Piter - METRO 2033-Universum-Roman

von: Schimun Wrotschek

Heyne, 2012

ISBN: 9783641079291 , 624 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 11,99 EUR

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Piter - METRO 2033-Universum-Roman


 

1 Der Tiger

1

DER TIGER

Iwan zögerte kurz und watete dann bis zur Hüfte ins Wasser. Im ersten Moment hatte er gar nicht das Gefühl, ins Nasse zu steigen, da die schwülwarme Luft des Tunnels von ganz ähnlicher Konsistenz war. Iwan hob sein Sturmgewehr über den Kopf und ging langsam weiter. Der schmale Lichtkegel seiner Lampe wanderte mal über die nackte Tunnelwand, mal über die Reste verrotteter Kabel. Die Wasserfläche vor ihm schien endlos und wirkte bedrohlich. In dieser grünlichen, trüben Brühe verbarg sich etwas. Sie lebte. Iwan spürte, wie sich Tangwedel um seine Hüften schlangen. (War es wirklich Tang?) Seine Hose war bereits durchnässt, und allmählich drang die Kühle des Wassers an seine Haut. Iwan watete weiter. Im Widerschein der Lampe warf seine Kalaschnikow einen verschwommenen Schatten.

Klonk! Iwan erstarrte.

Das kam von irgendwo da vorn.

Er legte das Gewehr über die Schulter und schaltete mit der frei gewordenen Hand die Stirnlampe aus. Klick. Das Licht verlosch. Undurchdringliche Finsternis. Geräusche. Ein Platschen, Schnüffeln, Schmatzen und Kauen. So als würde jemand von messerscharfen Zähnen in Stücke gerissen. Dann wieder Stille.

Am liebsten hätte Iwan seine Lampe wieder eingeschaltet und eine Salve abgefeuert, doch er beherrschte sich und wartete ab.

Ausgerechnet jetzt fielen ihm die Geschichten ein, die man sich über Krokodile in der Kanalisation erzählte. Und über die wilden Tiere, die aus dem Zoo an der Gorkowskaja entlaufen waren. Ruhig bleiben. Die Begegnung mit einem Tiger hätte ihm jetzt gerade noch gefehlt.

Nach einigen Minuten schaltete Iwan die Lampe wieder ein. Das war wie heimkommen. Der Mensch ist ja genügsam. Er kommt auch mal ohne Essen und Wasser aus. Aber ohne Licht legt er sich einfach hin und wartet auf den Tod, als würde die Finsternis ihm jeglichen Lebenswillen rauben. Iwan bewegte den Kopf hin und her. Träge schwappte die grünliche Brühe im engen Lichtkreis der Lampe vor sich hin. In etwa zweihundert Metern Entfernung erblickte er den Ausgang zum Bahnsteig der Primorskaja.

Hoffentlich ist die Leiter noch da, dachte Iwan.

Die wilden Tiere. Das Kuriose daran war, dass man die Gorkowskaja, wo sich der Zoo befand, erst kurz vor der Katastrophe wieder eröffnet hatte. Als es passierte, flüchteten die verängstigten Besucher nach unten in die Metro und niemand kümmerte sich um die Tiere. Was sich dort oben inzwischen abspielte, darum rankten sich die wildesten Gerüchte.

Iwan schüttelte den Kopf. Synchron spukte der Lichtstrahl seiner Stirnlampe durch die Röhre.

Wo habe ich dieses Ding nur gesehen?

Egal, das finden wir schon raus.

Die Stationen der Sankt Petersburger Metro wurden in der Regel auf sogenannten »Anhöhen« errichtet. Deshalb stand das Wasser an der tiefsten Stelle des Tunnels hüfthoch, in unmittelbarer Nähe der Primorskaja dagegen ging es ihm nur bis zum Knöchel. Iwan verlangsamte den Schritt. Die LED flackerte kurz und das Licht wurde schwach.

Super. Die Batterien machen schlapp.

Als er eine einigermaßen trockene Stelle erreicht hatte, holte Iwan sein Feuerzeug heraus und begann, die erste Batterie über der Flamme zu wärmen. Bis sie so heiß war, dass er sie nicht einmal mehr mit dem Handschuh halten konnte. Dann setzte er sie wieder in die Lampe ein und nahm sich die nächste vor. Nach der ganzen Prozedur würden die Batterien noch zwanzig Minuten halten – bis sie wieder auskühlten.

Ein bisschen Ahnung von Physik kann nie schaden.

Früher oder später musste er ohnehin auf Karbid umsteigen. Vor einiger Zeit hatte Iwan zufällig ein Karbidlager entdeckt, das noch aus den Zeiten des Metrobaus stammte. Bestimmt fünfhundert Kilo in Metalltonnen. Karbid ist eine feine Sache, nur leider schwer zu tragen. Dafür macht es das beste Licht. Eine Karbidlampe blendet nicht und erzeugt ein warmes, gleichmäßiges Rundumlicht. Selbst seine geliebte LED-Leuchte konnte, was die Lichtqualität betraf, mit einer gewöhnlichen Karbidlampe nicht mithalten.

Iwan sog zischend die Luft ein, als das Metallgehäuse der Batterie heiß wurde. Er steckte das Feuerzeug weg und setzte die Batterie wieder in die Lampe ein. Erst dann wedelte er mit der Hand. Mist. Jetzt hatte er sich doch tatsächlich die Finger verbrannt.

