Lieblingskind - Thriller

von: C.J. Tudor

Goldmann, 2019

ISBN: 9783641214234 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Lieblingskind - Thriller


 

1


Geh niemals zurück. Den Rat bekommt man oft zu hören. Alles hat sich verändert. Nichts ist mehr so, wie du es in Erinnerung hast. Lass die Vergangenheit in der Vergangenheit ruhen. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Die Vergangenheit kommt immer wieder hoch. Wie ein schlechtes Curry.

Ich will nicht zurückgehen. Nein. Da steht noch manches höher auf meiner Wunschliste: nicht bei lebendigem Leibe von Ratten gefressen werden, Line-Dance und solche Sachen. Anders gesagt, ich will unter keinen Umständen jemals in das Dreckskaff zurückkehren, in dem ich aufgewachsen bin. Aber manchmal bleibt einem nur die Entscheidung für das Falsche.

Und deswegen fahre ich jetzt noch vor sieben Uhr morgens auf einer kurvenreichen Fernstraße durch die Landschaft von North Nottinghamshire. Ich habe diese Straße seit Langem nicht mehr gesehen. So wie ich auch sieben Uhr morgens seit Langem nicht mehr gesehen habe.

Auf der Straße ist nichts los. Nur ein paar Autos überholen mich, eins hupt (womit der Fahrer zweifellos andeutet, ich behindere seine Lewis-Hamiltonsche Raserei zu irgendeinem beschissenen Job, den er unbedingt ein paar Minuten früher antreten will). Und es stimmt, ich fahre langsam. Nase an der Windschutzscheibe, die Hände ums Steuer gekrampft, dass die Knöchel weiß hervortreten: ganz langsam.

Ich fahre nicht gern. Wann immer möglich, lasse ich es. Ich gehe zu Fuß oder nehme den Bus, für weitere Strecken den Zug. Dummerweise hat Arnhill keine nennenswerten Busverbindungen, und der nächste Bahnhof ist zwölf Meilen entfernt. Da bleibt mir nur das Auto. Wie gesagt, manchmal hat man keine Wahl.

Ich blinke, biege ab und setze die Fahrt auf Landstraßen fort, die noch schmaler und tückischer sind. Auf beiden Seiten erstrecken sich Äcker in nassem Braun oder schmutzigem Grün, Schweine beschnüffeln die Luft in rostigen Wellblechhütten zwischen windschiefen Birkenwäldchen. Sherwood Forest, oder was davon übrig ist. Robin Hood und Little John sieht man heutzutage nur noch auf schlecht gemalten Schildern heruntergekommener Kneipen. Die Männer in diesen Kneipen sind meist ziemlich angesäuselt, und das Einzige, was man einbüßt, sind die Zähne, wenn man diese Männer schief ansieht.

Der Norden ist gar nicht so rau, wie man immer sagt. Und Nottinghamshire liegt ja auch nicht hoch im Norden – höchstens für Leute, die nie über den Höllenring der M25 um London hinausgekommen sind. Aber farblos ist es dort, flach, längst nicht so lebendig, wie man von ländlichen Gegenden erwartet. Als hätten die einst hier so zahlreichen Bergwerke alles Leben von innen heraus weggeschaufelt.

Nachdem ich lange Zeit keinerlei Anzeichen von Zivilisation bemerkt habe, nicht mal einen McDonald’s, taucht endlich ein verwittertes Schild vor mir auf: WILLKOMMEN IN ARNHILL.

Darunter hat irgendein schlagfertiges kleines Arschloch hinzugefügt: UND GLEICH EINS IN DIE FRESSE.

Arnhill hat nichts Anheimelndes. Das Dorf wirkt abweisend, verbiestert und griesgrämig. Man bleibt unter sich und beäugt Besucher mit Misstrauen. Die Leute sind stoisch, unerschütterlich und müde, alles auf einmal. So ein Dorf sieht einen finster an, wenn man kommt, und spuckt auf den Boden, wenn man geht.

Von ein paar Bauernhöfen und älteren Steinhäusern in der Peripherie einmal abgesehen, hat Arnhill nichts Malerisches oder Idyllisches. Das Bergwerk wurde vor fast dreißig Jahren geschlossen, doch seine Altlasten durchdringen immer noch alles wie das Erz die Gesteinsschichten. Hier gibt es keine reetgedeckten Dächer oder hängenden Blumenampeln. Das Einzige, was hier vor den Häusern hängt, ist Wäsche an der Leine und die eine oder andere Flagge mit dem Georgskreuz.

Eintönige verrußte Reihenhauszeilen säumen die Hauptstraße, dazwischen ein schmuddliger Pub: The Running Fox. Früher gab es noch zwei – The Arnhill Arms und The Bull −, aber die sind schon lange zu. Damals, zu meiner Zeit, drückte der Wirt des Fox – Gypsy – immer ein Auge zu, wenn welche von uns älteren Jungs dort was tranken. Ich weiß noch, wie ich da in dem verdreckten Klo einmal drei Pints Snakebite und praktisch meine kompletten Eingeweide ausgekotzt habe, und als ich rauskam, wartete er schon mit Mopp und Eimer.

Der Imbiss nebenan, The Wandering Dragon, ist ähnlich unberührt von Fortschritt, frischer Farbe oder – möchte ich wetten – einer neuen Speisekarte. Eine Lücke in meiner lückenlosen Erinnerung: der kleine Eckladen, wo wir immer Kaugummi, fliegende Untertassen und Schokoriegel kauften, ist nicht mehr da. Stattdessen jetzt ein Sainsbury’s Local. Offenbar ist nicht einmal Arnhill vollständig immun gegen den Lauf des Fortschritts.

Ansonsten sehe ich meine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Nichts hat sich verändert. Das Dorf ist leider genau so, wie ich es in Erinnerung habe.

