Am dunkelsten Tag - Roman

von: Nora Roberts

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641231958 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Am dunkelsten Tag - Roman


 

1


Am 22. Juli 2005, einem Freitag, bestellte Simone Knox eine große Fanta Orange zu ihrem Popcorn und dem Weingummi. Ihre Wahl, Simones übliches Menü im Kino, veränderte ihr Leben, ja rettete es höchstwahrscheinlich. Trotzdem würde sie nie wieder Fanta trinken.

Aber in diesem Moment wollte sie sich nur mit ihren beiden allerbesten Freundinnen in den Kinosaal setzen und sich in der Dunkelheit verlieren.

Denn ihr Leben – derzeit und definitiv für den Rest des Sommers und vielleicht sogar für alle Zeit – war komplett ätzend.

Der Junge, den sie liebte und mit dem sie seit sieben Monaten, zwei Wochen und vier Tagen ausschließlich zusammen gewesen war, der Junge, mit dem sie gemeinsam durch das bevorstehende letzte Collegejahr hatte gehen wollen – Hand in Hand, Herz an Herz –, hatte Schluss gemacht.

Mit einer Textnachricht.

Will nicht mehr meine Zeit mit dir verschwenden, weil ich mit jemandem zusammen sein will, der auch zu allem bereit ist, und das bist du nicht. Wir sind fertig miteinander.

Das konnte er doch bestimmt nicht so gemeint haben, also versuchte sie, ihn anzurufen – aber er ging nicht ans Telefon. Sie hatte ihm drei Nachrichten geschickt und sich selbst gedemütigt.

Dann war sie auf seine Facebook-Seite gegangen. Demütigend war noch zu schwach für das, was sie dort lesen musste.

Habe das alte SCHADHAFTE Modell gegen ein heißes neues eingetauscht.

Simone ist out!

Tiffany ist in!

Der LOSER ist Vergangenheit, und ich werde den Sommer und das letzte Jahr mit dem heißesten Mädchen im Jahrgang 2006 verbringen.

Sein Post – mit Bildern – hatte schon Kommentare hervorgerufen. Sie wusste natürlich, dass er seine Freunde aufgefordert hatte, gemeine, hässliche Dinge über sie zu schreiben, aber deshalb tat es doch nicht weniger weh.

Tagelang hatte sie getrauert. Sie genoss den Trost und die gerechte Wut ihrer zwei besten Freundinnen. Sie ärgerte sich über die Sticheleien ihrer jüngeren Schwester, schleppte sich zu ihrem Sommerjob und einmal in der Woche zu den Trainerstunden im Tennisclub, auf die ihre Mutter bestand.

Eine Textnachricht von ihrer Großmutter brachte sie zum Weinen. CiCi mochte beim Dalai Lama in Tibet meditieren, mit den Stones in London um die Wette rocken oder in ihrem Atelier auf Tranquility Island malen, aber sie fand immer alles heraus.

Es tut jetzt weh, und der Schmerz ist real, also umarme ich dich, mein Schatz. Aber in ein paar Wochen wirst du merken, dass er einfach nur ein Arschloch ist. Lass ihn hinter dir. Namaste.

Simone fand nicht, dass Trent ein Arschloch war (Tish und Mi jedoch schlossen sich CiCis Meinung an). Vielleicht hatte er ja nur mit ihr Schluss gemacht – und zwar auf eine echt gemeine Art und Weise –, weil sie es nicht mit ihm machen wollte. Sie war einfach noch nicht bereit dazu. Außerdem hatte Tish es nach der Junior Prom – und noch zwei weitere Male – mit ihrem Exfreund getan, und er hatte sich trotzdem von ihr getrennt.

Das Schlimmste war, dass sie Trent immer noch liebte. In ihrem verzweifelten, sechzehnjährigen Herzen wusste sie, dass sie nie wieder jemand anderen lieben würde. Sie hatte die Seiten aus ihrem Tagebuch gerissen, auf denen ihre zukünftigen Namen geschrieben standen – Mrs. Trent Woolworth, Simone Knox Woolworth, S. K. Woolworth –, und sie in kleine Fetzchen gerissen. Zusammen mit allen Fotos, die sie von ihm besaß, hatte sie sie in der Feuerschale auf der Terrasse in einer feierlichen Zeremonie mit ihren Freundinnen verbrannt. Und trotz alledem: Sie liebte ihn immer noch.

Aber, wie Mi immer sagte, das Leben ging weiter, auch wenn ein Teil von ihr am liebsten gestorben wäre, deshalb ließ sie sich von ihren Freundinnen ins Kino mitschleppen.

Sie war es sowieso leid, schmollend allein in ihrem Zimmer zu sitzen oder mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester im Einkaufszentrum herumzuhängen, also ließ sie sich zum Kino überreden. Mi war an der Reihe, den Film auszusuchen, und so musste Simone wohl oder übel in einen Science-Fiction-Film mit dem Titel Die Insel mitgehen.

Tish hatte nichts gegen Mis Wahl. Als zukünftige Schauspielerin empfand sie alle Filme und Theaterstücke als Pflicht und Vorbereitung auf den Beruf. Außerdem rangierte Ewan McGregor unter den ersten fünf von Tishs »Freunden« aus Film und Fernsehen.

»Kommt, wir setzen uns schon mal. Ich will gute Plätze haben.« Mi, klein, kompakt, mit dunklen, dramatischen Augen und dicken schwarzen Haaren, ergriff ihr Popcorn – ohne falsche Butter –, ihr Getränk und die Erdnuss-M&Ms, die sie am liebsten aß.

