Follow Me Back

von: A.V. Geiger

LYX, 2019

ISBN: 9783736310384 , 358 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Kapitel 1


Projektion

12. August 2016

»Du bist nicht besessen. Du projizierst.«

»Ich projiziere?« Tessa sah von dem dicken braunen Haarstrang auf, den sie schon seit einer halben Stunde immer wieder aufs Neue flocht und löste. Verunsichert blickte sie zu ihrer Psychotherapeutin Dr. Regan hinüber, die auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers saß.

»Das ist ein gewöhnlicher Abwehrmechanismus«, erklärte Dr. Regan. Ihr Tonfall blieb dabei so emotionslos wie gewohnt – sie war quasi die menschliche Version eines Generators, der weißes Rauschen produziert –, doch sie rutschte sichtlich unbehaglich auf ihrer Sitzgelegenheit herum. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem niedrigen pinkfarbenen Sitzsack und bemühte sich, ihr professionelles Gebaren aufrechtzuerhalten. Eigentlich empfing sie Klienten ausschließlich in ihrer Praxis, doch für Tessa machte sie eine Ausnahme.

Tessas Blick fiel auf die Strumpfhose der älteren Dame, die an den Knien Falten warf, und sie verspürte eine gewisse neidvolle Bewunderung. Man brauchte schon einiges an Willenskraft, um in der Sommerhitze von West Texas Nylonstrumpfhosen zu tragen. Tessa dagegen trug lediglich ein Tanktop und eine kurze Schlafhose aus Baumwolle, die ihr kaum bis zu den schlanken Schenkeln reichte.

»Projektion«, erläuterte Dr. Regan. »Diesen Ausdruck verwenden wir, wenn eine Person ihre eigenen Gedanken und Gefühle auf eine andere Person überträgt – in deinem Fall auf einen Prominenten.«

»Aber ich bin Eric Thorn noch nie begegnet. Ich war bisher noch nicht mal bei einem seiner Konzerte.«

Dr. Regan nahm Tessas Gedankentagebuch zur Hand und schlug es am Anfang auf. Die Zeichnungen, die auf den Einband gekritzelt waren, ließ sie dabei unkommentiert: ein Durcheinander aus Herzen, Waldkreaturen und augenlosen, menschlichen Gesichtern. Von wegen Projektion, dachte Tessa und rümpfte die Nase. Wahrscheinlich wäre es sinnvoller, darüber zu sprechen, dass sie es nicht einmal ertrug, von ihren selbst gezeichneten Strichmännchen angesehen zu werden.

Dr. Regan deutete auf einen der ersten Tagebucheinträge, den Tessa verfasst hatte. »Erzähl mir etwas hierüber. Was hat dich so sehr an ihm fasziniert, dass du etwas über ihn schreiben wolltest?«

»Über Eric?« Tessa nahm das spiralgebundene Tagebuch zur Hand und überflog die Seite. »Ich denke, der Auslöser war, dass ich mir TMZ angeschaut habe. Dort war zu sehen, wie er mit irgendeiner Schauspielerin, die in Pretty Little Liars mitspielt, durch New York City schlenderte. Selbstverständlich gingen die bei TMZ davon aus, dass die beiden ein Paar sind.«

»Aber das ist nicht das, was du aufgeschrieben hast.«

»Natürlich nicht. Haben Sie schon mal TMZ gesehen? Das ist wie Fanfiction, nur noch unglaubhafter.«

Dr. Regan hob die Augenbrauen – das Höchstmaß dessen, was sie an Mienenspiel zuließ. Sie schob die Hornbrille auf der Nase nach oben. »Sag mir, was du stattdessen geschrieben hast.«

Tessa zog die Knie an die Brust. Mit leichtem Unbehagen erinnerte sie sich wieder daran, welche Faszination die unscharfen Aufnahmen der Paparazzi auf sie ausgeübt hatten. Eric und diese Frau … Er hatte nicht gewirkt, als hätte er ein Date mit ihr. Nicht im Entferntesten. Im Video war zu sehen gewesen, wie er schnell lief, einen kurzen verstohlenen Blick über die Schulter warf und dann das Tempo weiter steigerte. Daraufhin hatte die Kamera ihn herangezoomt. Seine durchdringenden blauen Augen hatten sie vom Bildschirm aus direkt angesehen. Und sein Gesichtsausdruck …

»Er sah nicht aus wie ein glücklicher Mann, der eine neue Freundin hat«, erklärte Tessa ihrer Therapeutin. »Zumindest nicht für mich.«

»Wie sah er denn deiner Meinung nach aus?«

Tessa schloss die Augen. »Als hätte er wahnsinnige Angst.«

»Gut, Tessa.« Dr. Regan belohnte sie mit einem Kopfnicken. »Und was, glaubst du, sagt das über deine eigene Gemütsverfassung aus?«

»Wollen Sie damit sagen, ich hätte mir das nur eingebildet? Dass ich eigentlich diejenige bin, die wahnsinnige Angst hat?«

Dr. Regan beugte sich konzentriert nach vorn. Sie strich sich eine grau melierte Haarsträhne hinters Ohr.

