Verhängnisvolles Calès - Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc

von: Cay Rademacher

DuMont Buchverlag , 2019

ISBN: 9783832184681 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Verhängnisvolles Calès - Ein Provence-Krimi mit Capitaine Roger Blanc


 

Das Grab in der Höhle

Das Erste, was Capitaine Roger Blanc an dem Skelett auffiel, war das beinahe kreisrunde Loch im Stirnknochen. Ein Totenschädel mit drei Augenhöhlen, dachte er unwillkürlich.

»Wenn ich ein Bild davon ins Netz stellen würde, gäbe es eine Million Leute, die das für den Beweis halten würden, dass Aliens uns besucht haben«, flüsterte Sous-Lieutenant Fabienne Souillard.

Blanc blickte seine junge Kollegin bloß schweigend an. Sie stand neben ihm und hatte sich tief in ihre gelb-schwarze Trekkingjacke eingegraben. Die Fleece-Mütze hatte sie bis fast auf die Augenbrauen hinuntergezogen, und sie ballte ihre in Skihandschuhen steckenden Hände rhythmisch zu Fäusten und entspannte sie wieder, es sah einen absurden Moment so aus, als atmete sie mit den Fingern. Sie war gestern erst von ihrem Urlaub in Barcelona zurückgekehrt, und wahrscheinlich war es dort wärmer gewesen als in der Provence.

Winter in der Provence … Blanc sah sich um, es war sein erster Dezember im Midi. Über ihm wölbte sich ein Himmel wie aus blauem Glas. Doch die Nachmittagssonne war schon hinter einigen hoch über ihm aufragenden Klippen verschwunden und ließ am Boden bloß gräuliches Halbdunkel zurück. Er spürte, wie sich der Frost auf den Felsen durch seine Schuhsohlen fraß. Fabienne und er standen in einem düsteren, stillen Tal. Blanc kam sich vor wie auf dem Grund eines vor Urzeiten ausgetrockneten Sees. Das Tal war wie ein in die Berge hineingefräster Kreis, vielleicht dreihundert, vierhundert Meter im Durchmesser, sicherlich fünfzig Meter tief.

Ein älterer Beamter der Police municipale, der einzige uniformierte Polizist der winzigen Stadt Lamanon, hatte Fabienne und Blanc auf dem Parkplatz vor der kleinen Kirche erwartet und sie über einen steil ansteigenden Pfad in die Hügel der Alpilles geführt. Sie waren durch einen Pinien- und Eichenwald gegangen, die Erde dort, wo Schatten lagen, raureifüberkrustet, der Felsboden tückisch glatt durch einen kaum sichtbaren Eisfilm. Ihr Atem stand in weißen Wölkchen über den Lippen – kein Wind, der in den Zweigen flüsterte, kein Warnruf eines Vogels, nur ihr Luftholen, das immer schwerer wurde, je höher sie stiegen.

Und plötzlich traten sie in dieses dunkle Tal. Der Polizist hatte sie durch einen Riss in einem Felsen geführt. Nachdem sie diese Engstelle passiert hatten, blickten sie in ein weites Steinrund – und es war, als starrten die Steine zurück.

Höhlen, überall Höhlen.

