Dünengeister - Nordsee-Krimi

von: Nina Ohlandt

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783732561339 , 542 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Dünengeister - Nordsee-Krimi


 

List auf Sylt, 1914


Gemordet

Sorgfältig zog Carola die grüne Tinte in den Füllfederhalter, den der Großvater ihr zur Konfirmation geschenkt hatte, damals in Pommern, auf Gut Lubowitz. Sie war so stolz gewesen, als sie ihren Namen in goldener Schrift eingraviert sah: Carola Henriette Borgwart. »Möge er dir Glück bringen in deinem zukünftigen Leben, mein Kind«, hatte der Großvater gesagt, und genau das war auch eingetreten, dachte Carola. Glück, Anerkennung und Erfolg hatte er ihr gebracht, denn bald würde ihr vierter Lyrikband herauskommen. In Der Sturm, der Zeitschrift für Kunst und Kultur von Herwarth Walden, waren bereits zwei ihrer Gedichte abgedruckt worden, und eines davon hatte einen Preis erhalten. Im nächsten Heft sollte ein langer Artikel über sie erscheinen. Und nun hatte man sie gebeten, ihr Leben in Stichpunkten aufzuschreiben, als Vorbereitung sozusagen für den biografischen Abriss.

Sie rückte ihren Schreibblock zurecht. Geboren: 16. Juli 1890 auf Gut Lubowitz. Vater: Anton Jacob Borgwart, Gutsverwalter, gestorben 1899, da war sie gerade mal neun gewesen. Übersiedelung nach Sylt, als sie vierzehn war. Auf einer vornehmen Hochzeitsfeier im Hotel Adlon in Berlin hatte ihre Mutter den Manufakturbesitzer Heinrich Melander aus List auf Sylt kennengelernt. Acht Wochen später waren sie verlobt, sechs Monate danach verheiratet, womit natürlich auch ein Umzug nach Sylt verbunden war.

Carola fiel es schwer, sich von ihren Großeltern und dem Gut zu trennen, zumal sie zu ihrem Stiefvater keine sehr enge Beziehung aufbauen konnte. Er war ihr gegenüber freundlich, aber auch steif und geschäftsmäßig; und obwohl er zwei Söhne besaß, war ihm die Welt der Kinder verschlossen. Carl und Wilhelm verehrten ihren Vater zwar, doch das Verhältnis blieb distanziert. Carola war insofern ganz zufrieden, als sie von ihrem Stiefvater nicht allzu viel mitbekam. Heinrich hatte einige Jahre zuvor, zusammen mit einem Freund, ein inzwischen äußerst erfolgreiches Unternehmen gegründet, in dem Fahrzeuge für kleine Kinder hergestellt wurden. Dreiräder, Roller, Draisinen, Fahrräder, Tretautos. Sogar bis nach Übersee reichten die Geschäftsbeziehungen der Melander-Werke. Er hatte also in seiner Manufaktur, die sich auf dem Gelände des Lister Hafens befand, genug zu tun, und für die Kinder blieb ihm wenig Zeit.

Wilhelm und Carl waren ein paar Jahre älter als Carola, genauer gesagt, fünf und sieben Jahre. »Und ich Schaf habe mich sofort in ihn verliebt«, dachte Carola belustigt, während sie den Füller beiseitelegte und verträumt aus dem Fenster auf die karge Dünenlandschaft blickte.

Wilhelm! Er war ihre große Liebe gewesen, von Anfang an.

Er war so anders als sein älterer Bruder. Immer zu Streichen aufgelegt, spontan, temperamentvoll, und sein herzhaftes Lachen drang durch alle Räume. Auf jeden Fall war er der Liebling der Köchin, die ihm allerlei Leckereien zwischen den Mahlzeiten zusteckte, die er dann mit Carola in seinem Versteck hinter den Eiben teilte. Sein Bruder Carl war ein Einzelgänger, und Carola schien es, als sei er kalt und berechnend. Wenn er sie durch seine dicke, randlose Brille betrachtete, als habe er ganz vergessen, dass sie ein Mensch war und kein Insekt unter einem Mikroskop, lief ihr ein eisiger Schauer über den Rücken. Wilhelm war menschlicher und berechenbarer. Wenn er sie mit seinen großen, dunklen Augen unter dem schwarzen Haarschopf ansah, sah sie den Schalk darin, und ihr Herz flog ihm zu.

Wieder unterbrach sich Carola in ihrer Niederschrift. Es war befreiend, ihr Leben Revue passieren zu lassen, aber ihr war klar, dass ihre Ausführungen viel zu ausführlich waren, ein paar Stichworte würden genügen. Etwa, dass sie seit zwei Jahren mit Wilhelm verlobt war – seit er seine Studienzeit in Tübingen beendet hatte – und ihn bald heiraten würde. Das interessierte die Leser. Das andere vielleicht auch, aber allzu privat wollte sie nun doch nicht werden.

