Blutmusik - Roman - Mit einem Vorwort von Charles Stross

von: Greg Bear

Heyne, 2011

ISBN: 9783641077143 , 432 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Blutmusik - Roman - Mit einem Vorwort von Charles Stross


 

1


La Jolla, Kalifornien

 

Das rechteckige schiefergraue Schild stand inmitten hellgrüner Grasbüschel auf einem niedrigen Hügel. Ringsum wuchsen Schwertlilien. Seitlich davon floss in einem künstlich angelegten Bett aus Zement ein Bach, in dessen trübem Wasser es von Zierkarpfen wimmelte. Auf der Seite des Schildes, die der Straße zugekehrt war, prangte in knallroten Druckbuchstaben der Name GENETRON, darunter der Werbespruch Wo kleine Dinge große Veränderungen bewirken.

Die Labors und Geschäftsräume von Genetron waren rings um einen begrünten Innenhof in einem hufeisenförmigen, schmucklosen Betonbau im Bauhausstil untergebracht. Der Hauptkomplex bestand aus zwei Ebenen, die über im Freien liegende Korridore zugänglich waren. Jenseits des Innenhofs, unmittelbar hinter einem künstlich angelegten Erdhügel, der noch nicht bepflanzt war, stach ein vierstöckiger Kubus mit eingeschwärzten Glasfassaden ins Auge, der mit einem elektrischen Stacheldrahtzaun gesichert war.

Denn Genetron hatte zwei Seiten: einerseits die offenen Labors, in denen an Biochips geforscht wurde, andererseits das düstere Gebäude, wo im Auftrag des Verteidigungsministeriums militärische Nutzungsmöglichkeiten neuer Entwicklungen untersucht wurden.

Doch selbst in den offenen Labors galten strenge Sicherheitsbestimmungen. Alle Angestellten hatten Dienstmarken mit Laserkennung zu tragen, und der Besucherverkehr in den Labors wurde sorgfältig überwacht. Der Geschäftsführung von Genetron – fünf Absolventen der Stanford-Universität hatten das Unternehmen drei Jahre nach Studienabschluss gegründet – war schließlich klar, dass es nicht nur um mögliche Sicherheitslecks im schwarzen Kubus ging, sondern ein weit größeres Risiko in der Industriespionage lag. Dennoch wirkte die Atmosphäre nach außen hin locker. Die Leitung verwendete viel Mühe darauf, die Sicherheitsmaßnahmen unauffällig durchzuführen.

Ein großer Mann mit gebeugten Schultern und wirrem schwarzem Haar wand sich aus einem roten Sportwagen der Marke Volvo und nieste zweimal, ehe er den Mitarbeiterparkplatz überquerte. Mit ihrem frühsommerlichen Pollenflug sorgten die Gräser derzeit dafür, dass die Schleimhäute allergischer Menschen ständig gereizt waren.

Beiläufig begrüßte er Walter, einen Wachmann mittleren Alters, der dennoch drahtig wirkte. Ebenso beiläufig überprüfte Walter die Dienstmarke des Angestellten, indem er sie durch den Laserscanner laufen ließ. »Sie haben letzte Nacht wohl nicht viel Schlaf abbekommen, wie?«, fragte er dabei.

Vergil Ulam schürzte die Lippen und schüttelte den Kopf. »Partys, Walter.« Seine Augen waren gerötet. Außerdem war seine Nase inzwischen stark angeschwollen, da er sie ständig mit dem Taschentuch bearbeitet hatte, das jetzt durchfeuchtet und griffbereit in der Hosentasche steckte.

»Wie arbeitende Menschen wie Sie unter der Woche auch noch Partys feiern können, wird mir ewig ein Rätsel bleiben.«

»Die Damenwelt verlangt’s, Walter«, erwiderte Vergil im Vorbeigehen. Walter grinste und nickte, obwohl er ernsthafte Zweifel daran hegte, dass Vergil in dieser Hinsicht viel erlebte – ob mit oder ohne Partys. Keine Frau gab sich gern mit einem Mann ab, der sich eine Woche lang nicht rasiert hatte, es sei denn, die Maßstäbe waren seit Walters Glanzzeiten merklich gesunken.

Ulam zählte nicht gerade zu den attraktivsten Menschen bei Genetron. Seine riesigen Plattfüße hatten einen Körper von knapp einem Meter neunzig und ein Übergewicht von fünfundzwanzig Pfund zu tragen. Er war zwar erst zweiunddreißig Jahre alt, litt aber bereits unter Rückenschmerzen und zu hohem Blutdruck. Außerdem gelang es ihm nie, sich so gründlich zu rasieren, dass er die bläulichen Schatten loswurde, die an die Clownsmaske des berühmten Emmett Kelly erinnerten.

Auch seine Stimme war kaum dazu geeignet, Sympathie zu wecken: Sie klang rau, leicht kratzend und wurde schnell laut. Zwanzig Jahre Kalifornien hatten seinen texanischen Akzent zwar abgeschliffen, doch wenn er sich ereiferte oder wütend wurde, machte sich seine Herkunft wieder so stark bemerkbar, dass seine Stimme den Ohren der Zuhörer fast wehtat.

Das Einzige, was ihn auszeichnete, waren ungewöhnliche smaragdgrüne Augen, die groß und ausdrucksvoll wirkten und von langen Wimpern beschattet wurden. Allerdings waren diese Augen zwar schön, aber nicht sonderlich leistungsstark: Vergil verbarg sie meistens hinter einer riesigen schwarz gerahmten Brille, denn er war kurzsichtig.

