HOLD

von: Helena Hunting

LYX, 2019

ISBN: 9783736310216 , 360 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

HOLD


 

1


WÜTENDER SCHARFER TYP

Rian

Ich gehe die Werbeprospekte mit den Sonderangeboten durch auf der Suche nach der Riesenpackung Cinnamon-Toast-Crunch-Müsli. Ich bin sehr gewissenhaft, wenn es darum geht, den günstigsten Preis zu finden. Ich markiere das Angebot mit einem großen Kreis, bevor ich den roten Filzstift vorn in mein Top stecke. Falls ich an der Kasse feilschen werde, sollen es die Kassiererin und die Leute hinter mir in der Schlange so einfach wie möglich haben. Nichts ist schlimmer, als sich hinter einer unorganisierten Pfennigfuchserin die Beine in den Bauch zu stehen.

Ich wippe ein wenig zu dem Lied, das aus den Lautsprechern dudelt, während ich Schachteln von meinem liebsten ungesunden Müsli in meinen Einkaufswagen packe. Auf einmal spüre ich ein Kribbeln im Nacken und erschauere, als ich über die Schulter schaue. Eine Mutter hastet im Gang an mir vorbei, während sich ihr Knirps gefährlich weit aus dem Wagen lehnt, um nach einer Schachtel Fruit-Roll-Ups zu greifen. Ich kann es ihm nicht verdenken. Ihr künstlicher Geschmack ist einfach köstlich.

Doch die Mutter-Knirps-Combo ist nicht der Grund für das Kribbeln. Auf halber Höhe des Gangs steht ein Anzugträger. Ein großer Anzugträger. Über einen Meter achtzig in teuren dunkelgrauen Stoff gehüllt. Er hat weder einen Wagen noch einen Korb. Und er starrt mich an. Seltsam. Ich kann nicht lange genug hinschauen, um zu entscheiden, ob ich ihn kenne, ohne dass deutlich wird, dass ich zurückstarre.

Ich verspüre den Wunsch, mein Aussehen zu prüfen, besorgt darüber, dass ich nur deshalb seine Aufmerksamkeit errege, weil mein Haar furchtbar aussieht oder weil ich einen Schweißfleck am Rücken habe. Ich bin wirklich nicht besonders anziehend. Ich komme gerade von einer Bootcamp-Stunde in dem neuen Fitnessstudio, das ich auf Drängen meiner Zwillingsschwester ausprobiert habe.

Marley hat online einen Zwei-für-einen-Gutschein für vierzig Mäuse gekauft, weshalb ich jetzt sechsmal mit ihr zu diesem dämlichen Training gehen soll. Letzte Woche habe ich es geschafft zu schwänzen, doch das würde sie mir nie zweimal hintereinander durchgehen lassen. Mein Tanktop ist noch immer feucht von der Anstrengung, ich schwitze furchtbar unter den Brüsten, und mein Tanga sitzt irgendwie schief. Wenn ich allein in dem Gang wäre, würde ich ihn zurechtziehen, aber da ist der Kerl im Anzug, weshalb ich den Tanga vorerst dort lassen muss, wo er ist, nämlich unangenehm zwischen meinen Schamlippen eingeklemmt.

Der Anzugträger richtet seine Aufmerksamkeit hastig auf die Regale und nimmt das Glas, das direkt vor ihm steht und zufälligerweise Trockenpflaumen enthält. Er betrachtet es und scheint zu begreifen, worum es sich handelt, denn er stellt es schnell zurück und greift nach einem anderen Produkt. Ich verkneife mir ein Lächeln, erfreut darüber, dass ich sogar in meinem abstoßenden Zustand beäugt werde. Während der Anzugmann dem Regal vor sich seine Aufmerksamkeit widmet, nehme ich ihn ebenfalls in Augenschein.

Sein Aufzug und seine Haltung stinken nach Geld, und ein Anflug von so etwas wie Verlangen, kombiniert mit Neid schnürt mir einen Moment lang die Kehle zu. Früher hätte ich über die Angewohnheit, Preise zu vergleichen – wie eine echte Idiotin –, gelacht, doch jetzt ist es eine Notwendigkeit.

Dem Anzugträger muss warm sein, wenn man bedenkt, dass es Ende April ist und wir für diese Jahreszeit Temperaturen weit über dem Durchschnitt haben. Aufgrund des figurbetonten Schnitts seines Anzugs vermute ich, dass es sich um eine edle Marke handelt. Dazu trägt er schwarze Lacklederschuhe. Sehr unpraktisch bei diesem Wetter und für diesen Ort. Ist ihm überhaupt klar, dass er in den Hamptons ist?

Er trägt eine Armbanduhr, und sein Profil verrät, dass er nicht älter als Anfang dreißig ist. Wahrscheinlich liegt der einzige Grund, weshalb er eine Armbanduhr trägt, darin, dass sie teuer ist und er damit angeben möchte. In Gedanken habe ich ihn bereits als überhebliches, reiches Arschloch abgestempelt, das ein paarmal die Woche nach NYC fährt, wo es seine Sekretärin vögelt und ein Penthouse mit völlig steriler Einrichtung hat. Den Rest der Zeit arbeitet er von zu Hause aus.

Ich widme mich wieder meinem Einkauf und setze meinen Weg durch den Gang fort, in die entgegengesetzte Richtung – was meine Art ist herauszufinden, ob er sich an mich ranmachen will oder nicht. Ich beobachte ihn aus dem Augenwinkel, während ich weitere Angebote und köstliche, ungesunde Nahrungsmittel aus den Regalen fische. Meine Aufgabe ist es, das ganze Grünzeug auszugleichen, das meine Schwester Marley gerade in der Obst- und Gemüseabteilung zusammensucht.