Immerhin, die LED leuchtete jetzt wieder anständig. Iwan verzog das Gesicht und blies auf seine Hand, ballte sie zur Faust und öffnete sie wieder. Es tat weh – aber egal. Er musste weiter, solange er noch Licht hatte.

Iwan setzte den Helm auf und zog den Riemen an. Mit den versengten Fingern war das gar nicht so einfach. Beeilung jetzt! Seine Schläfen pochten.

Er hatte höchstens zwanzig Minuten. Dann wieder aufwärmen. Mit etwas Glück brachte das noch mal fünfzehn Minuten.

Er musste es schaffen.

Iwan schulterte die Kalaschnikow und stapfte im Laufschritt durchs knöcheltiefe Wasser. Bis zu der Metallplanke, die das Ende des Bahnsteigs markierte, kannte er den Weg gut, danach musste er vorsichtiger sein.

Die ständige Feuchtigkeit setzte den Tunnelwänden zu. Der Putz fiel herab und man musste aufpassen, dass man keine größeren Stücke auf den Schädel bekam. Gut, dass die Entwässerungspumpen der Tunnel noch funktionierten. Das sagte Onkel Jewpat immer, und ihm glaubte Iwan. Es war dieses Raunen in manchen Tunneln. »Hörst du’s?«, pflegte Onkel Jewpat dann zu sagen und hob dabei wichtig den knorrigen Finger.

Endlich. Die Markierung.

Iwan senkte den Kopf und beleuchtete das schwarz-weiße Muster der verrosteten Planke. Wasser tropfte davon herab. Plopp. Plopp. Früher hatte sie als Orientierungsmarke gedient. Wenn man vom Bahnsteig aufs Gleis gefallen war, konnte man sich dahinter in Sicherheit bringen, denn der Zug hielt genau davor.

An dieser Stelle musste auch die Leiter sein. Iwan leuchtete umher. Ah, dort war sie.

Nicht weit von hier hatte er beim letzten Mal dieses Ding gesehen.

Iwan klemmte sich die AKSU unter den Arm und ging bis zum Fuß der Leiter. Bevor er hinaufstieg, reckte er vorsichtig den Kopf und spähte auf den Bahnsteig. Ein schwarzer Fleck huschte durch den Lichtkegel der Lampe. Iwan griff reflexartig zur Waffe – Fehlalarm. Nur eine Ratte. Sogar eine in normaler Größe. Harmlos. In den verlassenen Stationen trieb sich ja alles mögliche Getier herum. Wovon sich die Biester wohl ernährten? Von Algen? Schimmel? Oder von dem Moos, das die Decke der Station überwucherte und an manchen Stellen auf die Säulen und Wände übergriff?

Ein seltsames Moos, übrigens. Am nördlichen Ende des Bahnsteigs hing es in regelrechten Girlanden herab, besonders im rechten Tunnel, dort reichten sie bis zum Wasser hinunter.

Nein, da bringen mich keine zehn Pferde durch.

Nachdem Iwan sich vergewissert hatte, dass auf dem Bahnsteig alles ruhig war, schob er sein Gewehr auf den Rücken und griff in die Sprossen. Unter den Handschuhen blätterte feuchter Rost ab. Alles verkommt. Alles ist vergänglich.

Dabei war diese Station früher bewohnt gewesen. Iwan erinnerte sich: Noch vor nicht allzu langer Zeit hatten unter der gewölbten Decke Natriumlampen gebrannt und die quadratischen, mit grauem Marmor verkleideten Säulen beleuchtet. Zugegeben, die Marmorplatten waren stellenweise abgebrochen und von den Lampen brannte auch nur jede zweite. Dennoch war es eine schöne Station gewesen.

Wenn man am nördlichen Ende die Stufen hinaufging, gelangte man linker Hand zu den drei Rolltreppen. Die hermetischen Tore waren verschlossen – davon hatte sich Iwan überzeugt.

Hier riecht es nach Meer. Aber es ist nicht mehr die angenehme Brise des Finnischen Meerbusens, wie früher, als hier noch Menschen lebten. Es ist der Geruch eines unheilvollen, schwarzen Meeres, in dessen Tiefen riesige graue Fische und grässliche, halb durchsichtige Kreaturen hausen. Eines Meeres, das in der Dunkelheit leuchtet. Tagsüber, wenn die Sonne scheint, traut sich sowieso niemand in die Stadt hinauf. Wer wäre schon so blöd?

Obwohl, es gibt solche Leute. Aber so wie es aussieht, werden sie bald unter die Haube kommen.

Iwan grinste sarkastisch.

Er kletterte über das Gitter und landete auf einer Wartungsrampe. Iwan hatte die Primorskaja schon mehrfach aufgesucht, sowohl in der Zeit, als sie noch bewohnt war, als auch später, nachdem man sie aufgegeben hatte. Wenn er sich recht entsann, musste er noch ein Stück auf dem schmalen Streifen des Bahnsteigs weitergehen und würde dann rechter Hand auf eine Tür stoßen, die zu den Diensträumen der Station führte.

Stopp. Nur nichts überstürzen.

Erste Regel: In der Metro gibt es nichts Beständiges. In kürzester Zeit kann sich alles verändern.

Zweite Regel: Jegliche Veränderung bedeutet Gefahr.

Er blieb auf dem Bahnsteig stehen und bewegte den Kopf hin und her, um die Umgebung auszuleuchten. Im...