Spiegel und Licht - Roman

von: Hilary Mantel

DuMont Buchverlag , 2020

ISBN: 9783832184902 , 1104 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 5,99 EUR

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Spiegel und Licht - Roman


 

II

Bergung

London, Sommer 1536

»Wo ist mein oranger Mantel?«, fragt er. »Ich hatte immer einen orangen Mantel.«

»Ich habe ihn nicht gesehen«, sagt der Junge, Christophe. Er sagt es voller Skepsis, als spräche er von einem Kometen.

»Ich habe ihn weggehängt. Bevor ich dich hergeholt habe. Als du noch jenseits des Meeres warst und in Calais einen Misthaufen mit deiner Anwesenheit gesegnet hast.«

»Sie verspotten mich.« Christophe ist beleidigt. »Dabei war ich es, der die Katze gefangen hat.«

»Hast du nicht!«, sagt Gregory. »Das war Dick Purser. Christophe hat nur die Jagdrufe ausgestoßen, und jetzt will er sich das Verdienst zuschreiben!«

Sein Neffe Richard sagt: »Sie haben den Mantel weggehängt, als der Kardinal zu Fall kam. Da waren Sie nicht mehr in der Stimmung dafür.«

»Ja, aber jetzt bin ich gut aufgelegt. Ich werde vor dem Bräutigam nicht als Trauernder erscheinen.«

»Nein?«, fragt Christophe. »Bei diesem König braucht man eine Wendejacke. Man weiß nie, ist es Sterben oder Tanzen?«

»Dein Englisch wird besser, Christophe.«

»Ihr Französisch ist wie immer.«

»Was erwartest du von einem alten Soldaten? Ich werde keine Verse mehr schreiben.«

»Aber Sie fluchen gut«, sagt Christophe ermutigend. »Besser als mein Vater, der, wie Sie wissen, ein großer Räuber und in der ganzen Provinz gefürchtet war.«

»Würde dein Vater dich heute erkennen?«, fragt Richard Cromwell. »Ich meine, wenn er dich heute sähe. Einen halben Engländer in der Livree meines Vaters?«

Christophe sacken die Mundwinkel herunter. »Wahrscheinlich haben sie ihn längst gehängt.«

»Macht dir das nichts?«

»Ich spucke auf ihn.«

»Das ist nicht nötig«, sagt er, Cromwell, tröstend. »Der Mantel, Christophe? Gehst du ihn suchen?«

Gregory sagt: »Das letzte Mal, als wir alle zusammen ausgegangen sind …«

Richard sagt: »Nicht. Sag es nicht. Denk nicht mal an die andere.«

»Ich weiß«, sagt Gregory freundlich. »Meine Lehrer haben es mir eingeschärft, von Anfang an: Sprich auf einer Hochzeit nicht von abgeschlagenen Köpfen.«

Tatsächlich hat die Hochzeit des Königs schon tags zuvor stattgefunden – eine kleine, private Zeremonie. Sie kommen heute als Abordnung, um der neuen Königin zu gratulieren. Für gewöhnlich kleidet er sich in jene düsteren, teuren Farbschattierungen, die die Italiener berettino nennen: das Graubraun des Laubes zur Zeit des Festes der heiligen Cäcilia, das Graublau im Licht des Advents. Heute jedoch ist eine Anstrengung gefordert, und Christophe hilft ihm in sein Festgewand und bestaunt es, als Nennt-Mich hereingestürmt kommt: »Ich bin doch nicht zu spät?« Er weicht einen Schritt zurück. »Sir, das wollen Sie wirklich tragen?«

»Natürlich trägt er das!« Christophe ist beleidigt. »Ihre Meinung dazu ist nicht erwünscht.«

