Die Wächter - Roman

von: John Grisham

Heyne, 2020

ISBN: 9783641243968 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Die Wächter - Roman


 

1

Duke Russell hat die grauenvollen Verbrechen, für die er verurteilt worden ist, nicht begangen. Trotzdem soll er in einer Stunde und vierundvierzig Minuten hingerichtet werden. Wie immer in diesen entsetzlichen Nächten scheint die Uhr schneller zu ticken, je näher die letzte Stunde kommt. Ich habe schon zwei dieser Countdowns in anderen Bundesstaaten mitgemacht. Einer wurde bis zum Schluss heruntergezählt, und mein Mandant sprach seine letzten Worte. Der andere wurde wie durch ein Wunder in letzter Minute abgebrochen.

Die Uhr soll ruhig ticken – es wird nichts geschehen, jedenfalls nicht heute Abend. Die Leute, die Alabama regieren, werden es vielleicht eines Tages schaffen, Duke die Henkersmahlzeit zu servieren und ihm dann eine Nadel in den Arm zu stecken, aber nicht heute. Er sitzt erst seit neun Jahren im Todestrakt. Der Durchschnitt in diesem Bundesstaat liegt bei fünfzehn Jahren. Zwanzig ist nicht ungewöhnlich. Beim 11. Bezirksgericht in Atlanta wird ein Antrag auf Aufschub herumgereicht, und wenn er innerhalb einer Stunde auf dem Schreibtisch des richtigen Mitarbeiters landet, wird die Hinrichtung nicht stattfinden. Duke wird zu den Schrecken der Einzelhaft zurückkehren und den nächsten Tag erleben.

Er ist seit vier Jahren mein Mandant. Unterstützung bekommt er von einer Großkanzlei in Chicago, deren Anwälte viele Stunden ehrenamtlicher Arbeit für ihn leisten, sowie einer Initiative gegen die Todesstrafe, die in Birmingham ansässig und schlichtweg überfordert ist. Vor vier Jahren, als ich zu dem Schluss kam, dass Duke unschuldig ist, bin ich als Frontmann dazugestoßen. Zurzeit habe ich fünf Fälle, alles Fehlurteile, jedenfalls meiner Meinung nach.

Einen meiner Mandanten habe ich sterben sehen. Ich glaube immer noch, dass er unschuldig war. Ich konnte es nur nicht rechtzeitig beweisen. Einer ist genug.

Zum dritten Mal an diesem Tag betrete ich Alabamas Todestrakt und bleibe an dem Metalldetektor vor der ersten Tür stehen, neben dem zwei finster dreinblickende Gefängniswärter ihr Revier bewachen. Einer von ihnen hält ein Klemmbrett in der Hand und starrt mich an, als hätte er seit meinem letzten Besuch vor zwei Stunden meinen Namen vergessen.

»Post, Cullen Post«, sage ich zu dem Schwachkopf. »Für Duke Russell.«

Er überfliegt das Klemmbrett, als enthielte es Informationen von entscheidender Bedeutung, findet, was er sucht, und nickt dann in Richtung einer Plastikschale, die auf einem kurzen Laufband steht. Ich lege Aktenkoffer und Handy hinein, wie vorhin schon.

»Uhr und Gürtel?«, erkundige ich mich wie ein echter Klugscheißer.

»Nein«, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Ich mache zwei Schritte durch den Metalldetektor – und wieder ist es einem Anwalt, der sich für die Aufklärung von Fehlurteilen einsetzt, gelungen, den Todestrakt ohne Waffen zu betreten. Ich nehme Aktenkoffer und Handy und folge dem anderen Wärter durch einen kahlen Gang zu einer Wand aus Gitterstäben. Er nickt, steckt einen Schlüssel in den Schließmechanismus, die Gitterstäbe schieben sich zur Seite, und wir marschieren durch einen zweiten Gang noch tiefer hinein in das deprimierende Gebäude. Hinter der nächsten Ecke warten einige Männer vor einer fensterlosen Stahltür. Vier von ihnen stecken in Uniformen, zwei tragen Anzüge. Einer der beiden Letzteren ist der Gefängnisdirektor.

Er kommt mit ernstem Blick auf mich zu. »Haben Sie eine Minute Zeit?«

»Eine schon, aber mehr nicht«, erwidere ich. Wir rücken ein Stück von der Gruppe ab, damit wir uns unter vier Augen unterhalten können. Der Direktor ist kein schlechter Mensch, er macht nur seinen Job, in dem er ziemlich neu ist, und daher hat er noch nie eine Hinrichtung durchgeführt. Außerdem ist er der Feind, und egal, was er will, von mir wird er es nicht bekommen.

Wir stecken die Köpfe zusammen wie zwei gute Freunde. »Wie sieht es aus?«, flüstert er.

Ich blicke mich um, als wollte ich die Situation einschätzen. »Also, für mich sieht es aus wie eine Hinrichtung.«

»Post, was soll das? Unsere Anwälte sagen, wir haben grünes Licht.«

»Ihre Anwälte sind Idioten. Dieses Gespräch haben wir schon einmal geführt.«

Der Direktor seufzt. »Wie stehen die Chancen?«

»Fünfzig-fünfzig«, erwidere ich. Es ist gelogen.

Das verwirrt ihn, und er weiß nicht so recht, wie er reagieren soll.

»Ich würde jetzt gern mit meinem Mandanten sprechen«, sage ich.

»Aber natürlich.« Er ist lauter geworden, als wäre er frustriert. Da nicht der Eindruck entstehen darf, dass er mir irgendwie entgegenkommt, stürmt er wutentbrannt davon. Die Wärter treten zurück, und einer von ihnen öffnet die Stahltür der Todeszelle.

