Der Verein der Linkshänder - Roman - Kommissar Van Veeteren und Inspektor Barbarotti auf der Spur eines Mörders, der alle zum Narren hält.

von: Håkan Nesser

btb, 2019

ISBN: 9783641237622 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Verein der Linkshänder - Roman - Kommissar Van Veeteren und Inspektor Barbarotti auf der Spur eines Mörders, der alle zum Narren hält.


 

1

1957–58. Oosterby und Umgebung


Marten Winckelstroop wuchs mit zwei Makeln auf. Er hatte keinen Vater, und er war Linkshänder.

Dass er vaterlos war, wurde ihm früh bewusst. Wahrscheinlich im Alter von etwa drei Jahren, denn zu dieser Zeit begann seine Mutter, Louise Henriette Winckelstroop, dem Schädel ihres eingeborenen Sohns die Grundvoraussetzungen des Lebens einzubläuen. Zum Beispiel, dass Gestalten, die gern in langer Hose und Hut oder Mütze herumstolzierten – und die sich zuweilen mit Bart und Schnäuzer schmückten, weil sie zu faul waren, sich zu rasieren –, bei Familie Winckelstroop nicht die geringste Chance hatten.

So viel dazu.

Dass dieser Mangel an Mannsbildern ein Makel sein könnte, kam allerdings keinem der beiden jemals in den Sinn. Nicht einmal ansatzweise. Männer, alte wie junge, waren – abgesehen natürlich vom kleinen Marten selbst – ein Elend und eine missratene Erfindung, so idiotisch war die Welt eingerichtet. Sie mochten eventuell für gewisse Arten schwerer körperlicher Arbeit und zur Säuberung verstopfter Abflüsse taugen – sowie für etwas anderes, aber um darauf einzugehen, war es noch zu früh. Aber das war auch schon alles, buchstäblich alles.

Dass die linke Hand des kleinen Marten sich so viel besser zu allen Arten des Herumfingerns eignete, angefangen beim Rotz und von dort in die Welt hinaus, wusste er auf eine halb unbewusste Weise bereits in sehr jungen Jahren, aber erst, als er sieben Jahre und ein paar Monate alt war, wurde er darauf aufmerksam gemacht, wie widernatürlich es war. An einem sonnigen Herbsttag im Jahre des Herrn 1957, der mit einer sanften Brise vom Meer einherging, wurde er nämlich zusammen mit den übrigen zitternden, aber sorgsam gekämmten Siebenjährigen der Obhut und Aufsicht von Lehrerin Bolster in der Volksschule Oosterby unterstellt. Womit die Kleine Schule gemeint war; es gab auch eine Große Schule, auf demselben großzügig bemessenen Grundstück zwischen Feuerwache und Kirche gelegen, allerdings hinter einer Hecke der Marke Liguster.

Es war aus Backsteinen, dieses kleine Schulgebäude, beherbergte vier Klassenzimmer und einen Werkraum sowie die Wohnungen von Lehrerin Bolster und Lehrer Klitschke unter dem Dach. Ein paar Jahre zuvor hatte die Kleine Schule den fünfundsiebzigsten Jahrestag ihrer Gründung gefeiert. Die Große Schule war zwei Jahre jünger, aber wie alt Frau Bolster war, wusste keiner so genau. Viele meinten, sie sei sicher von Anfang an dabei gewesen. Vielleicht war auch sie aus Backsteinen gefertigt worden, aus dem, was übrig geblieben war, nachdem die beiden Schulhäuser errichtet worden waren, der Gedanke erschien einem nicht abwegig.

Jedenfalls gehörte sie zu einem alten, gestählten Stamm, diese Margarete Bolster. Sie hatte nicht nur alle älteren Geschwister der zitternden Schar erzogen, sondern in den meisten Fällen auch deren Eltern. Wenn es in dieser veränderlichen Welt etwas gab, was man nicht in Frage stellte, dann war es Lehrerin Bolster.