»Es ist nur so, dass auch die Leute des Kardinals Orange-Braun getragen haben, und wenn es den König daran erinnert … Er wird möglicherweise nicht daran erinnert werden wollen …« Nennt-Mich zögert. Das Gespräch vom gestrigen Abend liegt wie ein Fleck auf seinem eigenen Aufzug, wie etwas, das sich nicht herausbürsten lässt. Jetzt sagt er kleinlaut: »Natürlich, vielleicht mag der König den Mantel ja auch.«

»Wenn nicht, kann er mir sagen, ich soll ihn ablegen. Aufgepasst, dass er das nicht in Bezug auf Ihren Kopf sagt.«

Nennt-Mich zuckt zusammen. Er ist selbst für einen Rotschopf besonders empfindlich und schrumpft ein wenig, als sie hinaus in die Sonne treten. »Nennt-Mich«, sagt Gregory, »haben Sie gesehen, wie Dick Purser in den Baum hinauf ist und die Katze gefangen hat? Vater, kann er nicht etwas zusätzlich zu seinem Lohn bekommen?«

Christophe murmelt ein paar Worte. Eines davon klingt wie Ketzer.

»Was?«, fragt er.

»Dick Purser, ein Ketzer«, sagt Christophe. »Glaubt, die Hostie ist nichts als Brot.«

»Aber das tun wir doch auch!«, sagt Gregory. »Gewiss, oder … warte …« Zweifel scheinen in seinem Gesicht auf.

»Gregory«, sagt Richard, »was wir von dir wollen, ist weniger Theologie und mehr aufrechter Gang. Stell dich auf die neuen Brüder des Königs ein – die Seymours werden heute in Hochstimmung sein. Wenn Jane dem König einen Sohn schenkt, werden sie große Männer, Ned und Tom. Wir allerdings auch.«

Denn dies ist England, ein glückliches Land, ein Land der Wunder, in dem die Steine unter den Füßen Goldklumpen sind und in den Bächen Claret fließt. Der weiße Falke der Boleyns hängt wie ein trauriger Sperling an einem Zaun, während der Phönix der Seymours aufsteigt. Edelleute von alter Art, Förster, Meister von Wolf Hall, sie sind die neue Familie des Königs und befinden sich jetzt auf einem Rang mit den Howards, den Talbots, den Percys und den Courtenays. Die Cromwells – Vater, Sohn und Neffe – gehören ebenfalls einer alten Art an. Sind wir nicht alle im Garten Eden gezeugt worden? Als Adam grub und Eva spann, / Wer war denn da der Edelmann? Wenn die Cromwells in dieser Woche ihr Haus verlassen, gehen ihnen die Gentlemen Englands aus dem Weg.

Der König trägt grünen Samt: Er ist eine saftige Wiese, mit Diamanten gesprenkelt. Er löst sich von seinem alten Freund William Fitzwilliam, mit dem er zusammensteht, nimmt den Master Sekretär beim Arm und zieht ihn in eine Fensternische. Er blinzelt im Sonnenlicht. Es ist der letzte Tag im Mai.

Die Hochzeitsnacht: Wie fragt man danach? Die neue Braut wirkt so jungfräulich, dass es ihn nicht wundern würde, wenn sie sich unters Bett geflüchtet und starr auf dem Rücken dagelegen hätte, die Hände zum Gebet gefaltet. Und Henry, wie ihm verschiedene Frauen erklärt haben, braucht einiges an Ermunterung.

Der König flüstert: »Solch eine Frische. Solch eine Zartheit. Solch jungfernhafte pudeur

»Ich freue mich für Ihre Majestät.« Er denkt, ja, ja: Aber hast du es vollbracht?

»Ich bin aus der Hölle in den Himmel gelangt, und das alles in einer Nacht.«

Das ist die Antwort, die er wollte.