Ich nehme ein Glas von der markenlosen Erdnussbutter, weil unsere gerade alle und das gute Zeug nicht im Angebot ist, und lasse es in den Wagen plumpsen. Mein Telefon in meiner Handtasche summt die ganze Zeit. Es lenkt mich ab, weshalb ich es nicht länger ignoriere, sondern meine Nachrichten überprüfe.

Sie sind von meiner Schwester.

Wir sind im selben Laden. Er ist nicht besonders groß, weshalb ich nicht verstehe, was so dringend ist, dass sie mir viertausendmal simst, anstatt mich zu suchen.

EINKAUF BEENDEN

SOFORT DEN LADEN VERLASSEN

Wir treffen uns auf dem Parkplatz

RIAN??????

Herrje. Was ist denn jetzt wieder los? Vielleicht wird der Supermarkt ja ausgeraubt. Heiliger Bimbam. Was, wenn tatsächlich ein Supermarktüberfall stattfindet? Ich bin kurz davor, den Wagen zurückzulassen, um Marley zu suchen und dem Chaos in meinem Kopf zu entfliehen. Es ist alles ziemlich dramatisch. Als ich mich umdrehe, stehe ich direkt vor dem Anzugträger.

Ich ziehe die Luft ein und schlage mir die Hand vor die Brust. Das Tanktop ist noch immer feucht und meine Haut mit salzigem Schweiß bedeckt, weshalb ich die Hand rasch sinken lasse, weil igitt.

»Hi.« Sein Ausdruck ist schwer zu deuten. Er wirkt … selbstzufrieden.

»Hi, hallo. Äh …« Ich wedle mit der Hand durch die Luft, ein wenig verwirrt und hin- und hergerissen, denn es passiert nicht oft, dass ich von einem so sexy Typen angesprochen werde – und obendrein in einem Supermarkt. Vielleicht kommt er nächste Woche wieder. »Es tut mir leid, ich würde gern Ihr hübsches Gesicht anschauen, ich meine …« Mist, wieso sind Worte nur so schwer zu finden? »Ich muss gehen.«

Ich will um ihn herumgehen, doch er imitiert meine Bewegung, wobei er die Haltung eines Linebackers einnimmt, als würde er mich angreifen wollen. Was eine seltsame Art ist, sich vorzustellen.

»Erkennen Sie mich?«, fragt er mit hochgezogener, perfekter Braue. Ich zermartere mir das Gehirn nach Ort und Zeit, wo und wann ich ihm vielleicht schon mal begegnet bin. Ich glaube aber nicht. Sein hellbraunes Haar ist gepflegt, und der Schnitt des Anzugs betont alle seine Vorzüge. Na ja, die jugendfreien jedenfalls.

Er stellt sich breitbeinig hin und verschränkt die Arme vor der Brust. Einer sehr breiten Brust. Die Ärmel seines Jacketts spannen sich über seinen prallen, angespannten Muskeln. Schon allein wegen seiner Größe wirkt er einschüchternd, doch wir befinden uns in einem Supermarkt, weshalb ich mich relativ sicher fühle. Und er ist einfach umwerfend. Was ein dummer Grund ist, sich keine Sorgen zu machen – ein paar der berüchtigtsten Serienmörder waren ebenfalls attraktiv. Außerdem muss ich meine Schwester finden, für den Fall, dass der Supermarkt tatsächlich überfallen wird – obwohl uns dieser Anzugträger womöglich retten könnte.

Ich verschränke ebenfalls die Arme, aber ich glaube nicht, dass ich einschüchternd wirke. Ich erreiche damit nur, dass ich meine Brüste in meinem feuchten Sport-BH zusammendrücke und der Filzstift in die rechte pikt. »Sollte ich?«

Er mustert mich und verzieht dabei den Mund zu einem leichten Grinsen. Sein Blick bleibt für ein paar Sekunden an dem Filzstift hängen, bevor er mir wieder in die Augen blickt.

Kann sein, dass ich ihm in einer Bar begegnet bin, aber ich schwöre, an sein Gesicht würde ich mich erinnern. Die Barszene entspricht auch mehr meiner Schwester. Oh Gott. Es ist möglich, dass er mich mit ihr verwechselt. So etwas ist früher schon passiert.

Während wir auf den ersten Blick für die meisten Leute gleich aussehen, sind wir in Wirklichkeit zweieiige Zwillinge. Nach ein paar Begegnungen können uns die meisten Leute auseinanderhalten. Ich habe rechts über dem Mund einen markanten Marilyn-Monroe-Leberfleck, und meine Augen sind bernsteinfarben, während Marleys mehr ins Grüne tendieren. Mein Mund ist zu groß für mein Gesicht, meine Lippen sind ein bisschen zu voll und meine Nase ist zu klein. Jedenfalls ist das meine Wahrnehmung. Marley ist auch die Extrovertiertere von uns beiden und knapp drei Zentimeter größer als ich. Und zehn Pfund leichter.

Marley ist bei Männern weniger zurückhaltend, weshalb es ein paar unangenehme Ereignisse gab, bei denen mich verflossene Liebhaber ansprachen und fragten, weshalb ich nicht zurückgerufen hätte. Es wäre zu schade, wenn das hier der Fall wäre, weil dieser Typ unglaublich attraktiv ist und es schön wäre, wenn er nicht einer der abgelegten Liebhaber meiner Schwester wäre.

Sein Gesicht ist ein Meisterwerk maskuliner Perfektion – gerade Nase, hohe Wangenknochen, scharfes Kinn, mit dem man Glas schneiden könnte, volle Lippen. Vor allem die Unterlippe. Die Art von voll, die mich ans Küssen denken lässt, mit Zunge natürlich. Er besitzt die Attraktivität eines Spitzensportlers, mit einem Hauch...