»Das könnte natürlich sein«, sagte Tessa bedächtig. »Das ist wahrscheinlich eine meiner schlimmsten Ängste. In einer Stadt auf einem überfüllten Gehweg zu laufen, ohne zu wissen, ob ich verfolgt werde …«

Dr. Regan nahm das Gedankentagebuch und schlug es zu. »Ausgezeichnet. Sprich weiter.«

»Allerdings war das nicht das einzige Mal«, dachte Tessa laut nach. »Jedes Mal, wenn er direkt in eine Kamera blickt, kann man diesen Funken Angst erkennen.«

»Angst wovor?«

»Als fühle er sich von etwas verfolgt. Verfolgt oder –« Tessa verstummte, suchte nach einem passenden Wort. Ihr Blick wanderte über den Einband des Tagebuchs und blieb an einem der Rehkitze hängen, die sie dabei gezeichnet hatte, wie sie um ihr Leben rannten. »Gejagt vielleicht? Keine Ahnung.«

»Das ist sehr interessant, Tessa.«

»Tatsächlich? Das ist interessant?« Tessa konnte nicht anders, sie musste lachen. Interessant. Das war mit Sicherheit einer dieser schwammigen Begriffe, die Seelenklempner auf Patienten anwendeten, die vollkommen einspurig dachten. Dr. Regan hatte ja keine Ahnung. Jedes Mal, wenn Tessa sich hinsetzte, um ihre Achtsamkeitsübungen zu machen, endete es damit, dass sie Geschichten über Eric Thorn schrieb. Schon zwei komplette Tagebücher hatte sie mit diesen ausgeklügelten Storys gefüllt. »Das kann doch nicht normal sein, oder?«

Dr. Regan zückte einen Schreibblock und machte sich eine kurze Notiz. »Eventuell fühlst du dich bei der Erforschung deiner eigenen Ängste sicherer, wenn du sie jemand anderem zuschreibst. Das kann sogar recht nützlich sein, vorausgesetzt, man ist sich dessen, was man tut, bewusst. Überleg mal, inwiefern deine Theorien über diesen Prominenten mit den Vorkommnissen vom Juni in Verbindung stehen könnten.«

Tessa reagierte mit einem erstickten Laut und schlang die Arme noch fester um die Knie. Sie hatte den ganzen Juni in New Orleans verbracht, um an einem achtwöchigen Kurs in kreativem Schreiben für Teenager teilzunehmen – oder zumindest hätte er acht Wochen dauern sollen. Tessa hatte nach vier Wochen abgebrochen und war zurück nach Hause, in die Sicherheit ihres eigenen Zimmers, geflohen. Inzwischen war der Sommer fast vorbei, und sie brachte es noch immer nicht fertig, über den Grund ihrer Abreise zu sprechen. »Nein – Sie meinten, dass ich das nicht muss – erst, wenn ich dazu bereit bin –«

»Okay, Tessa.« Dr. Regan hob beschwichtigend die Hand. »Vergiss nicht deine Atemübungen. Gut so.«

Tessa schluckte. Die aufsteigende Angst drohte sie zu überwältigen, doch sie konzentrierte sich auf die eine Sache, die sie stets zuverlässig ablenkte. Eric. Eric Thorn. Tessa wiederholte seinen Namen wieder und wieder in ihrem Kopf und zog dabei tief die Luft ein. Eigentlich sollte sie nun kurz den Atem anhalten und dabei bis fünf zählen, doch sie hatte diese Entspannungstechnik ein klein wenig abgeändert. Eric eins … Eric zwei … Eric drei … Tessa beobachtete, wie sich ihr Brustkorb langsam hob und senkte, bis ihre verkrampften Schultern sich langsam lockerten.

»Gut, Tessa«, sagte Dr. Regan. »Wenn du dich mit Eric Thorn als Gesprächsthema am wohlsten fühlst, können wir uns gern auf ihn konzentrieren.«

»Ich begreife nur nicht, weshalb ich mir ihn ausgesucht habe. Warum ausgerechnet Eric Thorn?«

»Das musst du mir sagen, Tessa. Warum, glaubst du, bist du so auf ihn fixiert?«

Tessa spürte, dass ihr Gesicht ganz heiß wurde. Sie war schon sein Fan, seitdem er vor einigen Jahren sein Debütalbum veröffentlicht hatte, doch neuerdings hatte ihre Faszination für ihn ganz neue Blüten getrieben. Sie überstieg sogar die Geschichten, die sie in ihrem Gedankentagebuch niederschrieb. Wann immer sie ein neues Bild von ihm entdeckte, verspürte sie sofort den unwiderstehlichen Drang, es auf ihrem Handy abzuspeichern. Sie besaß inzwischen mehr Fotos von Eric Thorn als von irgendjemandem, den sie im wahren Leben kannte. In ihrem Zimmer hatte Tessa alle Fotografien, mit denen die blassgelben Wände einst dekoriert gewesen waren, abgenommen. Nur das Konzertplakat von Eric Thorn hatte sie an seinem Ehrenplatz über dem Bett belassen.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Tessa. »Vielleicht, weil er heiß ist?« Sie warf über die Schulter hinweg einen Blick auf das Poster, betrachtete die so vertraute Szene: Eric, der auf der Bühne performte, mit einer E-Gitarre vor der muskulösen Brust. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, die Augen geschlossen, war ganz verloren in der Musik …

Dr. Regan musterte über den Rand ihrer Brille hinweg Erics verschwitzten Torso. »Das ist aber vermutlich noch nicht alles«, sagte sie. »Aber belassen wir es erst einmal dabei, und du denkst bis zu unserer nächsten Sitzung über diesen Punkt nach. Kommen wir zu deinen Desensibilisierungsübungen. Wie kamst du diese Woche mit ihnen voran?«

Tessa knabberte an ihrem Daumennagel, den sie ohnehin schon komplett abgekaut hatte. Während sie noch zögerte, unterbrach ihre Therapeutin das Schweigen.

»Letzte Woche hast du es geschafft, eine halbe Stunde lang mit deiner Mutter und deinem Freund Scott unten im Wohnzimmer zu sitzen.«

»Ja«, murmelte Tessa.

»Und dein Ziel für diese Woche war es, den Türknauf der Haustür zu...