Ostpreußen - Geschichte und Mythos

von: Andreas Kossert

Siedler, 2009

ISBN: 9783641032326 , 448 Seiten

Format: ePUB

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Preis: 14,99 EUR

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Ostpreußen - Geschichte und Mythos


 

Wo liegt Preußen?
»Brus«, die Prußen und die Ursprünge Preußens
»Die alte preußische Geschichte ist sagenumwobener als die meisten sagenreichen Urgeschichten. Im Anklang an die gotische Einwanderung von Norden her werden die Brüder König Widewuto und Oberpriester oder Kriwe Pruteno als die ersten Führer bezeichnet, die von Gotland her übers Frische Haff auf Flößen ankamen und in Glück und Segen ihr Volk beherrschten. Sie haben ein Lebensjahrhundert überschritten, als sie bei einer Volksversammlung eichenlaubgeschmückt den Scheiterhaufen an der heiligen Eiche von Romowe besteigen. Brüderlich vereint, nach Ermahnungen ans Volk, ein Loblied den Göttern singend, scheiden sie unter Blitz und Donner im Feuer ab, nachdem die 12 Söhne Widewuts die 12 Gaue in Besitz genommen hatten. Damit soll wohl die glückliche Zeit vor der Zersplitterung in Gaue … angedeutet werden.«1
Diese wunderbare Geschichte von den Prußen und ihrem sagenhaften König Waidewuth, die jedoch keinesfalls gesichert ist, hat der Volkskundler Franz Tetzner aufgeschrieben. Preußens Ursprünge sind von Mythen umrankt. Diese Zeit vor der Landnahme durch den Deutschen Orden im Jahr 1225 ist für den Historiker zumeist in wenigen Sätzen abgehandelt. Erst danach läßt sich am südöstlichen Ostseerand das Geschehene anhand historischer Quellen rekonstruieren. Damit tritt Preußen in den abendländischen Kulturkreis ein.
Ist Ostpreußen das Land der Prußen, Litauer, Polen, Russen oder Deutschen? Kaum waren die Geister des Nationalismus erwacht, erhoben die Nationen Ansprüche auf die Region zwischen Weichsel und Memel. Darüber gerieten die ursprünglichen Bewohner, die Prußen, beinahe in Vergessenheit. Deutsche und polnische, zum Teil auch litauische Wissenschaftler lieferten sich erbitterte Kontroversen und ließen die Geschichte dieses Landes willkürlich dort beginnen, wo es in die eigene ideologische Konzeption paßte. Es ist dem Historiker Hartmut Boockmann beizupflichten, der die Geschichte Ostpreußens mit den Prußen beginnen läßt, weil die »Kontinuität des Wissens der Landesbewohner von ihrer eigenen Vergangenheit jahrhundertelang nicht hinter die Prußen zurückreichte«.2 Es ist nicht leicht, sich den alten Preußen, den Prußen, objektiv zu nähern, weil das wenige, was von ihnen überliefert ist, oft bis zur Unkenntlichkeit im nationalen Sinne manipuliert ist.
Der Name Ostpreußen geht auf die Prußen zurück, die hier einst lebten. Die Ursprünge Preußens, das gemeinhin für preußisch-deutschen Untertanengeist steht, könnten kaum nichtdeutscher sein, denn die Prußen zählten zu den baltischen Völkern. Sie sind bereits – wenn auch schwerlich konkret geographisch nachweisbar – bei Tacitus und Ptolemäus bezeugt. Bekanntheit über die Region hinaus erlangten sie durch ihren größten Reichtum: den Bernstein. Dieses »ostpreußische Gold«, weltweit nur in Ostpreußen im Tagebau gefördert, gelangte über die Bernsteinstraße in den Mittelmeerraum, wo es reißenden Absatz fand. Die Geschichte des Bernsteins – im Prußischen heißt Bernstein gintar, im Litauischen gintaras, im Polnischen bursztyn und im Russischen jantar – beginnt mit einer schönen Sage aus der griechischen Götterwelt: »Phaeton, der Sohn des Helios, hatte sich von seinem zunächst widerstrebenden Vater die Erlaubnis erwirkt, auch einmal die feurigen Rosse des Sonnenwagens lenken zu dürfen. Seine Kraft erwies sich aber als zu schwach; der Wagen kam aus seiner Bahn und steckte Himmel und Erde in Brand. Vom Blitz des erzürnten Jupiter getroffen, stürzte Phaeton in die Fluten des Eridanos. Tiefe Trauer um Phaeton erfüllte seine Schwestern, ›die Heliaden‹, die das Mitleid der Götter zu Pappeln an den Ufern des Flusses verwandelte; aber noch in dieser Gestalt weinten sie Tränen, die sich zu dem ›Electron‹ verhärteten.«3
Man gewann den Bernstein im Laufe der Zeit auf verschiedene Weise: durch Schöpfen, Stechen und Baggern, aber auch durch die Bernsteingräberei. Das staatliche Bernsteinregal garantierte später dem Orden und den preußischen Folgestaaten sichere Einkünfte. Verstöße wurden streng geahndet. Im Samland stand für lange Zeit auf unberechtigtes Bernsteinlesen die Todesstrafe.