Ich fahre weiter die Hauptstraße entlang, vorbei an dem schäbigen Kinderspielplatz und dem kleinen Dorfanger. In der Mitte die Statue eines Bergarbeiters. Denkmal für die Kumpel, die bei dem Grubenunglück von 1949 ums Leben kamen.

Jenseits der Highlights des Dorfs sehe ich auf einem kleinen Hügel das Schultor. Arnhill Academy heißt die Schule jetzt. Die Gebäude sind frisch verputzt, der alte Englisch-Block, von dessen Dach einmal ein Kind gestürzt ist, wurde abgerissen und durch eine Sitzecke im Freien ersetzt. Man kann einen Scheißhaufen in Glanzpapier wickeln, aber es bleibt trotzdem ein Scheißhaufen. Ich muss es wissen.

Ich fahre auf den Lehrerparkplatz hinter dem Gebäude und klettere aus meinem altersschwachen Golf. Zwei andere Autos stehen dort – ein roter Corsa und ein alter Saab. Schulen sind auch in den Sommerferien selten ganz leer. Lehrer müssen Stundenpläne und Unterrichtsmaterial erstellen oder Krisengespräche führen. Oder Vorstellungsgespräche.

Ich schließe den Wagen ab und gehe möglichst ohne zu hinken um das Gebäude herum zum Haupteingang. Heute tut das Bein weh. Was vom Fahren kommt, aber auch von dem Stress, hier zu sein. Manche Leute bekommen Migräne; ich bekomme das Pendant dazu in meinem schlimmen Bein. Eigentlich sollte ich meinen Stock benutzen. Aber ich hasse das. Damit komme ich mir wie ein Behinderter vor. Die Leute sehen mich mitleidig an. Ich hasse es, bemitleidet zu werden. Sein Mitleid sollte man sich aufsparen für die, die es verdienen.

Als ich die Treppe zum Eingang hinaufgehe, zucke ich vor Schmerz zusammen. Auf einer glänzenden Tafel über dem Portal steht »Gut, besser, am besten. Gib niemals auf. Bis dein Gut besser und dein Besser das Beste sind.«

Sehr erbaulich. Wozu mir natürlich Homer Simpsons Gegenentwurf einfällt: »Kinder, ihr habt euer Bestes versucht und seid kläglich gescheitert. Lasst es euch eine Lehre sein und versucht es erst gar nicht.«

Ich drücke auf die Gegensprechanlage neben der Tür. Als es knistert, beuge ich mich vor und sage: »Ich möchte zu Mr Price?« Noch ein Knistern, eine schrille Rückkopplung, dann ein Summen. Ich reibe mir das Ohr, stoße die Tür auf und gehe hinein.

Als Erstes bemerke ich den Geruch. Jede Schule hat ihren eigenen. In den modernen Schulgebäuden riecht es nach Desinfektionsmitteln und Bildschirmreiniger. In Privatschulen nach Kalk, Holzfußböden und Geld. Arnhill Academy riecht nach vergammelten Hamburgern, Klosteinen und Hormonen.

»Hallo?«

Eine streng dreinblickende Frau mit kurzgeschorenem Haar und Brille hebt hinter dem Glaskasten des Empfangs den Kopf.

Miss Grayson. Wohl kaum. Ist die nicht längst im Ruhestand? Dann sehe ich es. Das fette braune Muttermal an ihrem Kinn, mit der steifen schwarzen Haarborste darin wie eh und je. Gott. Sie ist es wirklich. Das heißt, vor all diesen Jahren, als ich sie für eine uralte Schachtel hielt, war sie erst – was? – vierzig? So alt wie ich jetzt.

»Ich möchte zu Mr Price«, wiederhole ich. »Ich bin’s, Joe … Mr Thorne.«

Ob sie mich erkennt? Offenbar nicht. Es ist ja auch lange her, und sie hat unzählige Schüler durch diese Türen kommen sehen. Ich bin nicht mehr der dünne kleine Junge in zu großer Schuluniform, der hastig durch die Vorhalle huschte, voller Angst, von ihr beim Namen gerufen und ausgeschimpft zu werden, weil mir das Hemd aus der Hose hing oder ich nicht den Vorschriften entsprechende Turnschuhe anhatte.

Miss Grayson war nicht nur schlecht. Oft hatte ich sie mit einigen der schwächeren, schüchternen Schüler in ihrem Büro gesehen. Sie klebte Pflaster auf zerschrammte Knie, wenn die Schulschwester nicht da war, setzte die Kinder hin und gab ihnen Fruchtsaft zu trinken, während sie auf einen Lehrer warteten, oder ließ sich von ihnen beim Abheften helfen, alles Mögliche, um ihnen ein wenig Entlastung von den Qualen des Schulhofs zu verschaffen. Eine kleine Zuflucht.

Trotzdem hatte ich eine Heidenangst vor ihr.

Immer noch, denke ich. Sie stöhnt – macht mir unmissverständlich klar, wie sehr ich ihre Zeit, meine Zeit und die Zeit der Schule verschwende – und greift nach dem Telefon. Ich frage mich, warum sie heute überhaupt hier ist. Sie gehört nicht zum Lehrkörper. Andererseits überrascht es mich nicht. Als Kind konnte ich mir Miss Grayson außerhalb der Schule gar nicht vorstellen. Sie war Teil des Gebäudes. Allgegenwärtig.

»Mr Price?«, bellt sie. »Ich habe hier einen Mr Thorne für Sie. Okay. Ja. Gut.« Sie legt den Hörer auf. »Er kommt gleich.«

»Schön. Danke.«

Sie wendet sich wieder ihrem Computer zu, ich bin entlassen. Kein Tee oder Kaffee.

Und gerade jetzt...