Meditieren mit Leib und Seele - Neue Wege der Gotteserfahrung

von: Anthony de Mello

Butzon & Bercker GmbH, 2012

ISBN: 9783766641809 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Meditieren mit Leib und Seele - Neue Wege der Gotteserfahrung


 

Fantasieübungen

 

Übung 15  Dort und hier

Unsere Fantasie enthält eine ungeahnte, ungenützte Kraft. Das will ich euch mit Hilfe eines Experiments zeigen, bevor ich erkläre, wie man sie bei der Meditation gebrauchen kann.

Schließe die Augen. Nimm eine entspannte Haltung ein. Beruhige dich eine Weile mit einer Wahrnehmungsübung. Wer mit seiner Fantasie und Vorstellungskraft arbeiten will, muss zunächst ruhig, gelöst und friedlich sein.

Ziehe dich nun in deiner Fantasie an einen Ort zurück, an dem du früher einmal glücklich gewesen bist ... Nachdem du den Ort gewählt hast, bemühe dich eine Weile darum, dich an jede Einzelheit zu erinnern ... Gebrauche in deiner Fantasie alle deine Sinne, damit du die Gegenstände und Farben an jenem Ort siehst, jeden Laut wieder hörst, alles berühren, schmecken und riechen kannst, soweit wie möglich, bis der ganze Ort in lebendiger Gegenwart vor dir steht ...

Was tust du? ...Was fühlst du? ...

Nachdem du etwa fünf Minuten lang an jenem vorgestellten Ort geweilt hast, kehre zur Wirklichkeit zurück, zu deiner Anwesenheit in diesem Zimmer ... Bemerke so viele Einzelheiten deiner Situation wie möglich ... Beobachte besonders, was du fühlst ... Verweile dabei etwa drei Minuten ...

Kehre nun zu dem Ort, an den du dich in deiner Fantasie zurückgezogen hast, zurück ... Was fühlst du jetzt? ... Erkennst du einen Unterschied zu früher, was den Ort oder dein Gefühl betrifft? ...

Kehre wieder zu diesem Zimmer zurück ... und wechsele hin und her zwischen dem vorgestellten Ort und diesem Zimmer und bemerke jedes Mal, was du fühlst und ob sich dein Gefühl verändert hat ...

Nach einigen Minuten ӧffne deine Augen und beende dieses Experiment. Wenn du willst, teile der Gruppe deine Erfahrungen mit.

Die meisten Gruppenteilnehmer berichten mir, sie habe diese Übung erfrischt und gestärkt. In ihrer Vorstellung kehren sie zu einem Ort zurück, an dem sie früher einmal Liebe und Freude oder tiefen Frieden und Schweigen erfahren haben. Wenn sie sich dieses Erlebnis vorstellen, erfahren sie auch wieder die Gefühle, die sie ursprünglich gehabt haben.

Die Rückkehr zu dem Zimmer, in dem sie sitzen, erweist sich oft als schmerzlich. Doch während sie zwischen jenem Ort und der Gegenwart hin und her wechseln, bringen sie von jenem Ort ihrer Vorstellung eine Menge jener positiven Gefühle, die sie dort erfahren haben, mit in die Gegenwart. Sie kehren erfrischt und gestärkt von dem Ort ihrer Vorstellung zurück. Und es ist merkwürdig, aber wahr, dass sich ihre Wahrnehmung von der gegenwärtigen Wirklichkeit geschӓrft hat. Die Fantasie ist keineswegs eine Flucht aus der Wirklichkeit, wie manche Leute befürchten; im Gegenteil, ihr Rückzug in die vorgestellte Wirklichkeit hilft ihnen, der gegenwärtigen Wirklichkeit mutiger gegenüberzutreten. Sie erfassen sie genauer und setzen sich mit ihr mit erneuter Kraft auseinander.