Die Wände des Tals waren vom Boden bis hoch in die Klippen vernarbt: Im mürben Sandstein gähnten Löcher, manche Höhlen waren kaum hüfthoch und reichten nicht mehr als drei Meter in das Gestein, andere waren weit wie Scheunentore, fünf, zehn, zwanzig Meter hoch, und niemand konnte ahnen, wie tief sie in den Berg hineinführten. Die Höhlen, so kam es Blanc vor, waren schwarze Augen, die jeden seiner Schritte in diesem verbotenen Reich verfolgten. Sie schienen in den Felsen gefräst worden zu sein. Gefräst, ja, dachte er, das kann doch gar nicht natürlich sein. Die Ränder der Öffnungen waren glatt poliert. In wenigen besonders weiten Löchern war in der Mitte ein Stück Felsen als stützender Pfeiler stehen gelassen worden, damit das Gewölbe nicht kollabierte. Diese Grotten wirkten wie gigantische Totenschädel, Augenlöcher eines Riesen, dazwischen ein Nasenbein, das größer war als Blancs Körper. Zu manchen höher gelegenen Höhlen führten schmale Stufen, die in den Felsen geschlagen worden waren, keine breiter als ein Fuß. Er sah Mulden in den Böden der Grotten, schwarz von unzähligen längst erloschenen Lagerfeuern, und meterlange Rinnen, die vielleicht vor Urzeiten Regenwasser in tief ins Gestein gehauene Zisternen geleitet hatten. Auf einem Felsvorsprung, der von einer Talseite aus bis weit in den Kessel hineinragte, waren Mauern aus sorgsam geschichteten Steinen aufgerichtet worden. Auf dem Grund des Tals wuchsen Pinien und Eichen, so jung, dass ihre Stämme kaum dicker waren als der Oberschenkel eines Mannes. Oben, am Rand, standen die Bäume höher und dichter, schwarze Kronen im tiefen Licht der Sonne. Es duftete nach nassem Eichenlaub und feuchter Erde. Und es war unfassbar still. Die Grotten von Calès waren ein verborgener Kessel zwischen stummen Gipfeln.

Es war Montag, der 11. Dezember, und die meisten Gendarmen patrouillierten gerade die Weihnachtsmärkte der Dörfer ab, umweht von süßlichen Düften und schauderhafter Musik, fröstelnd und hoffend, dass nicht ausgerechnet hier ein Wahnsinniger mit einem Lastwagen durch die Menge pflügen würde. Fabienne und Blanc waren froh gewesen, dass sie dabei nicht länger mitmachen mussten, als Commandant Nkoulou sie zu sich rief, nachdem eine Archäologin sich telefonisch bei der Gendarmerie-Station von Gadet gemeldet hatte. Die Forscherin sei in Calès, wie sie sagte, über die Knochen eines Toten »gestolpert«. Das Skelett sei allerdings wahrscheinlich kein Fall für die Wissenschaft, sondern für die Gendarmerie, ob nicht mal einer der Beamten vorbeisehen mochte?

Und so starrte Blanc eine Dreiviertelstunde nach diesem Anruf auf den malträtierten Schädel. Hinter den leeren Augenhöhlen und dem Loch in der Stirn sah er feinen, gelben Sand, der sich über die Jahre in jenem Bereich des Kopfes abgelagert hatte, in dem einst das Gehirn gewesen sein musste. Sein Blick wanderte die Halswirbel abwärts, über die Schultern, Rippen, Ober- und Unterarme, das Becken, Ober- und Unterschenkel, alle Gebeine gelb-weiß, fleischlos. Doch selbst die winzigen Zehenknochen waren noch an ihrem Platz. Der namenlose Tote hat auf dem Rücken gelegen, vermutete er, beide Arme an den Seiten, die Beine ausgestreckt und parallel; er ist beerdigt worden, kein Tier hat diese Knochen je gestört. Auf der linken Talseite war er in den Boden einer kleinen Höhle eingelassen worden, der Sand, der die Gebeine umhüllte, war nichts anderes als Steinstaub, der hineingerieselt war. Aber wie lange? Jahrtausende? Oder bloß ein paar Jahre? Die Höhle lag ein Stück oberhalb der Sohle und war wahrscheinlich für lange Zeit so gut wie unsichtbar gewesen, sie war kaum zwei Meter hoch und zwei Meter breit und bis vor Kurzem vielleicht drei oder vier Meter tief gewesen. Doch ein Teil der Felswand war an diesem Tag abgerutscht. Blanc musterte die Steine, heller und gezackter als die anderen Felsen, das staubüberzogene Geröll. Einige Brocken, so groß wie Autos, waren bis in die Mitte des Tals gerollt. Wahrscheinlich hatte der Frost den mürben Sandstein gesprengt, sagte er sich. Der Felssturz hatte die Höhle aufgerissen – und dabei das Grab des Toten freigelegt.

