Volkszählung und Datenschutz. Proteste zur Volkszählung 1983 und 1987 in der Bundesrepublik Deutschland

von: Nicole Bergmann

Diplomica Verlag GmbH, 2009

ISBN: 9783836623889 , 116 Seiten

Format: PDF, OL

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Preis: 43,00 EUR

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Volkszählung und Datenschutz. Proteste zur Volkszählung 1983 und 1987 in der Bundesrepublik Deutschland


 


"Kapitel 2.1.1 Protestmilieu der Bundesrepublik
In Folge der Stundentenbewegung von 1968 entstand in der Bundesrepublik Deutschland ein neuartiges Protestmilieu, das sich in den 1970er und 1980er Jahren etablierte. Es handelt sich um die „Neuen sozialen Bewegungen“, die zunächst aufgrund ihrer gesellschaftskritischen Haltung von der „alten“ Gesellschaft ausgegrenzt wurden.
In der Folgezeit entwickelten sich Selbsthilfeorganisationen und Bürgerinitiativen, die kollektiv Kritik am Status quo übten und gesellschaftliche Angelegenheiten thematisierten, die von Seiten der Bürger vielfach als problematisch empfunden wurden. Auf diese Weise konnten breite Bevölkerungsmassen mobilisiert werden, wodurch öffentliche Protestbewegungen mit einer breiten Ausstrahlung heranwuchsen. Im Zentrum standen Themen wie Frieden, Umwelt, Frauen und Bürgerrechte.63 Aufgrund der Neuartigkeit dieser Protestthemen wird heute von den Neuen sozialen Bewegungen gesprochen. Im Unterschied zu den Alten sozialen Bewegungen fand eine Verschiebung von Themen wie Produktion und Eigentum hin zu Auseinandersetzungen mit der Lebensweise und Identität statt. An dieser thematischen Verlagerung wird die parallele Entwicklung zum Wertewandel von materialistischen zu postmaterialistischen Werteorientierungen deutlich. Zu den bekanntesten Neuen sozialen Bewegungen gehörten die Frauenbewegung, die Friedensbewegung, die Ökologiebewegung und die Anti-Atomkraft-Bewegung: Das grundsätzliche Anliegen der Frauenbewegung war die Gleichberechtigung der Frau in der Gesellschaft. Die Bewegung versuchte die gesellschaftlich definierte Frauenrolle als „schlichte“ Hausfrau und Mutter zu lockern und neue Räume im Bereich Arbeit und Beruf zu öffnen. Neben diesen emanzipativen Zielen waren auch die Gewalt gegen Frauen und die weibliche Sexualität entscheidende Themenkomplexe. Im Zusammenhang mit der Sexualität entstanden unter anderem die Debatten um den § 218 für eine selbstbestimmte Sexualität und Mutterschaft, da die Frauen nicht weiter in Abtreibungsfragen durch den Staat bevormundet werden wollten. Zusammenfassend beabsichtigte die Frauenbewegung die patriarchalischen Strukturen der Gesellschaft und die traditionellen Geschlechtsrollen aufzubrechen. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik Deutschland bemühte sich im wortwörtlichen Sinne um den Frieden in der Welt. Im Kontext des NATO Doppelbeschlusses von 1979 protestierten die Anhänger der Bewegung gegen die Aufstellung nuklearer Mittelstreckenraketen in Europa zur Verteidigung gegen die Sowjetunion. Nachdem das Scheitern erster Verhandlungen um die friedliche Einigung der Rüstungsfragen (1981-1983) die Friedensbewegung und ihre Protestaktionen (z.B. Friedensmärsche) weiter vorangetrieben hatte, führte 1987 die Einigung über die Abrüstungsfragen („Doppelte Nulllösung“) und somit der Abbau der Mittelstreckenraketen in Europa zu einem Abebben des Mobilisierungserfolges.