Wenn du dich das nächste Mal müde und gelangweilt fühlst, dann versuche dieses Experiment und beobachte die Wirkung. Vielleicht hast du bisher selten deine Vorstellungskraft benutzt und hast zunächst Schwierigkeiten, dir etwas lebhaft vorzustellen, und deshalb brauchst du Übung, bevor du die volle Wirkung spürst. Doch wenn du geduldig weiterübst, wirst du letzten Endes Erfolg haben.

Pass auf, dass du wirklich deine Fantasie einsetzt und nicht bloß die Szene oder das Ereignis in die Erinnerung zurückrufst. Der Unterschied zwischen Fantasie und Erinnerung ist, dass ich in der Fantasie das erinnerte Ereignis tatsächlich neu durchlebe. Ich bin mir meiner gegenwärtigen Umgebung nicht mehr bewusst. Meine Gedanken, mein Bewusstsein sind ganz von jenem Ort der Vorstellung beansprucht.Wenn ich mir zum Beispiel eine Szene am Meeresstrand vorstelle, höre ich wieder das Tosen der Wellen, spüre ich wieder die Sonne, wie sie auf meinem nackten Rücken brennt, ich spüre den heißen Sand unter meinen Füßen und auf diese Weise erfahre ich noch einmal sämtliche Gefühle, die ich hatte, als sich jene Szene zum ersten Mal zutrug.

Früher hätte ich mich mit der Behauptung meiner Exerzitanten: „Ich kann nicht mit meiner Fantasie beten. Ich habe eine sehr schwache Vorstellungskraft“ zufriedengegeben. Und ich würde ihnen geraten haben, eine andere Gebetsweise zu wählen. Heute bin ich davon überzeugt, dass jeder mit ein wenig Übung seine Vorstellungskraft und Fantasie entwickeln und auf diese Weise unermesslichen emotionalen und spirituellen Reichtum erwerben kann.

Wenn du glaubst, dass du deine Fantasie überhaupt nicht gebrauchen kannst, dann versuche es einmal so: Blicke eine Zeit lang einen bestimmten Gegenstand vor dir an. Schließe dann die Augen und versuche, dir diesen Gegenstand vorzustellen. Wie viele Einzelheiten kannst du sehen? Ӧffne dann die Augen, blicke den Gegenstand an und stelle fest, was du in deiner Vorstellung vergessen hast. Schließe die Augen wieder und überprüfe, wie viele Einzelheiten du jetzt in der Vorstellung siehst, wie deutlich du sie erkennen kannst ... ӓhnliches kannst du mit deinem Hörvermögen versuchen: Spiele ein paar Takte Musik von einem Tonband ab, höre dann in deiner Vorstellung die Musik noch einmal. Dann spiele die Musik noch einmal und überprüfe, was du vergessen hast. Auf diese Weise kannst du allmählich dein Vorstellungsvermögen entwickeln.

Wir wollen nun das Experiment, das ich zu Anfang gemacht habe, in die spirituelle Dimension heben, damit du daraus auch spirituellen Nutzen gewinnst.

Schließe die Augen und komme zur Ruhe ...

Kehre in deiner Vorstellung zu einem Ort zurück, an dem du früher einmal Gott erfahren hast ...

Folge den Anweisungen, die ich anfangs bei dem Experiment gegeben habe ...Wechsele zwischen dem Ort der Vorstellung und der Wirklichkeit hin und her ...Versuche, ein wenig von dieser geistigen Erfahrung und der geistigen Kraft, die du damals empfangen hast, zurückzugewinnen.

Um mit Erfolg die Kraft deiner Fantasie zu gebrauchen und aus diesen Übungen den größtmöglichen Gewinn zu ziehen, musst du im Zustand tiefer innerer Einsamkeit sein. Dann werden deine Vorstellungsbilder lebendig. Sie sollten idealerweise beinahe so lebendig sein wie die Wirklichkeit der Sinneswahrnehmungen.

