi gemeint ist.
Dass Verdi mir eines Tages erschienen ist, ist ebenso natürlich, wie anderen Elvis Presley, John Lennon oder die Heilige Jungfrau Maria erscheinen. Aber warum gerade Verdi? Warum zum Beispiel nicht Ferruccio Busoni? Während ich seinen Faust inszenierte, identifizierte ich mich völlig mit dem Komponisten.