»Kein Schmuck«, sagte Fabienne, »keine Uhr, keine Gürtelschnalle, nichts aus Metall, das noch erhalten wäre. Vielleicht liegt dieser Tote seit der Steinzeit hier.« Sie deutete auf die Höhlen. »Ich habe in der Schule mal ein Referat über Cro-Magnon-Menschen gehalten. Eine Weile wollte ich danach Paläontologin werden, aber dann hab ich mich doch für moderne Leichen entschieden.« Sie lachte und schüttelte den Kopf, als wäre sie verwundert über sich selbst. »Ich habe mir immer vorgestellt, dass die Steinzeitmenschen in genau solchen Höhlen gelebt haben. Ich hätte nur nicht gedacht, dass es die mitten in der Provence gibt.«

»Diese Grotten sind wirklich gut verborgen«, murmelte Blanc, während er sich dicht über die Knochen beugte, ohne sie zu berühren. Er stutzte, dann fuhr er nachdenklich fort: »Calès ist das ideale Versteck. Ein unsichtbares Tal, Dutzende Öffnungen im Fels. Bäume. Diese Stille. Der perfekte Platz für einen Mörder, der sein Opfer verschwinden lassen will.«

Fabienne sah ihn erstaunt an. »Du meinst, diese Leiche hier ist erst in unserer Zeit vergraben worden?«

Blanc bedeutete ihr mit einer Handbewegung, sich über das Skelett zu beugen. »Sieh dir den Schädel an«, forderte er sie auf.

»Das Loch ist nicht zu übersehen. Aber das wirkt auf mich nicht unbedingt wie ein Einschuss. Das könnte irgendwann passiert sein, als der Tote schon lange hier gelegen hat. Vielleicht durch einen Stein, der irgendwann auf den Schädelknochen gestürzt ist.«

»Nicht die Stirn«, sagte er, »der Kiefer. Was siehst du?«

»Gute Zähne. Keine Lücke und … merde!« Fabienne richtete sich auf und starrte Blanc an.

Der lächelte. »Doch Metall an der Leiche«, sagte er. »Eine Plombe im Backenzahn oben links.«

»So viel zu meinem Cro-Magnon-Menschen«, sagte seine Kollegin und zog ihr iPhone aus einer der zahllosen Taschen ihrer Jacke. »Gut, dass ich mich am Ende gegen die Paläontologie entschieden habe. Ich rufe die Spurensicherung und die Gerichtsmedizinerin.«

Blanc schickte den Dorfpolizisten zurück nach Lamanon, um dort auf Doktor Thezan und die Kriminaltechniker zu warten und sie anschließend zu den Grotten zu führen. Dann wandte er sich der Frau zu, deren Anruf sie überhaupt erst hierhergeführt hatte. Die Archäologin hatte etwas abseits gestanden und gewartet, während sich die beiden Gendarmen das Skelett angesehen hatten.

»Doktor Havel?« Blanc schüttelte ihre Hand.

»Agnes Havel, den Doktortitel dürfen Sie sich schenken.«

Blanc schätzte sie auf fünfzig Jahre, aber sie wirkte, als wollte sie für immer Studentin bleiben: groß gewachsen, sportlich, lange, lockige braune Haare, bretonischer Wollpullover, Jeans, schwere Trekkingschuhe. Vor ihren braunen Augen leuchtete das feine Goldgestell einer Brille, aber ihre selbst im Winter gebräunte Haut und ihre raue Rechte, mit der sie seinen Handschlag erwiderte, verrieten ihm, dass sie ihre Zeit lieber außer- als innerhalb einer Studierstube verbrachte. Sie hatte die markante Stimme einer Raucherin, die einst viele Zigaretten inhaliert, das...