Mi war im Mai siebzehn geworden, ging nur sporadisch mit Jungs aus, da sie in der letzten Zeit mehr auf Wissenschaft stand, und galt nur deshalb nicht als Nerd, weil sie gut im Turnen war und einen festen Platz in der Cheerleader-Truppe hatte.

Eine Truppe, deren Captain leider eine gewisse Tiffany Bryce war, Freund-Diebin und Schlampe.

»Ich muss noch schnell aufs Klo.« Tish – Popcorn mit doppelt falscher Butter, eine Cola und Junior Mints – drückte ihren Freundinnen ihre Snacks in die Hand. »Ich komme nach.«

»Mach dir nicht schon wieder das Gesicht und die Haare«, warnte Mi sie. »Wenn der Film angefangen hat, kann dich sowieso keiner sehen.«

Außerdem war sie bereits perfekt gestylt, dachte Simone, während sie Tishs Popcorn mit in eines der drei Kinos im DownEast Cineplex mitnahm.

Tish hatte lange glatte, seidige kastanienbraune Haare mit professionellen goldenen Highlights – ihre Mutter war nicht in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts stecken geblieben. Ihr Gesicht – Simone liebte es, Gesichter zu studieren – war ein klassisches Oval, dem Grübchen einen zusätzlichen flirtenden Charme verliehen; und die Grübchen flirteten oft, da Tish immer einen Grund zum Lächeln fand. Simone dachte, dass sie wahrscheinlich auch oft lächeln würde, wenn sie groß und kurvig mit hellblauen Augen und Grübchen wäre.

Und zu allem kam noch hinzu, dass Tishs Eltern sie total in ihren Schauspielambitionen unterstützten. In Simones Augen hatte sie wirklich das große Los gezogen. Aussehen, Persönlichkeit, Verstand und Eltern, die sie verstanden.

Aber Simone liebte Tish trotzdem.

Die drei hatten schon Pläne geschmiedet – geheime Pläne, da Simones Eltern überhaupt nicht cool waren –, den Sommer nach dem Abschluss in New York zu verbringen.

Vielleicht würden sie ja sogar dorthin ziehen – es war bestimmt viel aufregender dort als in Rockpoint, Maine (Simone dachte, dass sogar eine Sanddüne wahrscheinlich aufregender war als Rockpoint, Maine).

Aber New York? Helle Lichter, Horden von Menschen.

Freiheit!

Mi konnte an der Columbia Medizin studieren, Tish würde auf die Schauspielschule gehen und vorsprechen. Und sie … sie konnte irgendwas studieren.

Auf jeden Fall nicht Jura, was ihre uncoolen Eltern wollten. Das war nicht überraschend gekommen, aber so was von lahm und klischeebeladen, denn ihr Vater war ein angesehener Anwalt.

Ward Knox würde zwar enttäuscht sein, aber so war es eben.

Vielleicht würde sie ja Kunst studieren und eine berühmte Künstlerin werden wie CiCi. Ihre Eltern würden außer sich sein. Und wie CiCi würde sie sich nach Lust und Laune Liebhaber nehmen und ihnen wieder den Laufpass geben (wenn sie dazu bereit war).

Sie würde es Trent Woolworth zeigen.

»Komm ins Hier und Jetzt!«, befahl Mi und versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellbogen.

»Was? Ich bin doch hier.«

»Nein, du grübelst schon wieder. Also hör auf, nimm am Leben teil.«

Vielleicht gefiel es ihr ja zu grübeln, aber … »Ich muss die Tür ins Jetzt mit der Kraft meines Geistes öffnen, weil ich die Hände voll habe. Okay, geschafft. Da bin ich wieder.«

»Der Geist von Simone Knox hat’s aber mal echt drauf.«

»Ich muss ihn für wichtige Dinge benutzen und nicht dafür, Tiffany zu Schlampenschmalz zu zerschmelzen.«

»Das brauchst du gar nicht. Ihr Gehirn besteht bereits aus Schlampenschmalz.«

Freunde, dachte Simone, sagten immer das Richtige. Sie würde wieder am Leben teilnehmen mit Mi – und mit Tish, wenn die endlich aufgehört hatte, an ihrem sowieso schon perfekten Gesicht und ihren Haaren herumzuspielen. Sie, Simone, würde mit der Grübelei aufhören.

Da der Film an diesem Freitagabend Premiere hatte, war das Kino bereits halb voll, als sie hineingingen. Mi besetzte sofort drei Plätze in der Mitte. Sie setzte sich auf den dritten Platz vom Gang, sodass Simone – immer noch mit waidwundem Herzen – zwischen ihr und Tish saß, deren lange Beine am Gangplatz am besten aufgehoben waren.

Mi rutschte auf ihrem Sitz hin und her. Sie hatte bereits ausgerechnet, dass in sechs Minuten das Licht gedimmt wurde.

»Du musst morgen Abend auf Allies Party gehen.«

Sofort setzten die Grübeleien wieder ein. »Ich bin noch nicht bereit für eine Party, und du weißt doch, dass Trent mit dieser gehirnamputierten Schlampe Tiffany dahin geht.«

»Genau darum geht es doch, Sim. Wenn du nicht hingehst, denkt jeder, dass du dich versteckst, dass du noch nicht über ihn hinweg bist.«

»Das bin ich ja auch nicht.«

»Du darfst ihm aber nicht die Befriedigung lassen. Du kommst mit uns – Tish geht zwar mit Scott, aber der ist cool –, und du ziehst etwas Tolles an und lässt dich von Tish schminken, denn nur sie kann das richtig. Und du tust ganz gleichgültig: Wer, was, er? Du weißt schon, als wenn du absolut drüber weg wärst. Du legst einen richtigen Auftritt hin.«

Simone war nicht überzeugt. »Ich glaube nicht, dass...