Bevor der Orden seine Herrschaft im Land der Prußen aufrichtete, hatte man westlich der Elbe nur vage Vorstellungen von dieser Region. Als erster erwähnte der sogenannte Bayerische Geograph das Volk der Prußen (Bruzi), der ihnen das gesamte Land zwischen Weichsel und Memel als Siedlungsgebiet zuschrieb.4 Das war Mitte des 9. Jahrhunderts. Ein weiterer Hinweis stammt aus einem Bericht des jüdischen Reisenden Ibrahim ibn Ja’qub, der während der Regentschaft Kaiser Ottos I. im Jahre 965 oder 966 nach Magdeburg gelangte und dort über die – von ihm selbst aber nicht bereisten – östlicher gelegenen Regionen »Brus« berichtete.
Die Bernsteingewinnung an der Küste des Samlands hatte eine lange Tradition und reichte bis in die prußische Zeit zurück. Dieser frühneuzeitliche Holzschnitt eines unbekanntenKünstlers von 1662 zeigt Bernsteinfischer bei ihrer mühsamenArbeit. Das Gold der Ostsee war über Jahrtausende ein Exportschlager. Es gelangte bereits in der Antike in den Mittelmeerraum,wo eine griechische Sage von seiner Entstehung erzählte. Der auf der Kurischen Nehrung geborene preußischeBaltist Ludwig Rhesa griff diese Sage in seinem »Lied der Bernsteinfischer« auf:
Weise sagen: Heliaden
Weinten einst im goldnen Hain
Um den Bruder an Gestaden,
Und die Träne ward zu Stein.
Unklar ist die Bedeutung des Wortes Preußen (Prußen, Prusai). Einiger Forscher schließen auf einen Beinamen (prausti – waschen, prusna – Maul) oder eine Tätigkeitsbezeichnung (Pferdezüchter, im Kaschubischen bedeutet prus Hengst). Von den einzelnen prußischen Stammesnamen, die gleichzeitig als Territorialbezeichnungen dienten, seien erwähnt: Pomesanien (von Pamedian – »Vorwaldland«) und Pogesanien (Pagudian – »mit Pflanzen bewachsenes Land«). Das benachbarte Ermland (Warmien) könnte seinen Namen von dem Begriff warmai (Hummel – für diese Annahme spricht aber nicht viel) oder vom Adjektiv wormyan, wurman (rot in der Bedeutung »rotes Land«) herleiten.5
Erste Berichte über direkte Kontakte mit den Prußen stammen aus der Zeit der ersten Jahrtausendwende. Im Zuge der Missionspolitik Kaiser Ottos III. richtete sich damals das Augenmerk der Christen zunehmend auf die östlich des Reiches gelegenen Gebiete. Missionsreisen waren also durchaus keine Unternehmungen religiöser Einzelgänger, sondern standen im Kontext der päpstlichen und königlichen Politik. Die Missionierung der Prußen ist mit dem Namen Adalbert von Prag (tschechisch Vojtěch, polnisch Wojciech, ungarisch Béla) verbunden. Der aus altböhmischem Adel stammende Bischof von Prag konnte schon auf die erfolgreiche Missionierung der Ungarn zurückblicken, als er im Jahre 996 auf Kaiser Otto III. traf. Mit dessen Unterstützung begab er sich in das Land der Prußen, wo er 997 den Märtyrertod starb. Ludwig von Baczko, der Chronist Preußens, hat dazu 1792 in seiner »Geschichte Preußens« geschrieben:
»Dies war... Adalberts Schicksal. Er ging in Begleitung seines Bruders Gaudentius und Benedicts, eines Mönches, von Danzig über das frische Haff, entließ seine polnischen Begleiter, wurde anfänglich von den gastfreyen Preußen liebreich aufgenommen, nachher verjagt, und aus unangezeigten Gründen, wahrscheinlich wegen eines unerwarteten Unglücksfalls, holten ihn die Preußen aus einem Orte, den er früh verlassen, Nachmittags ein, banden ihn, und ein Siggo, oder Pfaffe, durchbohrte ihn mit einem Spieße. Als Tag seines Todes wird der 24. [sic!] April 997 angegeben. Der Ort bleibt unsicher. Nach Ankunft des Ordens wurde St. Albrecht bey Tenkitten, ohnweit Fischhausen, zwischen der Ostsee und dem frischen Haffe gelegen, als die Stelle angegeben, wo Adalbert den Märtyrertod litt.«6
Der polnische König Bolesław I. Chrobry sorgte unverzüglich für die Überführung des Leichnams nach Gnesen. Dorthin reiste Kaiser Otto III. im Jahr 1000, um an der Beisetzung Adalberts teilzunehmen. Schon bald erfolgte dessen Kanonisierung. Adalbert stieg zum polnischen Nationalheiligen auf. Diese Verehrung stärkte Gnesens Bedeutung als erstes selbständiges römisches Erzbistum in Polen. Die Christianitas weihte dem Märtyrer Adalbert großartige Kirchen. Neben dem Dom von Gnesen und dem Veitsdom zu Prag wurde ihm – durch König Stephan von Ungarn – der Dom zu Esztergom (Gran) gewidmet; Reliquien des Heiligen befinden sich unter anderem in der Aachener Stiftskirche Sankt Adalbert sowie in San Bartolomeo zu Rom, wo er sich einige Zeit aufhielt. In einer Heiligenvita hatte Gerbert von Aurillac, der spätere Papst Sylvester II., um 998/999 im Schlußvers geschrieben:
Bischof Adalbert litt die...