Du brauchst nicht zu befürchten, dass dich diese Übungen zu einem weltflüchtigen, tagträumerischen Menschen machen. Tagträume werden erst gefährlich, wenn der Träumer nicht zwischen der Wirklichkeit der Sinneswahrnehmungen und der seiner Vorstellungswelt unterscheiden kann oder wenn er nicht die Kraft hat, seine Träume abzuschalten, wenn er will. Doch wer diese Kraft besitzt, kann ohne Furcht diese Übungen machen.

 

Übung 16  Der Ort des Gebets

Eine der besten Hilfen für unser Gebet ist eine Umgebung, die das Gebet fürdert. Oben habe ich von Orten gesprochen, die gute „Schwingungen“ haben. Du wirst auch entdeckt haben, wie viel dir etwa ein schöner Sonnenauf- oder -untergang in deiner Sammlung und in deinem Gebet helfen. Oder das Glitzern der Sterne am schwarzen Nachthimmel. Oder der Mond, der hell durch die Bӓume scheint. Eine natürliche Umgebung fürdert fast immer das Gebet. Manche ziehen den Meeresstrand vor mit dem Tosen der Wellen, die gegen den Sand schlagen, andere einen ruhig strömenden Fluss, die stille, schöne Umgebung eines Sees oder den Frieden eines Berggipfels. Ist dir schon aufgefallen, dass sogar Jesus, der ein Meister des Gebets war, sich die Mühe machte, auf einen Berg zu steigen, um zu beten? Wie alle großen Kontemplativen war er sich bewusst, dass der Ort, an dem wir beten, die Tiefe unseres Gebets mitbestimmt.

Leider leben die meisten von uns in einer Umgebung, die uns von der Natur abschneidet, und die Orte, die wir für unser Gebet aufsuchen müssen, sind eintönig und machen es uns keineswegs leichter, den Geist zu Gott zu erheben. Umso notwendiger ist es, Orte, die das Gebet fürdern, ausgiebig und liebevoll zu nutzen, wenn wir die Gelegenheit dazu haben. Lass dir Zeit, nimm die AtmospHöre tief in dich auf, wenn du den nächtlichen Sternenhimmel betrachtest, am Meer sitzt oder auf einem Berggipfel stehst. Diese Erfahrungen kannst du tief in deinem Herzen tragen, und selbst wenn du weit von diesen Orten entfernt bist, wirst du in deiner Vorstellung dahin zurückkehren können.

Du kannst es sofort versuchen:

Komme zunächst zur Ruhe, dann besuche in deiner Vorstellung einen Ort, der wahrscheinlich dein Gebet fürdern wird: einen Meeresstrand, ein Flussufer, einen Berggipfel, eine ruhige Kirche, einen Balkon, von dem du auf den nächtlichen Sternenhimmel blicken kannst, einen Garten, der vom Mondlicht überflutet ist ...

Stelle dir den Ort so lebhaft wie möglich vor ... Alle Farben ... Höre alle Geräusche (die Wellen, den Wind in den Bӓumen, die Insekten in der Nacht) ...

Hebe nun dein Herz zu Gott und sprich mit ihm.

Wer die Exerzitien des heiligen Ignatius von Loyola kennt, wird sich an die Methode der „Zurichtung des Schauplatzes“2 erinnern. Ignatius empfiehlt, dass wir den Schauplatz jener Szene, über die wir meditieren wollen, neu zurichten. Im spanischen Originaltext spricht er allerdings nicht von einer „Zurichtung des Schauplatzes“, sondern von „Zurichtung angesichts des Schauplatzes“. Mit anderen Worten, nicht der Schauplatz soll zugerichtet werden, sondern du selbst sollst dich „zurichten“, wenn du den Schauplatz in der Vorstellung siehst. Wenn du die letzte Übung mit Erfolg gemacht hast, wirst du wissen, wovon Ignatius spricht. Dann wird sich in deinem Herzen ein Ort des Friedens auftun, an den du dich immer zurückziehen kannst, wenn du Stille und Einsamkeit brauchst, selbst wenn du gerade auf dem Marktplatz stehst oder in einem vollen Zug...