Versonnen lehnte sie sich zurück. Im Haus war es sehr still. Die drei Herren waren, wie meist um diese Zeit, noch in der Manufaktur, ihre Mutter hatte sich jetzt gegen Abend, nachdem es kühler geworden war, zu einem Besuch bei der kranken Frau eines der Arbeiter aufgerafft, um ihr einen Korb mit Obst zu bringen. Die Angestellten arbeiteten unten in der Küche. Carola liebte es, allein im Haus zu sein. Sie liebte es, durch die Räume zu gehen, das glänzende, seidige Holz der Tische und Schränke zu fühlen, die Schnitzereien zu sehen, die weichen Teppiche unter den Füßen zu spüren, die alten roten Holzdielen knacken und knirschen zu hören. Sie liebte den Duft von Sandelholz, altem Papier, Leder und Zigarillos im Herrenzimmer, das eigentlich Heinrichs Arbeitszimmer und für sie tabu war, in dem er seine Konferenzen mit den Söhnen und Thure Bassewitz, seinem Partner, abhielt, und wo er wichtige Entscheidungen traf. Oft schlich sie sich dennoch in sein Zimmer, setzte sich an den Schreibtisch aus Palisander und Vogelaugenahorn, mit den vorgesetzten Balustersäulen und der gediegenen grünen Lederauflage und suchte nach Inspiration für ihre Gedichte. Hier fühlte sie sich wohl und ein klein wenig bedeutend. Ihr eigener Schreibtisch war eher zierlich. Früher hatte er ihrer Mutter gehört und war ein Geschenk ihres fortschrittlichen Großvaters gewesen, der ihn seiner Tochter aus England mitgebracht hatte. Doch als Carolas erster Gedichtband herauskam, hatte ihn ihr die Mutter überlassen, und Carola war unbeschreiblich stolz und glücklich gewesen. Sollte Wilhelm doch darüber spotten, dass sie einen eigenen Schreibtisch besaß. »Als wenn ein simpler Tisch für deine Schreiberei nicht genügen würde!«, hatte er gesagt. Sie lächelte still vor sich hin. Wenn er wüsste, dass in ihrem kleinen Schreibtisch ein wunderbares Geheimfach vorhanden war, in dem sie alles verstecken konnte, was seine neugierigen Augen nicht sehen sollten! Aber sie würde sich hüten, es ihm zu erzählen!

Dass sie Gedichte schrieb und damit auch noch erfolgreich war, nahm Wilhelm nach wie vor nicht ernst, hatte aber auch keine Einwände dagegen. Manchmal, an stillen Sommerabenden, nahm er sich sogar die Zeit, sich ihre neuesten Werke vorlesen zu lassen. Meist saßen sie dann im Pavillon, der ein Stück vom Haus entfernt auf einer Anhöhe stand, nahe der Großen Düne. Carola mochte den Pavillon eigentlich nicht. Außer einem schönen Blick aufs Meer bot er nichts, was sie anzog. Vor allem mochte sie die Nähe zur Düne nicht, diesem weißen Sandhaufen, der ihr Schauer über den Rücken jagte.

Carola fand, dass dieser aus so unfassbar viel Sand geformte, langgestreckte Koloss ein seltsames Eigenleben besaß, obwohl sie nicht genau erklären konnte, woran sie das festmachte. Die Düne hatte ein verborgenes Leben und, wie ihr schien, ein pochendes Herz. Der Sand war, leise knisternd und voller Geheimnisse, ständig in Bewegung. Kompromisslos gehorchte er dem Wind unter dem Orgelton des Meeres. Schon seit Menschengedenken schleppten sich die Sanddünen über die Insel, ausgehend vom Meer im Westen und alles unter sich begrabend, was ihnen im Wege war: Wald, Heide, Fischerkaten. Auch diese Düne wanderte, mehrere Meter im Jahr, und irgendwann würde sie auf der anderen Seite der Insel im Wattenmeer versinken. Doch bis dahin hätte sie Leben vernichtet wie das kleine Wäldchen, dessen Baumgerippe seine weißgebleichten Äste in einer hilflosen Geste aus dem Sand gen Himmel streckte.

Nein, Carola mochte die Große Düne nicht, sie machte ihr Angst. Doch um dieser Angst zu begegnen, sie vielleicht einmal überwinden zu können, ging sie immer wieder an der Düne spazieren, umrundete sie, griff sich eine Handvoll des feinen Sandes und ließ ihn durch die Finger rieseln.

Auch heute spazierte sie hinaus in den lauen Sommerabend, bis zum Pavillon führte sie ihr Weg. In ihrer Erinnerung hörte sie lachende, kreischende Jungenstimmen, denn Carl hatte eins ihrer Gedichte an sich gebracht, die sie damals, siebzehnjährig, für Wilhelm geschrieben hatte, der gerade zum Studium nach Tübingen abgereist war.

Dein Lächeln

Ich zehre am Abend davon

Wenn es kalt wird

Wenn der Hunger kommt

Wenn die Ratten das sinkende Schiff verlassen.

Dein Lächeln:

Mein Leuchtturm

Mein Herdfeuer

Meine letzte Zuflucht

Du Licht meines Herzens,

wann kommst du zurück?

Sie konnte es immer noch auswendig, obwohl sie es damals, nachdem Carl und seine Freunde sie mit Hohn und Spott überschüttet hatten, heulend in den Kamin geworfen hatte.

Natürlich war es schauderhaft schlecht gewesen, besonders die Stelle mit den Ratten – wie war sie nur darauf gekommen? –, doch vom Schreiben hatte sie diese Erfahrung nicht abhalten können.

Und noch ein anderes unangenehmes Erlebnis verband sie mit dem Pavillon, das sich einfach nicht aus ihrer Erinnerung löschen ließ. Es war ein schöner Abend gewesen, den sie kurz nach ihrer Verlobung mit Wilhelm im Pavillon verbracht hatte. Nach dem Essen waren sie hinausgewandert, hatten den romantischen Sonnenuntergang betrachtet und Wein getrunken. Plötzlich und gänzlich unerwartet hatte Wilhelm sie heftig in den Arm genommen und wild geküsst. Es war das erste Mal, dass er sich so benahm, und Carola war völlig verstört gewesen und wusste nicht, was sie tun sollte. Sie versuchte, ihn zurückzuschubsen und von sich fernzuhalten, doch er riss ihr Bluse und Mieder auf und biss sie in die Brust. Erst ihr Schmerzensschrei brachte ihn wieder zur Besinnung. Danach hatte er sich...