Global Impact - Der neue Weg zur globalen Verantwortung. Ein Bericht an die Global Marshall Plan Initiative

von: Franz Josef Radermacher, Marianne Obermüller, Peter Spiegel

Carl Hanser Fachbuchverlag, 2009

ISBN: 9783446422056 , 298 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: DRM

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Preis: 15,99 EUR

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Global Impact - Der neue Weg zur globalen Verantwortung. Ein Bericht an die Global Marshall Plan Initiative


 

Kapitel 1 Wendezeichen in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft (S. 17)

Peter Spiegel

Jede Wende beginnt in den Köpfen der Menschen. Wenn wir beispielsweise in einer Diktatur leben, werden wir diese nicht überwinden können, solange wir im Glauben sind, diese Diktatur nicht überwinden zu können. Solange dieses Denkmuster unser Verhalten bestimmt, wird die Diktatur fortbestehen. Die Entwicklungslinien bestimmter Denkmuster setzen sich so lange fort, bis die sie stabilisierenden Denkkonstrukte in ausreichendem Maße infrage gestellt und verändert werden.

Selbst wenn ein Denkmuster, wie beispielsweise der Glaube an die Notwendigkeit von Lobbyismus in einer Demokratie, längst nicht mehr die ursprünglich erhofften positiven Folgen zeitigt, führt uns das dadurch hervorgerufene wachsende Leiden, beispielsweise als Folge der lähmenden Macht einzelner Partikularinteressen, noch lange nicht zum Umdenken. Not kann unser Denken wenden, muss aber nicht, zumindest nicht schnell. Es hängt von uns ab, wann wir eine schlicht sinnvolle oder selbst eine überlebensnotwendige Wende in unserem Denken vollziehen.

Erkennen wir die Gefahren einer nationalsozialistischen Ideologie in ihren Anfängen oder erst nach einem Weltkrieg mit fast 60 Millionen Toten? Wenden wir uns von einem giergetriebenen Weltfinanzsystem ab, wenn kluge Köpfe vor dessen inneren Widersprüchen klar und deutlich warnen, oder erst nach einem globalen Zusammenbruch?

Nutzen wir die Chancen der Kleinkreditidee zur systematischen Beseitigung der Armut in den nächsten Jahren oder warten wir auf einen globalen Aufstand der Armen, wie auch immer dieser dann aussehen mag? Weder schützt uns der Zusammenbruch des Nationalsozialismus vor einer möglichen Wiedererstarkung derartiger Ideologien noch bewahrt uns der Lernprozess der gegenwärtigen Weltfinanzkrise davor, sehr ähnliche Fehler noch einmal zu begehen, bis uns eine nächste, möglicherweise noch weit größere Wirtschaftskrise endlich zu einer gründlicheren Denkwende aufweckt.

Und was nützt eine noch so offensichtliche Chance auf ein soziales Weltwirtschaftswunder, das Armut endlich in die Geschichtsbücher verbannen kann, wenn wir unseren Blick nicht auf diese Chance wenden? Der leider weitgehend vergessene deutsche Philosoph Hans Vaihinger schrieb vor fast 100 Jahren das Buch Die Philosophie des Als Ob.

Er erläuterte darin, wie der Mensch nur über Gedankenkonstrukte den Versuch einer Einschätzung der Zusammenhänge im Leben unternehmen kann. Menschliches Denken kann Wirklichkeit grundsätzlich nicht „an sich" erkennen. Die Wahrheit der Wirklichkeit bleibt ihm immer verschlossen. Er kann sich der Wirklichkeit nur via Erklärungsversuche nähern.

Er kann nur so tun, „als ob" die Wirklichkeit so funktioniert wie ein Gedanke, den er an sie anlegt, beziehungsweise eine Theorie, die er zu ihrer Erklärung entwickelt. Jeder Gedanke legt, wie ein Lichtkegel, bestimmte Wirkweisen der Wirklichkeit frei, andere bleiben im Dunkel. Vaihinger nennt dies „nützliche Fiktionen".

Die Vorstellung, die Erde sei eine Scheibe, führte dazu, dass der Mensch mit der Wirklichkeit der Erde so umging, als ob diese eine Scheibe sei. Diese Vorstellung war in der Tat eine nützliche Fiktion, und sie erlaubte dem Menschen einen großen Wirkradius im Umgang mit ihr.

Die Vorstellung der Erde als Kugel veränderte den Wirkradius menschlichen Agierens jedoch deutlich. Sie war eine eindeutig nützlichere Fiktion, eine Vorstellung, die es den Europäern entscheidend ermöglichte, zahlreiche „neue" Kontinente zu entdecken.

Folgt man dem Denken von Hans Vaihinger, dessen Thesen im Kapitel zur Kompetenzenbildung noch näher erläutert werden, so erweist sich die Fiktion der Veränderbarkeit von Zuständen, mit denen wir nicht zufrieden sind, als die grundsätzlich überlegene Fiktion gegenüber allen Vorstellungen, die – mit welchen Begründungen auch immer – davon ausgehen, eine bestimmte Wirklichkeit sei nicht überwindbar.