Böses Spiel in Friesland - Kriminalroman

von: Theodor J. Reisdorf

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783838710976 , 224 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 5,99 EUR

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Böses Spiel in Friesland - Kriminalroman


 

2


Gregor besuchte mich am Nachmittag des nächsten Tages. Wir tranken Tee und gingen mit Vorfreude auf unsere Finnlandreise die Prospektseiten durch. Auf dem Tisch lag die ausgebreitete Karte. Wir verglichen die Angebote, suchten nach Vor- und Nachteilen der einzelnen Hütten, die uns in kleinen Bildchen, meist in Farbe, die Orientierung erleichtern sollten, und legten uns auf einige Objekte fest. Die Rangordnung glich schließlich einer Bundesligatabelle, denn die Sicherheit, das gewünschte Haus zu bekommen, schrumpfte mit dem Blick auf den Kalender.

Ich nahm die Unterlagen, ging zum Telefon und rief den Reiseveranstalter an. Die »Finnjet« war zu unserem Ferientermin noch nicht ausgebucht, und die Gesellschaft wollte sich bemühen, ein Haus unserer Spitzengruppe für uns zu reservieren.

Als Gregor mich verließ – er hatte noch Schreibtischarbeit aufzuholen –, fiel mir flüchtig ein, dass Enno während der fünften und sechsten Stunde den Mathematikunterricht versäumt hatte.

Ich betrat meinen Balkon, blickte lange hinaus und stellte fest, dass die Sonne den letzten Schnee verdampft hatte, während jetzt schwere Wolken von See her über die Stadt zogen.

Mein Blick streifte die Mühle, die als letzte Zeugin unserer hunderttausend Einwohner zählenden Stadt in Erinnerung rief, dass vor mehr als hundert Jahren hier, wo jetzt dichter Verkehr um viergeschossige Wohnhäuser floss, bäuerliches Leben mit weiten Feldern die Landschaft beherrscht hatte.

Meine Gedanken führten mich in die Zeit zurück, in der ich noch selbst Schüler war, und ich sah schemenhaft meinen alten, knochigen Lehrer vor mir, der wegen seiner Glatze den Spitznamen »Heinrich der Kahle« erhalten hatte und als Zugezogener immer wieder darauf aufmerksam machte, dass die Fläche, auf der »eure« Heimatstadt steht, er sagte nie »unsere«, einst eine Sumpf- und Moorwiese gewesen war, als der Preußenkönig vor etwa zweihundertfünfzig Jahren seine Sträflinge und Widersacher in diese Nordseeecke verbannt hatte, damit sie bei dem Versuch, in dem von Sturmfluten bedrohten Land, in dem Schlangen, Mücken und Moore jedes Leben bedrohten, zu überleben, ihm und seinem Volk einen Zugang zu den Meeren schaffen würden.

Von dieser Zeit hatte sich nichts Vorzeigbares mehr in meiner Stadt erhalten. Ich blickte in die Richtung, in der in dreißig Kilometern Luftlinie das Land noch grün war und in dem Elke und Enno in der Nähe eines Hochmoores lebten und im Aufblühen der seit langen Jahren verächtlich angesehenen bäuerlichen Arbeiten ihre Zukunft sahen.

Das erbarmungslose Schrillen des Telefons riss mich aus meinen Gedanken. Ich verließ den Balkon und konzentrierte mich auf unsere Reisepläne. Vielleicht waren die von uns gewünschten Hütten vergeben? Ich langte zum Katalog und nahm das Telefon auf.

Verwundert schluckte ich, denn ich erkannte am Ende des Drahtes die Stimme Ennos. Sein »Hier spricht Enno!« ging mir eiskalt unter die Haut. Was ist los mit ihm?, fragte ich mich. Ich fühlte, wie mein Herz schneller schlug, und fand dafür keine Erklärung. Ich horchte nervös in die Muschel.

