Die Bestimmung - Auftakt der spannenden Fantasy-Dystopie

von: Veronica Roth

cbj Kinder- & Jugendbücher, 2012

ISBN: 9783641075026 , 496 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Bestimmung - Auftakt der spannenden Fantasy-Dystopie


 

1. Kapitel

In unserem Haus gibt es nur einen einzigen Spiegel. Er befindet sich hinter einer Schiebetür im Flur des oberen Stockwerks. Meine Fraktion gestattet es mir, jeweils am zweiten Tag eines jeden dritten Monats davorzustehen, immer dann, wenn meine Mutter mir die Haare schneidet.

Ich sitze auf dem Stuhl, meine Mutter steht mit der Schere hinter mir, meine Haare fallen als matter blonder Kreis um mich herum auf den Boden. Als sie fertig ist, streicht sie meine Haare nach hinten und bindet sie zu einem Knoten. Ich bemerke, wie ruhig und konzentriert sie ist. Meine Mutter beherrscht die Kunst, sich selbst zu verleugnen. Von mir kann ich das nicht behaupten.

Als sie gerade mal nicht hinsieht, wage ich einen verstohlenen Blick auf mein Spiegelbild – nicht aus Eitelkeit, sondern aus Neugier. Innerhalb von drei Monaten kann man sich ziemlich verändern. Ein schmales Gesicht, große, runde Augen und eine lange, dünne Nase … ich sehe immer noch aus wie ein kleines Mädchen, dabei bin ich irgendwann in den letzten Monaten sechzehn geworden. Die anderen Fraktionen feiern Geburtstage, wir nicht. Das wäre selbstsüchtig.

»Fertig«, sagt Mutter, als der Knoten sitzt. Unsere Blicke treffen sich im Spiegel. Zum Wegschauen ist es zu spät, aber statt mit mir zu schimpfen, lächelt sie mein Spiegelbild an und ich antworte ihr mit einem Stirnrunzeln. Wieso tadelt sie mich nicht?

»Heute ist also der große Tag«, sagt sie.

»Ja.«

»Bist du aufgeregt?«

Ich schaue mir selbst im Spiegel in die Augen. Heute findet der Eignungstest statt. Er wird Klarheit schaffen, zu welcher der fünf Fraktionen ich gehöre. Und morgen, bei der Zeremonie der Bestimmung, werde ich mich bewusst für eine dieser fünf Fraktionen entscheiden. Es wird eine Entscheidung fürs Leben sein. Ich werde wählen, ob ich bei meiner Familie bleibe oder ob ich sie für immer verlasse.

»Nein«, sage ich, »der Test darf unsere Entscheidung schließlich nicht beeinflussen.«

»Das stimmt«, erwidert meine Mutter lächelnd. »Und jetzt lass uns frühstücken.«

»Danke, dass du mir die Haare geschnitten hast.«

Sie küsst mich auf die Wange und zieht die Schiebetür vor den Spiegel. Wenn sie in einer anderen Welt lebte, würde man meine Mutter als hübsch bezeichnen. Unter ihrer grauen Kleidung ist sie schlank, ihre Wangenknochen sind hoch und ihre Wimpern lang, und wenn sie nachts ihr Haar offen trägt, fällt es lockig über die Schultern. Aber bei den Altruan, der Fraktion der Selbstlosen, die Entsagung geschworen hat, ist sie gezwungen, ihre Schönheit zu verstecken.

Gemeinsam gehen wir in die Küche. An einem Morgen wie diesem, wenn mein Bruder das Frühstück zubereitet, mein Vater mir beim Zeitunglesen geistesabwesend übers Haar streicht und meine Mutter beim Geschirrabräumen leise vor sich hin summt – an einem Morgen wie diesem fühle ich mich ganz besonders schuldig, dass ich vorhabe, sie im Stich zu lassen.

Im Bus stinkt es nach Abgasen. Ich halte mich an meinem Sitz fest, trotzdem werde ich jedes Mal, wenn wir über unebenes Pflaster fahren, von einer Seite auf die andere geschleudert.

Caleb, mein älterer Bruder, steht im Gang und klammert sich an die Haltestange an der Decke. Wir sehen uns überhaupt nicht ähnlich. Er hat das dunkle Haar und die Hakennase meines Vaters geerbt und die grünen Augen und Wangengrübchen meiner Mutter. Früher sah er damit etwas seltsam aus, aber jetzt steht es ihm gut. Wenn er kein Altruan wäre, würden ihn sämtliche Mädchen der Schule anhimmeln.

Auch den Hang zur Selbstlosigkeit hat er von meiner Mutter geerbt. Seinen Sitzplatz hat er freiwillig einem Candor angeboten. Der Mann trägt einen schwarzen Anzug und eine weiße Krawatte – wie alle Candor. Die Fraktion der Freimütigen schätzt Ehrlichkeit über alles. Die Wahrheit ist für sie schwarzweiß, deshalb kleiden sie sich auch so.

Die Häuser rücken näher aneinander und die Straßen sind nicht mehr ganz so holprig, je mehr wir uns dem Stadtzentrum nähern. Das Gebäude, das früher Sears Tower hieß und das wir jetzt einfach Zentrale nennen, ragt als schwarzer Pfeiler am Horizont aus dem Dunst empor. Die Busse fahren unter den höher gelegenen Bahngleisen hindurch. Ich bin noch nie Zug gefahren, obwohl sie ständig in Betrieb sind und überall Gleise verlaufen. Einzig die Ferox fahren Zug.

Vor fünf Jahren haben freiwillige Bauarbeiter der Altruan einige Straßen neu geteert. Sie fingen in der Stadtmitte an und arbeiteten sich in die Außenbezirke vor, bis ihnen schließlich das Material ausging. Dort, wo ich wohne, sind die Wege immer noch rissig und geflickt und es ist gefährlich, sie zu benutzen. Aber wir haben ja ohnehin kein Auto.

