Über Meereshöhe

von: Francesca Melandri

Verlag Klaus Wagenbach, 2019

ISBN: 9783803142542 , 208 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Über Meereshöhe


 

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Die Insel lag nicht auf hoher See, auch wenn es so schien. Vom Festland, eigentlich selbst nur eine Insel – wenngleich eine der größten des Landes –, trennte sie eine Meerenge. Auf den ersten Blick konnte man meinen, dass sie schwimmend leicht zu durchqueren wäre. Die Winde, die durch sie hindurchfegten, trugen alles fort, jeden Dampf, jeden Rauch, jede Unreinheit der Luft, selbst die schwärzlichen Wolken der Ölraffinerie am Hafen, und so wirkte die Insel so nahe, als könne man hinübergreifen. Aber das täuschte. Ihre klaren Umrisse verdankte sie dem starken Atem des Mittelmeeres, das sich von hier aus weit und leer bis nach Gibraltar öffnete und in der Meerenge Strömungen zusammenführte, die tatsächlich eine Durchquerung für jeden noch so guten Schwimmer unmöglich machten.

Selbst für Schiffe war es nicht leicht, diese Meeresstraße mit dem Wasser von der Farbe kupfersulfatblauer Reben zu überqueren. Darunter wimmelte es von tückischen Felsen, die unversehens jeden Kiel aufschlitzen könnten, wenn man sie in einem Wellental überfuhr. Und bei den wandernden Sandbänken auf dem Meeresgrund ließ sich nur mithilfe eines Echolots feststellen, wohin der letzte Südweststrom sie getrieben hatte. Um von dem Industriehafen auf der großen Insel hinüberzugelangen, musste also der Bug fast in entgegengesetzte Richtung, aufs offene Meer hinaus, gerichtet werden. Erst nach einigen Seemeilen konnte man das Steuerrad drehen und auf die beiden wie Kamelhöcker geformten Erhebungen zuhalten. Und schon kurz darauf war dann von der Raffinerie mit ihren Schornsteinen, rot und weiß wie riesengroße Zuckerstangen, fast nichts mehr zu sehen.

Die Insel lag nicht auf hoher See, auch wenn es so schien. Ganz ähnlich wie ich, dachte Paolo. Und sofort war ihm, als höre er Emilia sagen: Hör doch auf, in allem Symbole zu erkennen. Die Dinge sind das, was sie sind. Mehr nicht. Es war noch die fröhliche Stimme der selbstbewussten jungen Frau, die, frisch verheiratet, seinen Kopf zwischen die Hände genommen und auf ihre Brust gelegt hatte, damals als der Schmerz sie noch nicht vernichtet und ihm genommen hatte.

Paolo lehnte sich über die Brüstung und blickte in den weißen Schaum, der durch das Zusammenspiel von grauem Stahl und nachtblauem Meer entstand. Das Kielwasser des Passagierschiffes spreizte sich v-förmig auf einer fast öligen Oberfläche. Als sie, nach der Überfahrt mit der Autofähre, auf der Mole auf dieses Schiff warteten, hatte Paolo einen vielleicht dreißigjährigen Mann sagen hören, dass die glatte See wohl nichts Gutes verheiße. Er trug die graue Uniform des Gefängnispersonals, aber seine feinen Gesichtszüge hätten auch die eines Seminaristen oder Schauspielers sein können. Eine Hand an der Pistolentasche, hatte er das Einholen des Landungsstegs überwacht, als wollte er sicherstellen, dass niemand heimlich an Bord ging. Paolo hatte sich gefragt, wer sich bloß unbemerkt an Bord schleichen sollte, um ausgerechnet auf diese Insel zu gelangen.

Die Komplizen eines Ausbruchs.

»Und der Mond hatte heute Nacht einen Hof«, fügte der Vollzugsbeamte mit den feinen Gesichtszügen noch an. Er sprach mit einem Matrosen, der gerade das letzte Tau von der Landebrücke löste. Dieser sog die Luft zwischen den Zähnen ein, wie um die Ängste des anderen zu zerstreuen, und erklärte dann in einem Dialekt oder einer Sprache, von der Paolo nur einen Teil verstand und den Rest erraten musste: Sein Kapitän werde die Fähre ganz sicher rechtzeitig zurückbringen, heute komme sein Sohn aus den USA zurück, da habe er bestimmt nicht vor, sich von einem Seesturm auf der Insel festhalten zu lassen. Paolo betrachtete das Meer. Einen Moment lang vergaß er, wer er war und wohin er fuhr, vor allem aber aus welchem Grund. Sein Blick ruhte nur auf dem Wasser, das ihn umgab. Es war immer noch so glatt wie zuvor, doch vor der Sonne hatte sich ein dunklerer Schleier gebildet.

Glatt wie ein kostbarer Stoff, wie Seide.

Der Vergleich brachte Paolo zu sich selbst zurück – so wie Gedanken das eben tun –, und dieser kurze, wohltuende Moment des Vergessens war dahin. Er hob den Blick. Es war keine öffentliche Fähre, auf der sie übersetzten, denn der Zugang zur Insel war gesperrt, und wer hinüberwollte, musste schon einen guten Grund dafür haben. Und das konnte nur einer sein.

Wie immer, wenn es zurückkehrte, legte sich das Bewusstsein seiner selbst wie ein schwerer Grabstein auf seine Brust. Paolo öffnete den Mund und stieß die Luft so kräftig aus, als müsse er sich tatsächlich von einer schweren Last befreien. Seit wie vielen Jahren schon entfuhren ihm diese unwillkürlichen, lauten Seufzer, die noch kein Stöhnen waren, aber auch schon mehr als ein bloßes Ausatmen, und mit denen er immer rechnen musste, auch wenn er irgendwo von Menschen umgeben war: an einem Gemüsestand auf dem Markt etwa, in einer Warteschlange auf der Post, beim Mittagessen im Haus seiner Schwester? Es war wirklich keine schwere Frage, die Antwort kannte er: drei Jahre, sechs Monate und ein paar Tage.

