Glücksspielsucht

von: Jörg Petry

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2003

ISBN: 9783840914799 , 124 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 17,99 EUR

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Glücksspielsucht


 

3. Störungstheorien und -modelle (S. 35-36)

Zur Erklärung des pathologischen Glücksspielens liegt keine einheitliche Störungstheorie vor. Alternative Modellvorstellungen betonen (noch einseitig) einzelne Aspekte des Störungsbildes. Geordnet nach der Entstehungsgeschichte sind die wichtigsten das entwicklungspsychopathologische, suchttheoretische und kognitive Modell. Neuere integrative Ansätze können lediglich als abstrakte Übersichts- und Orientierungsschemata angesehen werden.

3.1 Der entwicklungspsychopathologische Ansatz

Die innerhalb der traditionellen Psychiatrie vertretene Unheilbarkeit der Glücksspielsucht (Fischer, 1905) wurde zuerst von der klassischen Psychoanalyse in Frage gestellt. Es bestand jedoch eine deutliche Skepsis bezüglich der Behandlungsmöglichkeiten fort, da es sich nach psychoanalytischer Auffassung bei der Glücksspielsucht um eine frühe Störung handelt, die mit Einschränkungen der Ich-Funktionen verbunden ist und auf Grund einer korrespondierenden Störung der Lust-Unlust-Regulation eine geringe Veränderungsmotivation angenommen wird.

Die tiefenpsychologischen Konzepte über die Glücksspielsucht spiegeln von ihren Anfängen bis heute die theoretische Weiterentwicklung der Psychoanalyse wider. Ursprünglich waren dies triebtheoretische Vorstellungen, wonach es sich um eine Regression auf frühe Stufen der Libidoentwicklung handelt, während aktuell objektpsychologischen Annahmen, die das pathologische Glücksspielverhalten als Selbstheilungsversuch auf dem Hintergrund einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung ansehen, vertreten werden. Danach dient das Glücksspielverhalten dazu, Ich-Defizite, die aus der Frustration des frühkindlichen Bedürfnisses nach elterlicher Zuwendung entstanden sind, zu bewältigen (Schütte, 1987), was jedoch zu einer Störung der Affektregulation und damit süchtigen Impulshandlungen führt (Vent, 1999).

In den Anfängen wurden klinische Einzelfallstudien veröffentlicht, die unterschiedliche tiefenpsychologische Auffassungen über die Glücksspielsucht vertraten. Am bekanntesten ist der Interpretationsversuch des amerikanischen Psychiaters Bergler, der sich auf die Behandlung von mehr als 60 pathologischen Glücksspielern bezieht (Bergler, 1957). Anhand dieser Stichprobe von Karten- und Würfelspielern, Roulettespielern, Pferdewettern und Börsenspielern beschreibt er alle charakteristischen Merkmale des pathologischen Glücksspielens.

Unter Abgrenzung von unproblematischen Formen des Glücksspielens charakterisiert er die Zuspitzung des Glücksspielverhaltens als nicht mehr überwindbare Teufelskreise, die am Ende alle Lebensbereiche zerstörerisch erfassen. Im Mittelpunkt stehen die ausgeprägte Selbstwertproblematik mit einer nach außen gerichteten Fassade von Pseudoaggressivität, der beim Glücksspielen erlebte lustvoll-schmerzhafte Erregungszustand, die Rationalisierungsversuche und magischen Denkweisen als Reaktion auf negative Konsequenzen des Glücksspielens, die ausgeprägten Allmachtsund Gewinnfantasien, verbunden mit einer sozialen Vereinsamung und Entfremdung, die herausragende Bedeutung des Geldes für das Selbstwertgefühl sowie das gleichzeitige Auftreten affektiver und sexueller Störungen oder stoffgebundener Süchte.

Er beschreibt die tragikomische Entwicklung des pathologischen Glücksspielers als ein Verlustgeschäft, in dessen Verlauf aus dem großen Gewinner ein armseliger Einfaltspinsel wird. Bergler führt den negativen Entwicklungsverlauf und die vielfältigen Facetten der Glücksspielproblematik auf einen „psychischen Masochismus" als Kernursache zurück. Dem pathologischen Glücksspieler ist es in seiner Entwicklung nicht gelungen, seine reale Begrenztheit anzuerkennen, so dass unbewusste Größenfantasien fortbestehen. Auf Grund der damit verbundenen Aggressionen gegen die Eltern mit daraus resultierenden Schuldgefühlen besteht eine Tendenz zur Selbstbestrafung in Form des unbewussten Wunsches nach Verlust.

Der lustvoll-schmerzhaft erlebte Erregungszustand beim Glücksspielen erklärt sich aus den lustvoll erlebten aggressiven Größenfantasien auf der einen Seite und der schmerzhaften Erwartung einer gerechten Bestrafung auf der anderen Seite. Bei diesen Annahmen handelt es sich um eine Überinterpretation, die versucht, alle äußeren Erscheinungsformen eindimensional auf eine psychische Tiefenstruktur zurückzuführen, wobei die bewussten Motive wie das Streben nach Erfolg und Gewinn, dieVertreibung von Langeweile, die Bewältigung negativer Gefühle sowie verzerrte Denkmuster und defensive Verhaltensstrategien allein als Symptome eines unbewussten Strebens nach Bestrafung und Verlust begriffen werden.Von Spence (1993) wurde diese Form der Falldarstellung als „Narrative Metapher" analysiert, die in der Sherlock-Holmes-Tradition steht.

Der Therapeut als Meisterdetektiv wird mit einem bizarren und zusammenhanglosen Symptombild konfrontiert, welches ihm von einem verzweifelten und desorientierten Patienten präsentiert wird. Dabei ist der Therapeut in der Situation eines objektiven Beobachters, der in der Lage ist, die einzig mögliche Lösung des Puzzels zu finden, wobei die unvollständige Beweiskette aus den von seiner Autorität getragenen Plausibilitätsüberlegungen geschlossen wird. Im Falle Berglers werden die Fallgeschichten entsprechend immer wieder in Form glaubwürdiger Geschichten über den „unbewussten Wunsch zum Verlieren" präsentiert, so als handele es sich um ein tatsächliches Geschehen, an dessenWahrheitsgehalt nicht zu zweifeln ist.