Jeweils zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, eilte er die Treppe hinauf. Seine langen, kräftigen Beine erschütterten die Konstruktion aus Beton und Stahl so sehr, dass ein lauter Widerhall zu hören war. Im zweiten Stock ging er den offenen Korridor entlang, der zur gemeinsamen Betriebsanlage der Forschungsabteilung Biochips führte, kurz Gemeinschaftslabor genannt. Normalerweise überprüfte er morgens als Erstes die Proben in einer der fünf Ultrazentrifugen. Sein jüngster Ansatz hatte sechzig Stunden lang bei einer Geschwindigkeit von zweihunderttausend g rotiert und war jetzt so weit, dass er mit der Analyse beginnen konnte.

Für einen Mann seiner Größe hatte Vergil verblüffend zarte und sensible Hände. Nachdem er den teuren Rotor aus schwarzem Titan aus der Ultrazentrifuge gehoben hatte, schloss er die stählerne Vakuumverriegelung wieder. Gleich darauf legte er den Rotor auf einen Labortisch, kniff die Augen zusammen und befreite nacheinander alle fünf Glasröhren aus den Halterungen, in denen sie unter der pilzförmigen Kappe aufgehängt waren. In jeder Röhre hatten sich deutlich abgegrenzte eierschalfarbene Schichten gebildet.

Hinter dem dicken Brillenrand schnellten Vergils Augenbrauen erst hoch und zogen sich dann zusammen. Als er lächelte, enthüllte er bräunlich gefleckte Zähne – Folge einer Kindheit, in der er regelmäßig Wasser getrunken hatte, das mit natürlichem Fluor angereichert war. Gerade wollte er die Pufferlösung und die unerwünschten Schichten absaugen, da meldete sich das Labortelefon. Also verstaute er die Röhre, die er in Arbeit hatte, in einem Ständer und nahm ab. »Gemeinschaftslabor, Ulam am Apparat.«

»Vergil, ich bin’s, Rita. Hab Sie hereinkommen sehen, aber in Ihrem Labor nicht erreicht …«

»Bin wie üblich in meinem zweiten Zuhause, Rita. Worum geht’s?«

»Sie hatten mich doch gebeten – mir aufgetragen –, Ihnen Bescheid zu sagen, wenn hier ein gewisser Herr auftaucht. Ich meine, er ist jetzt da.«

»Michael Bernard?«

»Ich glaube, er ist es, Vergil. Aber …«

»Bin gleich unten.«

»Vergil …«

Er legte auf und überlegte kurz, wie er mit den Glasröhren verfahren sollte, ließ sie dann aber an Ort und Stelle.

Genetrons kreisförmiger Empfangsbereich, ringsum von Panoramafenstern eingefasst und großzügig mit Schusterpalmen in verchromten Übertöpfen ausgestattet, grenzte an den Ostflügel des Erdgeschosses. Als Vergil von der Laborseite her eintrat, blendete ihn das grelle, weiße Morgenlicht, das schräge Streifen auf den himmelblauen Teppich warf. Während er am Empfangstresen vorbeiging, erhob sich Rita von ihrem Platz.

»Vergil …«

»Danke«, erwiderte er flüchtig und blickte zu dem distinguiert wirkenden grauhaarigen Mann hinüber, der neben der einzigen Couch in der Lobby stand. Zweifellos war das Michael Bernard. Vergil erkannte ihn von Abbildungen wieder. Und vom Titelfoto, das das Time Magazine vor drei Jahren von ihm gebracht hatte. Breit lächelnd, streckte Vergil die Hand aus. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Bernard.«

Zwar erwiderte Bernard den Händedruck, doch er wirkte verunsichert.

In der breiten Doppeltür des schicken Eingangsbüros von Genetron, das hauptsächlich dazu diente, Besucher zu beeindrucken, tauchte Gerald T. Harrison auf, den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt. Hilfe suchend sah Bernard zu ihm hinüber.

»Ich bin sehr froh, dass Sie meine Nachricht erhalten haben«, fuhr Vergil fort, ehe er Harrison bemerkte.

Unverzüglich verabschiedete sich Harrison von seinem Gesprächspartner am Telefon und legte unwirsch auf. »Der Rang eines Vorgesetzten bringt nun mal gewisse Privilegien mit sich, Vergil.« Mit falschem Lächeln baute er sich neben Bernard auf.

»Entschuldigung, aber um welche Nachricht geht’s denn überhaupt?«, fragte Bernard.

»Das hier ist Vergil Ulam, einer unserer Spitzenforscher«, erklärte Harrison in schleimigem Ton. »Wir alle freuen uns sehr über Ihren Besuch, Mr. Bernard. – Vergil, wir reden später über die Sache, die Sie erörtern wollten. «

Vergil hatte Harrison keineswegs um ein Gespräch gebeten. »Alles klar«, erwiderte er, während das alte, wohlbekannte Gefühl an ihm nagte, wieder einmal umgangen, zur Seite gedrängt worden zu sein.

Bernard hatte keine Ahnung, wer er war.

»Später, Vergil«, wiederholte Harrison nachdrücklich.

»Selbstverständlich, alles klar.« Mit einem flehenden Blick zu Bernard hinüber zog er sich zurück, drehte sich um und schlurfte durch die Hintertür hinaus.

»Wer war das?«, erkundigte sich Bernard bei Harrison.

»Ein äußerst ehrgeiziger Bursche. Aber wir haben ihn im Griff.«

 

Harrisons Arbeitszimmer lag zu ebener Erde im westlichen Flügel des Laborgebäudes. Ringsum standen Holzregale, in denen die Bücher ordentlich aufgereiht waren. Hinter dem Schreibtisch befand sich auf Augenhöhe ein Regal mit den allseits bekannten Ringbüchern aus schwarzem Kunststoff – Loseblattsammlungen, die aus dem Cold Spring Harbor Laboratory stammten. Die Reihe darunter barg mehrere Telefonbücher –...