Duke liegt mit geschlossenen Augen auf einer schmalen Pritsche. Zur Feier des Tages gestatten ihm die Regeln einen kleinen Farbfernseher, daher kann er einschalten, was er möchte. Der Ton ist abgestellt, und über den Bildschirm flimmern Bilder eines Waldbrands im Westen. Der Countdown für seine Hinrichtung ist keine Meldung in den landesweiten Nachrichten wert.

Jeder Bundesstaat, in dem es die Todesstrafe gibt, hat seine eigenen albernen Rituale für eine Hinrichtung, die so viel Drama wie möglich erzeugen sollen. In Alabama sind Besuche von Angehörigen mit Vollkontakt erlaubt, die in einem großen Besucherzimmer stattfinden. Um zehn Uhr abends wird der Verurteilte in die Todeszelle gebracht, die direkt neben dem Raum liegt, in dem er hingerichtet wird. Sein Anwalt und ein Geistlicher dürfen ihm Gesellschaft leisten, sonst niemand. Seine Henkersmahlzeit wird gegen 22.30 Uhr serviert, und er kann bestellen, was er möchte, mit Ausnahme von Alkohol.

»Wie geht es Ihnen?«, frage ich, als er sich aufsetzt und lächelt.

»So gut wie noch nie. Gibt es Neuigkeiten?«

»Noch nicht, aber ich bin nach wie vor optimistisch. Wir sollten bald etwas hören.«

Duke ist ein 38-jähriger Weißer, und bevor er wegen Vergewaltigung und Mord verhaftet wurde, bestand sein Vorstrafenregister aus zwei Anklagen wegen Alkohol am Steuer und ein paar Strafzetteln für zu schnelles Fahren. Keine Spur von Gewalttätigkeit. Früher feierte er die Nächte durch und war immer auf Radau aus, aber nach neun Jahren in Einzelhaft ist er erheblich ruhiger geworden. Mein Job besteht darin, ihn aus dem Gefängnis zu holen, was mir im Moment wie ein verrückter Traum vorkommt.

Ich nehme die Fernbedienung und wechsle die Kanäle, bis ich einen Regionalsender aus Birmingham erwische, lasse den Ton aber auf stumm geschaltet.

»Sie scheinen aber sehr zuversichtlich zu sein«, sagt er.

»Ich kann’s mir leisten. Ich bin nicht derjenige, den die hinrichten wollen.«

»Sehr witzig, Post.«

»Entspannen Sie sich, Duke.«

»Entspannen?« Er schwingt die Füße vom Bett auf den Boden und lächelt wieder. In Anbetracht der Umstände sieht er eigentlich sehr entspannt aus. »Können Sie sich noch an Lucky Skelton erinnern?«, fragt er.

»Nein.«

»Vor ungefähr fünf Jahren haben sie ihn gekriegt, aber davor hat er drei Henkersmahlzeiten bekommen. Er ist dreimal über die Planke gelaufen, bevor sie ihn hinuntergestoßen haben. Pizza mit Salami und Cherry Cola.«

»Und was haben Sie bestellt?«

»Steak mit Pommes, dazu ein Sixpack Bier.«

»Das Bier werden Sie vermutlich nicht bekommen.«

»Post, werden Sie mich hier rausholen?«

»Heute Abend nicht, aber ich arbeite dran.«

»Wenn ich rauskomme, werde ich schnurstracks in eine Bar marschieren und so lange Bier trinken, bis ich umfalle.«

»Ich komme mit. Ah, da ist der Gouverneur.« Als er ins Bild kommt, stelle ich den Ton am Fernseher lauter.

Er steht hinter einer Reihe von Mikrofonen und wird von grellem Kameralicht angestrahlt. Dunkler Anzug, Krawatte mit Paisley-Muster, weißes Hemd, jedes gefärbte Haar akkurat mit Gel in Form gebracht. Eine Wahlkampfwerbung auf zwei Beinen. Mit dem gebührenden Ernst in der Stimme sagt er: »Ich habe Mr. Russells Fall mit aller Sorgfalt geprüft und mich ausführlich mit den Ermittlern beraten. Darüber hinaus habe ich mich mit der Familie von Emily Broone getroffen, dem Opfer von Mr. Russells Verbrechen. Ihre Angehörigen haben sich vehement gegen jegliche Form von Gnade ausgesprochen. Nachdem ich sämtliche Aspekte dieses Falls berücksichtigt habe, bin ich zu der Entscheidung gekommen, das Urteil nicht aufzuheben. Der Gerichtsbeschluss bleibt bestehen, die Hinrichtung wird stattfinden. Das Volk hat gesprochen. Das Gnadengesuch von Mr. Russell wird hiermit abgelehnt.« Der Gouverneur verkündet das mit so viel Dramatik wie möglich, dann verbeugt er sich und geht langsam rückwärts, weg von den Kameras. Seine Vorstellung ist beendet. Keine Zugabe. Vor drei Tagen hat er mir fünfzehn Minuten seiner Zeit für eine Audienz gewährt und dann anschließend seine Lieblingsreporter über unser »privates« Gespräch informiert.

Wenn seine Prüfung des Falls so gründlich wie behauptet gewesen wäre, hätte er gewusst, dass Duke Russell nichts mit der Vergewaltigung und dem Mord an Emily Broone vor elf Jahren zu tun hatte. Ich schalte den Ton wieder auf stumm und sage: »Was für eine Überraschung.«

»Hat er denn schon mal jemanden begnadigt?«, will Duke wissen.

»Natürlich nicht.«

Jemand klopft an die Tür und öffnet sie. Zwei Gefängniswärter kommen herein, einer schiebt den Rollwagen mit der Henkersmahlzeit vor sich her. Sie lassen den Wagen stehen und verschwinden. Duke starrt das Steak, die Pommes frites und ein sehr schmales Stück...