Der Bus rattert und ruckelt die Straße entlang, doch die Miene meines Bruders bleibt sanft und gelassen. Der Ärmel seiner grauen Jacke rutscht zurück, als Caleb nach einer Stange greift, um sich festzuhalten. Unaufhörlich lässt er seinen Blick umherschweifen; er beobachtet die Menschen um uns herum, konzentriert sich ganz auf sie, um sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen. Einem Candor geht Aufrichtigkeit über alles, für einen Altruan steht Selbstlosigkeit an erster Stelle.

Der Bus hält vor der Schule. Ich springe auf und zwänge mich an dem Candor-Mann vorbei. Dabei stolpere ich über seine Füße und kann mich gerade noch an Caleb festhalten. Meine weit geschnittene Hose ist viel zu lang, und besonders graziös war ich noch nie.

Alle Schüler der Stadt sind getrennt nach Unterstufe, Mittelstufe und Oberstufe untergebracht. Unser Oberstufengebäude ist das älteste der drei Schulhäuser. Wie alle anderen Gebäude besteht es ganz aus Glas und Stahl. Vor dem Eingang steht eine hohe Metallskulptur, auf der die Ferox nach Schulschluss herumklettern, wobei sie sich gegenseitig anstacheln, noch ein Stück höher zu steigen. Im letzten Jahr war ich dabei, wie ein Mädchen abgestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat. Ich war diejenige, die sofort losgelaufen ist, um eine Sanitäterin zu holen.

»Heute ist also der Eignungstest«, sage ich laut. Caleb ist nur ein knappes Jahr älter als ich, deshalb sind wir im selben Jahrgang.

Er nickt, während wir durch die Eingangstür gehen. Sofort sind meine Muskeln bis zum Zerreißen gespannt. Alle Sechzehnjährigen wirken heute irgendwie gierig, so als wollten sie diesen Tag in sich aufsaugen. Wahrscheinlich werden wir nach der Zeremonie der Bestimmung nie wieder durch diese Gänge laufen, denn sobald wir uns für eine Fraktion entschieden haben, übernimmt diese Fraktion unsere weitere Ausbildung.

Die Schulstunden dauern heute nur halb so lange wie sonst, sodass wir ein letztes Mal alle Fächer haben, bevor nach dem Mittagessen die Tests stattfinden. Bei dem Gedanken daran beschleunigt sich mein Puls.

»Du machst dir doch keine Sorgen über dein Ergebnis, oder?«, frage ich Caleb.

An der Weggabelung bleiben wir stehen. Caleb wird in die eine Richtung gehen, zum Mathekurs, und ich in die andere, zur Geschichte der Fraktionen.

Er zieht eine Augenbraue hoch. »Du etwa?«

Ich könnte ihm jetzt antworten, dass ich mich schon seit Wochen nervös frage, zu welcher Fraktion ich am besten passen werde – zu den Altruan, den Candor, den Ken, den Amite oder den Ferox? Stattdessen lächle ich und sage: »Nein, eigentlich nicht.«

Auch Caleb lächelt. »Okay … dann mach’s mal gut.«

Nervös auf meiner Unterlippe kauend, trotte ich weiter. Meine Frage hat Caleb nicht beantwortet.

Die Flure sind voller Menschen, aber das Licht, das durch die Fenster fällt, erzeugt den Eindruck von Weite und Raum. Es ist einer der wenigen Orte, an denen Gleichaltrige der verschiedenen Fraktionen aufeinandertreffen. Heute ist die Atmosphäre besonders energiegeladen, eine Art Jahresschluss-Hysterie liegt in der Luft.

Ein Mädchen mit langen Lockenhaaren, das an mir vorbeigeht, ruft laut: »Hey!«, und winkt einem Freund zu, der in einiger Entfernung steht. Irgendjemandes Jackenärmel streift meine Wange. Dann schubst mich ein Junge, er trägt den blauen Pullover der Ken. Ich verliere das Gleichgewicht und falle der Länge nach hin.

»Aus dem Weg, Stiff«, schnauzt er mich an und läuft weiter.

Mit rotem Gesicht stehe ich auf und klopfe mir den Staub von den Kleidern. Einige Schüler sind stehen geblieben, aber geholfen hat mir keiner. Sie glotzen mir bis zum Ende des Gangs nach. Seit Monaten passiert das den Mitgliedern meiner Fraktion. Genauer gesagt, seit die Ken fiese Gerüchte über die Altruan verbreiten. Gerüchte, die sich auf unseren Umgang miteinander in der Schule auswirken. Meine graue Kleidung, der schlichte Haarschnitt, ein bescheidenes Auftreten – das alles soll es mir erleichtern, nicht an mich selbst zu denken. Und auch die anderen sollen nicht an mich denken. Aber genau dadurch werde ich zur Zielscheibe für sie.

Ich bleibe am Fenster des E-Korridors stehen und warte darauf, dass die Ferox auftauchen. Jeden Morgen mache ich das so. Exakt um 7:25 Uhr beweisen die Mitglieder dieser Fraktion ihren Mut, indem sie aus dem fahrenden Zug springen. Mein Vater nennt die Ferox »wilde Teufel«. Sie haben Piercings, Tattoos und tragen Schwarz. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den Zaun zu bewachen, der unsere Stadt umgibt. Wozu dieser Zaun dient, ist mir allerdings nicht wirklich klar.

Eigentlich müsste ich mich über die Ferox wundern. Eigentlich müsste ich mich fragen, was um alles in der Welt Metallringe in der Nase mit Mut – der Tugend, die sie über alles schätzen – zu tun...