»Herr Beruto, es geht um Leben und Tod! Kommen Sie!«

Der Telefonkontakt war abgebrochen. Schwer atmend stand ich in der Diele. Mein Lieblingsschüler Enno war in Gefahr! In welcher? Was bedrohte ihn? Er rief mich! Aber wohin?

Ich blickte auf meine Armbanduhr. Sie zeigte zwei Minuten vor fünf an. Was konnte ich unternehmen?

Elke! Seine Freundin!, dachte ich. Ihr Hof? Wie hatte sie ihn genannt?

Während ich angestrengt nachdachte, spürte ich, dass sich meine Poren wie in der Sauna schlagartig öffneten und mir der Schweiß am ganzen Körper ausbrach.

»Enno! Ich komme!«, flüsterte ich. Aber wohin?

Schlagartig fiel es mir ein. Elke lebte auf dem Fehntjer-Hof, der in der Nähe von Jever am Moor lag. Der Ort hieß Upplewarf.

In Sekundenschnelle entschloss ich mich, die Auskunft anzurufen. Die Polizei konnte ich hinterher immer noch einschalten. Vielleicht brachte Elke Licht in das bedrohliche Dunkel.

Die Zeit ging hin! Die Dame in der Leitung musste suchen und schien meine Hektik zu spüren. Hastig gab sie mir die Vorwahl und die Telefonnummer des Fehntjer-Hofs durch.

Ein Zufall half mir. Elke meldete sich auf Anhieb.

Ich gab den Hilferuf an sie weiter, stürzte sie aber gleichzeitig damit in Panik, als sie schluchzte, und nur »Polizei«, sagte und auflegte.

Keine Hektik!, befahl ich mir, als ich die Nummer der Polizei wählte.

»Polizeistation Stadtmitte«, hörte ich und schrie mehr, als ich sprach: »Enno, ein Schüler, ein Notruf!«

»Moment bitte!«, klang es mir entgegen.

Ich saß hochgradig nervös da, wie ein Läufer in seinem Startloch. Die Finger meiner freien Hand tanzten über den gelben Deckel des Telefonbuches. Es dauerte und dauerte!

»Hören Sie?«, vernahm ich erlöst und horchte. »Kann es sich um die Festnahme eines Schülers handeln, der sich im Zusammenhang mit einer Einbruchsserie verdächtig gemacht hat?«, fragte die Telefonstimme.

Ich schwieg, denn so schnell konnte ich Enno nicht in ein kriminelles Geschehen einordnen.

Die Stimme fuhr fort: »Er befindet sich auf der Polizeistation von Accersum, das liegt bei Upplewarf.«

»So, so«, antwortete ich.

»Kennen Sie sich aus?«, fragte die Telefonstimme.

»Ja«, sagte ich und unterbrach die Verbindung.

Ich hatte mein neues Auto nur selten benutzt. Gregor hatte einen Golf für mich vom Versicherungsgeld gekauft. Immer noch beschlich mich Unsicherheit, wenn ich mich hinter das Steuer setzte.

Ich musste am Rathaus vorbei, die Ausgangsstraße nach Bremen nehmen. An den Ampeln der Bundesstraße bog ich nach Jever ab. Um diese Zeit floss der Verkehr träge. Mich trieb die Angst an, zu spät zu kommen. Der Schock meines Unfalls hielt mich davon ab, gewagte Überholmanöver durchzuführen, mit einem Wagen, mit dem ich noch nicht richtig vertraut war. Mehrmals staute sich der Verkehrsfluss.

In Jever nahm ich die ausgeschilderte Straße nach Upplewarf und fand schweißgebadet im Nachbarort Accersum das kleine, eckige Polizeigebäude. Ich parkte auf dem matschigen Grünstreifen.

Seitlich hinter einem Wassergraben lag ein Garten vor einem buckligen Bauernhaus. Abgerupfte Grünkohlstauden wirkten wie kahle Minibäume. Mein Blick fiel in die kerzengerade Straße, die an einer klobigen Backsteinkirche endete, deren Turm sich im leichten Winkel abgesetzt hatte. Eine Lichtreklame warf rötliches Licht in die aufkommende Dämmerung.

