Connect - Thriller - deutschsprachige Ausgabe

von: Julian Gough

C. Bertelsmann, 2019

ISBN: 9783641188511 , 624 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Connect - Thriller - deutschsprachige Ausgabe


 

1

Sie betritt Colts Zimmer, ohne anzuklopfen.

Ihr Sohn hat wieder den Helm auf. Er bewegt die Arme, den Kopf. Spielt in seiner Gamewelt. Für ihn ist das völlig real.

Das schwarze Plastik bedeckt gerade so seine Augen, die Nase und Ohren. Genug, um die Welt auszuschließen.

Er hört sie nicht. Sieht sie nicht.

Naomi hasst es, ihn so zu sehen, kann sich aber auch nicht von seinem Anblick losreißen. Er ist seinem Vater so ähnlich. So hübsch. Hübscher.

Colt schießt auf jemanden. Geht auf ein Knie. Schießt auf jemand anderen. Duckt sich vor dem gegnerischen Feuer. Sie kennt die Bewegungen so gut. Sie hat sie so oft gesehen.

Jetzt hat er sie alle getötet. Er bindet das Mädchen los. Er küsst das Mädchen, oder es küsst ihn. Das geht aus den Geräuschen, die aus seinem Helm ins Zimmer dringen, nicht eindeutig hervor. Aber seine Mutter weiß genau, was er jetzt sieht. Er sieht seine ideale Frau, die nicht viel anhat. Die von ihm und seinen Freunden, meist amerikanischen und russischen Teenagern, so designt wurde; kleine Nase, große Brüste, schmale Taille, breiter Hintern.

Er steht neben seinem Einzelbett, der Pyjama beult sich vorn aus, die Beule wird größer, ändert den Winkel.

Im wirklichen Leben hat er sich noch kaum mit einem Mädchen unterhalten.

Naomi wendet blinzelnd den Kopf ab. Sieht sich im kleinen, dunklen Zimmer ihres Sohnes um. Die Jalousien sind heruntergezogen, das grelle Wüstenlicht ist ausgesperrt.

Der kleine Tisch ist voller Elektronikteile und Werkzeuge.

Alte Klamotten auf dem Stuhl, dem Boden.

Was für ein Chaos.

Da: sechs, sieben leere Wassergläser, im Schatten unter dem Bett kaum zu sehen. Alle Gläser im Haus. Gut, die kann sie später holen.

Sie dreht sich um und verlässt sein Zimmer, barfuß auf Holzdielen. Leise schließt sie die Tür.

Geht weg, durch den kurzen Flur ins Badezimmer.

Sie bestreicht ihre Zahnbürste.

»Zahnpasta für empfindliche Zähne.«

Putzt sich drei Minuten lang sorgfältig die Zähne. Beugt sich über das Waschbecken und spült den Mund unter dem Wasserhahn. Richtet sich auf, spült die Bürste und schnippt die Borsten mit dem Daumen trocken. Legt sie auf den Rand des Waschbeckens. Neben die Zahnbürste ihres Sohnes.

Fast achtzehn, und noch nie geküsst worden. Oh, Colt.

Sie nimmt wieder die Zahnbürste zur Hand. Holt tief Luft und schließt die Augen.

Putzt sich wieder die Zähne, fester jetzt, mit der trockenen Bürste, bis das Zahnfleisch blutet.

2

In der Küche hängt Naomi ihre Seidenjacke über die Stuhllehne. Die Jacke hat mal ihrer Mutter gehört, eines der wenigen Dinge, die sie von Nanjing mitgebracht hat. Unwillkürlich streicht Naomi über die Schulter, als würde ihre Mutter sie noch tragen.

Hinter ihr sagt der Kühlschrank: »Vergiss deine Tablette nicht!« Mit heller, freundlicher Stimme, bei der Naomi mit den Zähnen knirscht.

Na, gut. Colt gefällt sie. Ich …

Schwer zu sagen.

Sie geht zum Kühlschrank, nimmt die Tablettendose und schließt den Kühlschrank.

Sie zieht den luftdicht schließenden Deckel auf, befeuchtet den kleinen Finger, holt mit der nassen Fingerspitze eine der winzigen grünen Tabletten heraus. Schluckt die Tablette ohne Wasser. Zögert.

Öffnet wieder den Kühlschrank und nimmt sich die kühle silberne Dose, in der sie ihren frisch gemahlenen Kaffee aufbewahrt.

Sie sieht zur Küchentür. Wäre Colt hier, würde er ihr einen Vortrag halten. Sonst kommt er immer gleich nach ihr. Wahrscheinlich ist er immer noch in sein Game vertieft. Gut so.

»Kaffee hemmt die Resorption«, sagt der Kühlschrank. Naomi weiß, dass sie es sich nur einbildet, aber … der Kühlschrank klingt traurig. Schlimmer: von ihr enttäuscht. »Kaffeekonsum ist nicht empfehlenswert in einem Zeitraum von einer Stunde nach …«

»Ach, sei still«, sagt Naomi.

Er ist still.

Vorsichtig stellt sie die silberne Dose auf die Arbeitsfläche. Leise schraubt sie den Deckel auf.

Sie beugt sich über die offene Dose und atmet den köstlichen, warmen, bitteren, vielschichtigen, tröstlichen Geruch ein.

Suchend schweift ihr Blick zur italienischen Espressokanne, während ihr Verstand zischelt und wütet und Nein, Nein, Nein sagt.

O ja. Oberes Regal …

Sie holt die kleine Aluminiumkanne herunter. Schraubt den oberen Teil ab.

Automatisch lassen ihre Hände Wasser einlaufen, löffeln Kaffee hinein, schrauben die Kanne wieder zusammen, während ihr Verstand Nein, Nein, Nein sagt.