Auf einer angerosteten, weiß lackierten Bank auf dem Vorderdeck saß eine Afrikanerin. Sie blickte starr vor sich hin, ihr Profil wie eingeritzt in dunkles Holz. Ihre Kleider schienen aufs Geratewohl aus einer großen Kiste herausgegriffen, vielleicht im Lager irgendeines Wohlfahrtsverbandes. Doch selbst in dem unförmigen, für das noch milde Klima zu dicken Mantel, den ihre außergewöhnlich langen dunklen Finger mit den makellosen rosafarbenen Nägeln zusammenhielten, war sie eine wahre Schönheit. Ob ihr das bewusst war?

Die meisten Passagiere waren Frauen, nur wenige Männer. Da es oben kühl war, saßen fast alle unter Deck im Aufenthaltsraum, der mit unbequemen Holzbänken eingerichtet war. Und alle hatten sie ein Paket dabei, in Packpapier, in Sackleinen oder in große Plastiktüten eingewickelt, jedenfalls keinen Koffer, sondern etwas, das nicht mit zurückgenommen würde von dem Ort, zu dem sie unterwegs waren.

Auf Deck befanden sich neben Paolo nur die Afrikanerin und eine blonde Frau, der er, wenn er sich nicht täuschte, schon einmal begegnet war. Sie mochte dreißig, vielleicht aber auch schon fünfzig Jahre alt sein. Eine jener Frauen, die so aussahen, als seien sie mit zwölf schon in der Lage gewesen, auf die jüngeren Geschwister aufzupassen und für die ganze Familie Suppe zu kochen und die Wäsche zu bügeln. Eine der Frauen, die mit zwanzig bereits bei all ihren häuslichen Tätigkeiten über die gelassene Routine der mittleren Jahre verfügten. Nicht dass sie schwer oder dick gewesen wäre, ganz im Gegenteil, sie besaß den schlanken, kräftigen Körper eines Menschen, der daran gewöhnt war, ihn auch einzusetzen. Vielleicht war sie in jungen Jahren eine gute Sportlerin gewesen. Was sie am Leibe trug, schien ihr bestes Kleid zu sein, obwohl es jetzt zerknittert war von einer Reise, die wahrscheinlich bereits vor dem Überqueren dieser Meeresenge lang und anstrengend gewesen war. Paolo erinnerte sich jetzt wieder, wann er sie schon einmal gesehen hatte: am Vorabend, beim Einschiffen auf die Autofähre, die sie vom Festland zu der großen Insel hinübergebracht hatte. Später war er ihr nicht mehr begegnet. Allerdings hatte er danach auch sofort seine Kabine aufgesucht und sie bis zum Anlegen an diesem Morgen, im Hafen neben der Ölraffinerie, nicht mehr verlassen.

Jetzt stand die Frau am Bug, die Hände an der Reling, den Mund ein wenig geöffnet, und schien den Blick ihrer fast kindlich weit aufgerissenen Augen nicht von der Weite des Meeres um sie herum abwenden zu können.

Paolo war sich sicher: Es ist das erste Mal, dass sie das Meer sieht.

Sechs Bänke waren auf dem Vorderdeck des Schiffes, drei auf jeder Seite.

Die Geländer links und rechts bestanden aus sieben Stangen, die zwei waagerechte Rohre sowie den Handlauf trugen.

Zellen für den Transport der Häftlinge gab es acht, aber sie befanden sich auf dem Unterdeck, und da sie nicht zu sehen waren, zählte Luisa sie auch nicht.

Es lief alles gar nicht so schlecht, sagte sie sich häufig. Oder zumindest hätte auch alles viel schlechter laufen können. Was man da sonst so für Geschichten mitbekam: etwa von der bedauernswerten Frau, der ein Richter die Besuchsgenehmigung mit der Begründung verweigerte, für dieses Trimester habe sie alle ihr zustehenden Besuche bereits ausgeschöpft, wodurch sie plötzlich erfuhr, dass ihr Mann vor der Behörde eine andere als seine Ehefrau ausgab, während sie, die echte Ehefrau, sich allein zu Hause um die fünf gemeinsamen Kinder kümmern musste. Oder von dieser anderen Frau, die damals in Voghera neben Luisa an dem langen Tisch in dem Besuchsraum gesessen und ihrem inhaftierten Mann ein Paar selbst gestrickte Hüttenschuhe mitgebracht hatte. »Ich will keine Pantoffeln, ich will hier raus!«, hatte er sie angeherrscht und ihr die Hüttenschuhe ins Gesicht geworfen.

Immer wieder spielten sich in den Besuchsräumen dramatische Szenen ab. Viele Frauen von Gefangenen hatte Luisa beim Abschied weinen sehen – sehr viel häufiger als beim Eintreffen, das aber sicher nicht nur wegen der Trennung. Sie selbst allerdings hatte in all den Jahren (neun waren es und zehn Monate) noch nichts Schlimmes erlebt, und deshalb sagte sie sich, dass sie ja noch Glück hatte. Ihr Mann pflegte die Pakete, die sie ihm brachte, mit einem Kopfnicken anzunehmen, oftmals bedankte er sich sogar.

Manchmal hatte Luisa sogar auf der anderen Seite des langen Tisches kurz das Gesicht wieder vor sich gesehen, in das sie sich verliebt hatte, als er sie zum ersten Mal zum Tanz ausführte. Ziemlich bald nach ihrer Hochzeit war dieses Gesicht dann aber verschwunden, und erst...