Das Polizeigebäude, ein umfunktioniertes Wohnhaus mit rissigen Altklinkern, lag zurückgezogen wie eine vergessene Landgaststätte vor einem mit Pfützen übersäten Parkplatz. Ich sah den seitlich stehenden, knochigen Baumbestand und blickte auf die Sirene, die wie ein Pilz neben dem Schornstein auf dem verwitterten roten Dach stand. Vor der Eingangstreppe parkte ein Polizeibulli und quer hinter ihm ein Passat in der blau-weißen Farbe. Abseits, vor buschigem Strauchwerk, so als hätte ein Fremder seinen Wagen für einen Spaziergang abgestellt, parkte der Polo, den Elke und Enno auf dem Schulhof vom Schnee befreit hatten. Vor mir prangte das Polizeischild aus Emaille wie eine vergessene Reklame aus früheren Zeiten.

Es regnete nicht, es schneite auch nicht. Nach dem Wetterbericht lagen die Temperaturen etwas über Null. Mir troff der Schweiß von der Stirn, und ein leicht böiger Wind, der in die Straße fiel, erfrischte mich. Der Himmel war bedeckt von grauschwarzen Wolken, die träge nordwestlich zogen.

Ich trat durch die verwitterte Eingangstür. An den Wänden klebten Steckbriefe. Ich ging an ihnen vorbei und näherte mich einem Tresen.

Der junge Polizeibeamte schaute mich neugierig an. Sicher wirkte ich in meinem erregten Zustand auf ihn auffällig, als ich ihn mit gehendem Atem fragte: »Wo ist er?«

Der Beamte trug seine Uniform akkurat, und sein Selbstbewusstsein reizte mich, als ich in sein junges Gesicht sah, das mit Misstrauen gefüllt war. Ich trug meine dicke Felllederjacke, die warm und bequem war, aber sehr unseriös wirkte, wie Erika immer gesagt hatte.

»Na los«, sagte ich, »ich muss zu ihm!«

Der Polizist antwortete gereizt: »Sagen Sie mir endlich, wer Sie sind und wen Sie suchen.«

»Verdammt! Enno, einen Schüler von mir! Er hat mich angerufen!«, schrie ich durch das kleine Dienstzimmer.

Aus dem Gesicht des Beamten wich das Misstrauen und fast kumpelhaft sagte er: »Sie sind Oberstudienrat Beruto?«

Ich nickte und wartete auf die Erlösung meiner Anspannung.

»Wir haben dem Jungen das Telefongespräch gestattet«, informierte mich nun der Polizist hilfsbereit. »Er sitzt tief in der Tinte, Herr Oberstudienrat. Zur Zeit wird er verhört. Kommissar Feenwegen hat den Fall übernommen. Ich führe Sie zu ihm.«

Ich bin in meinem Leben nie über einen hässlicheren Gang marschiert. Der abgestandene Hausgeruch, der Gestank, der aus der Toilette drang, die vom Pilz zerfressenen Seitenwände, die drohende Dunkelheit des Flurs mit abgetretenen, knarrenden Holzbohlen, das alles ließ mich fast in Panik fallen, und es hätte mich nicht gewundert, wenn ich auf Ratten hätte achten müssen.

Wie eine Mausefalle, dachte ich, als ich auf die zerfressenen Türblätter blickte. Auf einem war das kleine Schildchen angeschraubt, das den Raum als »Verhörzimmer« auswies. Am liebsten hätte ich die Tür aus den Angeln gehoben und sie zwischen die modernen Kunstwerke in einem Museum gestellt, und sie hätte bestimmt Anklang gefunden.

Der Polizeimeister griff nach der Klinke und sagte etwas ins Zimmer hinein. Ich verstand nicht, was er sagte, denn ich hatte Enno entdeckt, der bleich hinter einem Schreibtisch saß. Seine...