Die Anhänger der Ökologiebewegung machten sich für den Umweltschutz stark. Im Zentrum der Proteste stand die Frage der Kernenergie und allgemeinen Umweltbelastung. In der Anti-Atomkraft-Bewegung mischten sich die Themen der Friedens- und Umweltbewegung, weshalb die Akteure beider Bewegungen aktiv wurden. Die Auseinandersetzung um die Atomenergie zog sich über vier Jahrzehnte. Befürworter sahen die friedliche Nutzung der Kernenergie als eine der umweltfreundlichsten Energiequellen an, während ihre Gegner an die möglichen Folgen von Störfällen dachten. Die Proteste gegen die Atomkraft sind auch im Zusammenhang mit der grundsätzlichen Technik-Feindlichkeit vieler deutscher Bundesbürger zu sehen. In nahezu allen Neuen sozialen Bewegungen setzen sich die Akteure gegen eine Thematik ein, von der sie sich selbst betroffen fühlten. Da stets die Kritik am Status quo und an den Entscheidungen des Staates eine Basis darstellte, war eines der Ziele, an den Planungsprozessen des Staates zu partizipieren bzw. diese beeinflussen zu können.
So entwickelte sich ein Protestpotential in der Bundesrepublik Deutschland, das sich unter anderem gegen die Übermacht des Staates, neue bedrohliche Technologien, apokalyptische Bedrohungen und Unterdrückung richtete. Im Rahmen dieses Protestpotentials und des wahrgenommenen Bedrohungsszenarios durch den Staat sollten ebenfalls die Volkszählungsproteste von 1983 und 1987 entstehen. Auch einzelne Akteursgruppen der Neuen sozialen Bewegungen nahmen aus unterschiedlichsten Gründen an dieser Protestbewegung teil.
Die Herausbildung der Protestpartei „Die GRÜNEN“ beeinflusste ebenfalls in den 1980er Jahren die Entwicklung des deutschen Protestmilieus. Vor der Parteigründung waren die Mitglieder der GRÜNEN in nahezu allen Neuen sozialen Bewegungen aktiv gewesen (Friedensbewegung, Anti-Atomkraft-Bewegung, Frauenbewegung, Schwulen- und Lesbenbewegung), als Basis ist jedoch die Ökologiebewegung zu sehen.
Nachdem Ende der 1970er Jahre die etablierten Parteien weder die politischen Impulse der Ökologie-Bewegung noch die Wünsche der Bürger nach Partizipation in ihr Programm aufnahmen, entwickelten sich innerhalb der Neuen sozialen Bewegungen Diskussionen um die Gründung einer eigenständigen parteipolitischen Organisation.
Nach der Herausbildung grüner und alternativer Listen wurden schließlich am 13.01.1980 „DIE GRÜNEN“ als Partei gegründet.70 Von nun an sollte ein Erfolgskurs der Partei folgen, der auch durch Gegensätze zwischen den unterschiedlichen parteiinternen Lagern – der Fundamentalopposition („Fundis“) und den Realpolitikern („Realos“) – nicht gebremst werden konnte. Neben der Umweltpolitik wurde das Thema Frieden zu einem zweiten Standbein der Partei. Der dauerhafte Erfolg wurde spätestens im Jahr 1983 deutlich, als die GRÜNEN nach der Bundestagswahl am 06.03.1983 erstmals in den Deutschen Bundestag einzogen.
Der Protestcharakter der grünen Partei sollte bei den Volkszählungsprotesten 1983 und 1987 eine große Rolle spielen. Die Debatte um die Volkszählung 1983 fiel in das erste Jahr der GRÜNEN im Bundestag. Die Partei wusste diese „Chance“ zu nutzen, engagierte sich stark gegen die Durchführung der Totalerhebung und rief die Bevölkerung zum Protest auf, wodurch sie die Stimmen vieler Bürger, die ebenfalls Kritik an der Zählung übten, für sich gewinnen konnte. Folglich stellte die Volkszählung mit ihren Protesten eine wichtige Identitätskonstruktion für die GRÜNEN dar.
Das Protestmilieu der späten 1970er bzw. frühen 1980er Jahre war eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung der Volkszählungsproteste – nur mit einem „etablierten“ Protestmilieu „im Rücken“ konnten diese erfolgreich vorangetrieben werden. Im Rahmen der Neuen sozialen Bewegungen hatten sich sowohl Akteure als auch Protestschwerpunkte herauskristallisiert, die sich gegen Entwicklungen richteten, welche den Menschen in seiner Persönlichkeit und Freiheit beschnitten und negative Konsequenzen für die Bevölkerung haben konnten. Auch die möglichen Folgen der Volkszählung wurden in diese Kategorie der Gefährdung eingeordnet, weshalb die GRÜNEN und Anhänger der Neuen sozialen Bewegungen gegen die Volkszählung protestierten.
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