Der König sagt: »Die ganze Sache war, wie wir alle wissen, schwierig und heikel … und Sie, Thomas, haben sowohl Schnelligkeit wie auch Bestimmtheit bewiesen.« Er lässt den Blick durch den Raum schweifen. »Gentlemen – und auch Ladies, darf ich sagen – haben mich gefragt, Majestät, ist es nicht an der Zeit, dass Master Cromwell sein Dessert erhält? Sie wissen, ich habe gezögert, Sie zu befördern, einfach, weil Ihr fester Griff im Unterhaus gebraucht wird. Aber«, er lächelt, »das Oberhaus ist genauso widerspenstig und braucht einen Master. Und so sollen Sie zu den Lords.«

Er verbeugt sich. Kleine Regenbogen huschen und tanzen über das Mauerwerk.

»Die Königin ist bei ihren Frauen«, sagt Henry. »Sie fasst Mut. Ich habe sie gebeten, sich dem Hof zu zeigen. Gehen Sie zu ihr und sagen Sie ihr ein paar freundliche Worte. Führen Sie sie heraus, wenn Sie können.«

Er dreht sich um, und da ist gleich Botschafter Chapuys. Er ist einer der Französisch sprechenden Untertanen des Kaisers, kein Spanier, sondern aus Savoyen, und obwohl er schon seit einigen Jahren in England lebt, bedient er sich nicht unserer Sprache. Er beherrscht sie nicht ausreichend, um die Art Unterhaltung zu führen, die ein Botschafter führen muss. Seine scharfen Ohren haben das Wort pudeur aufgeschnappt, und so fragt er lächelnd: »Nun, Master Sekretär, wer schämt sich da?«

»Niemand schämt sich. Es geht um Sittsamkeit. Eine angemessene Sittsamkeit vonseiten der Braut.«

»Ah. Ich dachte, Ihr König würde sich schämen. Angesichts der Geschehnisse der letzten Tage. Und wegen der Dinge, die da vor Gericht herausgekommen sind, über den Mangel an Virilität und Spannkraft bei der anderen.«

»Das hat allein George Boleyn behauptet.«

»Nun, wenn die Lady mit George ins Bett gegangen ist, wie Sie unterstellen – dem eigenen Bruder –, könnte man sich vorstellen, dass da auch Intimes ausgetauscht wurde. Und was wäre natürlicher, als sich über die Unfähigkeit des eigenen Mannes zu beschweren? Aber ich erkenne durchaus an, dass Lord Rochford seine Version nicht verteidigen kann, jetzt, wo der Kopf von seinen Schultern ist.« Der Botschafter wird von einem Leuchten in seinen Augen heimgesucht, einem Zucken der Lippen, das er aber kontrolliert. »Der königliche Bräutigam hat also ins Schwarze getroffen. Und er glaubt, dass Madame Jane bis zur letzten Nacht noch Jungfrau war? Aber natürlich kann er es nicht genau wissen. Er dachte auch, Anne Boleyn wäre noch Jungfrau gewesen, und das, glauben Sie mir, hat ganz Europa in Unglauben versetzt.«

Der Botschafter hat recht. Wenn es um Jungfernhäutchen geht, lässt sich Henry leichter etwas vormachen als ein Chorknabe.

»Ich nehme an, er wird ein, zwei Monate mit ihr zufrieden sein«, sagt Chapuys, »bis sein Auge auf eine andere Lady fällt. Dann wird sich herausstellen, dass Madame Jane nie frei war, ihn zu heiraten, weil sie schon anderweitig versprochen war. Oder?«

Eustache stochert im Nebel. Er weiß, Anne Boleyn ist geköpft worden, aber er will wissen, mit welcher Begründung ihre Ehe aufgelöst wurde. Denn aufgelöst werden musste sie. Ihr Tod reichte nicht, um Eliza aus der Thronfolge zu nehmen, dafür musste gezeigt werden, dass die Ehe keine war, von Beginn an ungültig. Und wie ist der Geistlichkeit des Königs das gelungen? Er, Thomas Cromwell, wird es nicht sagen. Er neigt nur den Kopf, schiebt sich durch das Gedränge und wechselt im Vorangehen die Sprache. Die...