Und man sollte kein Linkshänder sein. Auf gar keinen Fall.

Man sollte auch nicht vaterlos sein. Vermutlich hingen diese Dinge in irgendeiner unergründlichen Weise zusammen; das Familientechnische entzog sich Lehrerin Bolsters Einfluss, aber wenn es darum ging, zwischen welchen Fingern und in welcher Hand man einen Stift, ein Stück Kreide oder eine Nähnadel hielt, nun, was das anging, gab es pädagogische Richtlinien.

Und Methoden. Also wenn es galt, mit verkehrt gepolten Schulkindern zurechtzukommen. Zumindest eine Methode.

Und so durfte Marten Winckelstroop bereits an seinem zweiten Schultag, der übrigens ebenso sonnig war wie der erste und mit dem gleichen freiheitlichen Wind aus Nordwest einherging, die Bekanntschaft des sogenannten Korrekturhandschuhs machen. Er war aus Leder, roch nach einer Prise Mist, einer Prise Schaf und zwei Prisen altem Schweiß und wurde noch vor dem morgendlichen Kirchengesang fest um seine linke Hand geschnürt. Er durfte unter keinen Umständen vor dem Ende des Schultags abgenommen werden. Im Grunde war es eher eine Tüte als ein Handschuh, fest gefüttert mit Rosshaar und ohne Finger. Lehrerin Bolster hatte ihn in einer langen Reihe von Jahren benutzt und auf diese Art eine noch längere Reihe von mutmaßlichen Falschschreibern kuriert.

Es gab in der Volksschule Oosterby nicht nur einen solchen Handschuh, sondern mehrere, und Marten war kein Einzelfall. An seiner Seite, in der vordersten Pultreihe am Lehrerpult (so dass sie sich unter strenger Aufsicht befanden und bei Bedarf einen Schlag mit dem Lineal versetzt bekommen konnten), hatte er einen kleinen, dunkelhaarigen Knaben namens Rejmus Fiste, der, abgesehen davon, dass er Linkshänder war, weitere Unzulänglichkeiten aufwies. So stotterte er und war zudem wenig zuverlässig, wenn es darum ging, rechtzeitig zur Toilette zu kommen.

Er hatte jedoch einen Vater, der in der Stadt als Bäcker arbeitete und seinerzeit auch Linkshänder gewesen war. Genau genommen war er das immer noch, da er auswärts zur Schule gegangen war und man niemals Maßnahmen gegen sein Handicap ergriffen hatte. Rätselhafterweise backte er dennoch gutes Brot.

»Diese Bolster ist eine verfluchte Schabracke«, vertraute Marten seinem neugewonnen Leidesgenossen nach ungefähr einer Woche Schullaufbahn an. »Wir sollten sie umbringen.«

Sie standen unter dem großen Kastanienbaum neben der Turnhalle und warteten auf das Ende der Frühstückspause. Rejmus nickte emsig, brachte aber wie üblich kein vernünftiges Wort heraus. Sie spuckten ins Gras und tauschten stattdessen ein paar Boxschläge mit ihren Rosshaartüten aus, und dann läutete die Schulglocke. Es war, wie es war, gegen manche Dinge sollte man aber wirklich etwas unternehmen. Wenn nicht heute, so doch auf lange Sicht.

Die Zeit verging. Die Tage, die Wochen und nach und nach auch die Monate. Ende Dezember bekamen sie Ferien. Während des gesamten Winterhalbjahrs hatten Marten und Rejmus hartnäckig mit dem rechtshändigen Schreiben gekämpft, aber bisher konnte kein Mensch lesen, was sie schrieben. Nicht einmal sie selbst und erst recht nicht Lehrerin Bolster. Rejmus’ Stottern hätte auch ein dankbares Objekt für Reformbemühungen abgegeben, aber hier hieß es, eins nach dem anderen. Erst musste die rechte Hand des Jungen funktionieren, dann konnte man sich seinem Sprechen widmen.