Sie schaltet den alten Elektroherd an.

Es ist wirklich nicht gut, was sie hier macht …

Sie wärmt etwas Milch auf. Schlägt sie mit dem kleinen Schneebesen zu einem steifen Schaum, während der Kaffee blubbernd und gurgelnd durch die Aluminiumkanne läuft.

Kaffee hemmt die Resorption …

Ihre Hände stellen einen Cappuccino zusammen.

Ich muss meinen Pegel kontrollieren …

Sie macht Colt einen Smoothie und stellt ihn auf den Tisch.

Stellt eine Schachtel Knuspermüsli auf den Tisch.

Geht zum Schrank, nimmt eine Schale. Nein, stopp; Müsli schmeckt komisch zum Kaffee. Sie trinkt lieber den Kaffee. Sie stellt die Schale zurück.

Ich kann auch im Labor frühstücken.

Mit einem Seufzen setzt sie sich und führt die Cappuccinotasse an die Lippen.

Colt kommt in die Küche. Er hat den Helm auf, aber das Game ist ausgeschaltet, das Visier ist klar. Er kann sie sehen.

Reflexartig zuckt ihre Hand mit der Tasse und will den Kaffee hinter dem Müslikarton verbergen. Warmer Schaum schwappt über den Rand und auf den Griff, auf ihre Hand; tropft langsam, träge auf den Tisch.

Scheiße.

Sie hebt die Tasse wieder an und nimmt einen langsamen, bewussten Schluck. Köstlich.

»Dein Smoothie steht auf dem Tisch«, sagt sie.

Er sieht zur Kaffeetasse in ihrer Hand.

»Hast du deine Tablette schon früher genommen oder was?«, fragt er.

»Trink deinen Smoothie«, sagt sie.

Er holt sich einen Strohhalm. Grün, passend zur Farbe des Smoothie. Nimmt ihr gegenüber Platz.

»Du solltest keinen Kaffee zu deiner Tablette trinken«, sagt er. »Das hemmt die Resorption.«

Sie stellt die Tasse ab, um sich den Schaum von der Hand zu schlecken. Greift zur Tasse, nimmt einen weiteren Schluck. Murmelt in einem französischen Akzent: »Na ja, vielleicht will ich, dass sie gehemmt wird.«

Colt runzelt die Stirn. »Das ergibt doch keinen Sinn, Mama.«

Naomi hebt die Hände, dreht an einer großen, unsichtbaren Wählscheibe und sagt »klick«.

Sie macht das nur noch, wenn sie wirklich, wirklich das Thema wechseln möchte. Wenn es sonst bloß zu Geschrei und Tränen kommen würde.

Colt wechselt das Thema. »Hast du schon deinen Schimpansen bekommen?«

Naomi stöhnt und greift wieder zur unsichtbaren Wählscheibe.

Colt schaukelt auf seinem Stuhl kaum merklich vor und zurück.

Naomis Hand verharrt in der Luft. Nein. Die Frage ist berechtigt. Sie lässt die Hand sinken. »Sie geben mir keinen Schimpansen.«

Colt saugt an seinem Strohhalm. »Warum nicht?«

»Zu teuer. Zu viel Papierkram. Der Ethikausschuss war nicht glücklich. Sie haben mir fünfzehn verschiedene Gründe aufgezählt.«

Er macht sein lächelndes, besorgtes Gesicht, mit dem er zum Ausdruck bringt: im Ernst?

Sie zuckt verhalten mit der Schulter und lächelt, womit sie zum Ausdruck bringt: Ich übertreibe. »Fünf, sechs Gründe«, sagt sie.

»Du könntest neu beantragen«, sagt Colt.

»Ja, könnte ich.«

»Du gibst auf.«

»Ja.«

»Mama, du könntest es an mir testen.«

Macht er Witze? Er macht nie Witze.

Mein Gott, er meint es ernst.

»Nein, Colt.«

»Ich traue dir.«

»Colt, es handelt sich um ein völlig unerprobtes, experimentelles Verfahren …«

»Es ist nicht unerprobt, es funktioniert …«

»Es funktioniert bei Mäusen! Nicht bei Menschen.«

»Aber …«

»Ich habe Monate gebraucht, um es so hinzukriegen, dass es bei Mäusen funktioniert, und Mäuse sind nicht kompliziert. Ich musste mich nicht damit abgeben, ihre Erinnerungen zu bewahren. Oder ihre Persönlichkeit …«

»Aber du hast das Problem der Zellmembranintegrität gelöst …«

»Woher weißt du das?« Scharf, viel zu scharf ihr Ton. Er windet sich. Zieht den Kopf zwischen die Schultern. »Colt?«

Es muss schlimm sein …

Sie würde gern um den Tisch herumgehen und ihn trösten, ihn anfassen, festhalten, aber das geht nicht – ihre Umarmung ist wie ein Elektroschock, wenn er sich in diesem Zustand befindet, er wirft sich dann herum und schreit –, also schaukelt auch sie auf ihrem Stuhl vor und zurück, womit sie unwillkürlich an seinem Schaukeln teilnimmt, und sieht zu, wie sich sein Gesicht verzerrt. Mein Gott, er hat wirklich versucht, sich auf sie einzulassen.

O Colt, ich danke dir, ich liebe dich, komm zurück, ja …

Er schlägt die Augen auf und sagt, ohne seine Mutter anzusehen: »Ich hab deinen neuen Aufsatz gelesen.«

»Colt, du kannst nicht …« Sie versucht ihre Stimme anzupassen, damit sie ihn nicht mit ihren Gefühlen überfordert und er sich nicht abschaltet, aber sie hat unerklärlicherweise Angst. Und sie ist wütend.

Sie sieht zur Küchentheke, zu ihrem Bildschirm,...