Diese Rangfolge führte dazu, dass Rejmus in den Schulstunden keine Fragen gestellt wurden, weil er so unchristlich lange brauchte, um selbst die einfachsten kurzen Antworten herauszubringen. Seine Klassenkameraden sahen sich täglich und stündlich mit dem Einmaleins und Erdkunde sowie mit der Schlange im Paradies und Moses im Schilf konfrontiert. Rejmus dagegen nicht. Ihm wurde nie eine Frage gestellt. Er selbst war mit der Lage der Dinge recht zufrieden und vertraute Marten an, er habe es weiß Gott nicht eilig, die Tüte loszuwerden.

Diese roch immer noch ein bisschen nach Mist und ein bisschen nach Schaf, aber mit der Zeit gewöhnte man sich daran, hatte außerdem ein bisschen vom eigenen Duft in sie hineingeschmuggelt, und die beiden Freunde, denn das waren sie inzwischen, einigten sich insgeheim darauf, dass man den Handschuh sogar ganz nett finden konnte. So eignete er sich beispielsweise hervorragend zum Boxen und saß ja auch eindeutig an der besseren Hand.

Wie Rejmus eigentlich mit seinem Kameraden Marten kommunizierte, wusste keiner, und es machte sich auch keiner die Mühe, es herauszufinden. Sie waren ein Paar für sich, Sonderlinge, wie man so sagte, und vielleicht hatte Marten einfach die nötige Geduld, die Silben abzuwarten, die in einem abgehackten und alles andere als steten Strom aus dem Mund seines Schulkameraden plumpsten.

Oder sie verständigten sich in einer Art Zeichensprache, während der Schulzeit dann allerdings nur mit einer Hand. Obwohl Marten natürlich wie gewohnt reden konnte, denn ganz gleich, was alles auf der Liste über Rejmus Fistes Makel stand, taub war er zumindest nicht.

Dass die beiden nach dem ersten abgeschlossenen Schulhalbjahr der schlechteste beziehungsweise zweitschlechteste Schüler der Klasse waren, wurde auch kaum in Frage gestellt.

Im Januar 1958 wehte der beißendste Nordwind seit Menschengedenken. Tag für Tag, Woche für Woche. Die Kanäle bei Gruydern und Birkenberje froren zu, und wenn der Wind an manchen Sams- und Sonntagen von einer steifen zu einer mäßigen Brise abflaute, liefen manche auf Schlittschuhen bis nach Oostersee. Der Ort lag eigentlich nicht besonders weit weg, höchstens fünf oder sechs Kilometer, aber bei Gegenwind hatte man bisweilen das Gefühl, einen Berg hochzulaufen. Dafür kam man auf dem Heimweg natürlich umso leichter voran.

Die Erstklässler gingen allerdings niemals Schlittschuhlaufen. Sie wären fortgeweht worden.

Im Schulsaal heizte Lehrerin Bolster den Kamin, dass es krachte. Ein Schulinspektor aus Kaalbringen besuchte die Schule für einen halben Tag und stellte dabei fest, dass alles gut aussah, wenn man einmal davon absah, dass Rejmus Fiste in der ersten Reihe die Gelegenheit nutzte, um in die Hose zu machen. Als direkte Ursache dafür betrachtete man die Tatsache, dass er auf Grund seines Stotterns nicht oder nicht rechtzeitig um Erlaubnis zu bitten vermochte, die Toilette aufsuchen zu dürfen, und folglich ließ sich dies weder dem Unterricht als solchem noch etwas anderem zur Last legen. Zwei Ohrfeigen, eine auf jede Wange, und die Sache konnte zu den Akten gelegt werden.

Am selben Tag, allerdings am Abend, trafen sich Marten und Rejmus auf dem Dachboden im Haus des Erstgenannten in der Beerenstraat. Es war ein Ort, an dem sie sich gern...