Der Junge - Psychothriller

von: Alex Dahl

Goldmann, 2019

ISBN: 9783641228200 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Der Junge - Psychothriller


 

Kapitel eins

Am Dienstag wache ich wütend auf. Ehrlich gesagt passiert mir das oft, aber heute ist es schlimmer als sonst. Erstens, weil ich allein aufwache – Johan ist zum dritten Mal in diesem Monat nach London gefahren –, und zweitens, weil wir Oktober haben und es bis kurz vor neun stockdunkel bleibt. Widerwillig kämpfe ich mich aus dem Bett, stelle mich eine Zeit lang ans Fenster und sehe zum Hafen hinunter. Es ist noch keine sieben Uhr, und trotzdem schiebt sich auf der anderen Seite der Bucht eine Schlange von Autos langsam Richtung Schnellstraße. In der dünnen, unheimlichen Eisschicht über dem Hafenwasser spiegelt sich das Mondlicht. Unten im Haus streiten sich meine Töchter. Ein Blick auf mein Handy zeigt mir zahlreiche Nachrichten und verpasste Anrufe, aber dafür fehlt mir jetzt einfach die Kraft. Zurzeit passiert so viel, dass ich letzte Woche kaum im Büro war. Heute jedoch werde ich hingehen.

Ich mache ein paar übermäßig tiefe Atemzüge und starre den Mond an, der noch hoch am Himmel steht; Achtsamkeit soll ja helfen, sich weiterzuentwickeln. Ich versuche, Sandefjord zu sehen, wie es im Sommer ist, wenn es wirklich Freude macht, im hellen Licht des späten Abends an diesem Fenster zu stehen und auf den friedvollen, ruhigen Innenhafen voller Freizeitboote zu schauen. Wir bekommen mehr Sonne ab als die meisten anderen Gegenden Norwegens, nur sind dafür die Winter in Sandefjord auch besonders nass und trüb. Dem Wetterbericht zufolge können wir heute Nachmittag wieder mit sintflutartigen Regenfällen rechnen, doch im Moment ist es kühl und klar. Ich atme noch ein paarmal tief durch und wappne mich innerlich für den Tag, der vor mir liegt. Wahrscheinlich hat jeder ab und zu das Gefühl, die Welt wäre ein finsterer Ort.

❊ ❊ ❊

Der Dienstag ist in meiner Welt ein scheußlicher Tag. Vor allem, nachdem Marialuz beschlossen hat, uns nach der Hälfte ihrer Vertragslaufzeit zu verlassen. Jetzt stehe ich ohne Au-pair da. Mit diesen Leuten hat man einfach kein Glück. Es gefällt mir nicht besonders, eine Fremde im Haus zu haben. Aber erst recht gefällt es mir nicht, die ganze Arbeit allein erledigen zu müssen. Es ist schlicht nicht machbar. Vor allem dienstags nicht, wenn beide Mädchen nach der Schule an entgegengesetzten Enden der Stadt Termine haben. Nicoline hat um fünf Ballett und Hermine um sechs Schwimmen. Weil Nicoline um halb sieben fertig ist, muss ich sie dann aus der Stadt abholen und mit ihr zum Schwimmbad fahren, wo wir auf hässlichen Plastikstühlen hocken und bis Viertel nach sieben kleine Kinder beim Planschen beobachten. Nicoline quengelt während dieser halben Stunde durchgehend, es sei denn, ich lasse sie mit meinem Handy Schminkvideos auf Youtube anschauen und kaufe ihr Süßigkeiten. Was ich auch tue. Natürlich.

Heute bin ich besonders genervt und reizbar. Bei der Arbeit läuft es nicht gerade nach Plan. Ich mache mich für meine Kundinnen krumm, manchmal buchstäblich, und sie beschweren sich immer noch. Angela Salomonsen hatte die Stirn, mir heute zu mailen, die violetten Kissen aus Rohseide, die ich in Lyon in Handarbeit habe anfertigen lassen, würden bei den Lichtverhältnissen in ihrem Wintergarten taubengrau wirken. Ob ich sie sofort anrufen könne, um das Problem zu besprechen? Mit solchen Dingen muss ich mich als Innenausstatterin in einer wohlhabenden Stadt voller verwöhnter, gelangweilter Ehefrauen herumschlagen. Manchmal erscheint es mir fast wie ein Wunder, dass ich überhaupt arbeite. Schließlich habe ich zwei kleine Kinder, einen Mann, der ständig auf Reisen ist, und kein Au-pair. Ich müsste eigentlich keinen Beruf ausüben, aber ich mag meine Arbeit, und es ist sehr teuer, ich zu sein. Außerdem gilt es in meinen Kreisen eindeutig als etwas faul, zu Hause zu bleiben. Es sei denn, man betreibt in der eigenen Küche einen Cupcakeverkauf und bloggt darüber. Aber das tue ich nicht. Ich hasse sowohl Cupcakes als auch Blogs.

Es schüttet wie aus Eimern. Beim Anblick des Regens, der immer wieder im Schwall gegen die wandhohen Fenster neben dem Pool klatscht, fällt mir auf, dass ich mich nicht an den letzten regenfreien Tag erinnern kann. Im Oktober ist es wohl an vielen Orten so, aber ich glaube, ich reagiere besonders sensibel auf dunkle Himmel, Nässe und Wind – ich bin nämlich Stier, und am liebsten umgebe ich mich nur mit schönen Dingen.

Als sich die Kinder vor dem Einmeterbrett anstellen, bleibt mein Blick an einem kleinen Jungen hängen. Ich weiß nicht genau, warum. Er ist deutlich kleiner als die anderen, und seine Haut ist dunkelbraun und glatt. Er wippt auf und ab und reibt sich die Arme, doch er schneidet keine albernen Grimassen wie die anderen wartenden Kinder. Er wirkt ängstlich. Ich schaue mich unter den Eltern in der dunstigen, überhitzten Halle um. Wessen Kind könnte er sein? – ich wüsste nicht, dass ich den Kleinen hier schon einmal gesehen hätte. Da ist die fette Mutter der pummeligen Sara. Der Frau gehe ich nach Möglichkeit aus dem Weg – ich habe von mehreren Leuten gehört, dass sie sehr anstrengend ist, und eine klammernde Mutti als Freundin ist das Letzte, was ich brauche. Dann ist da Emriks Vater – ein attraktiver Mann, mit dem ich damals zusammen die Schule besucht habe und der jetzt Polizist ist. Hin und wieder sehe ich zu ihm hinüber, aber nur kurz. Jetzt spüre ich seinen Blick auf mir, und ich warte zehn Sekunden länger, als ich gerne würde, bevor ich aufschaue. Ich schenke ihm ein angedeutetes Lächeln, das er sofort erwidert wie ein dankbarer Welpe. Heutzutage bin ich brav, auch wenn es mir nicht leichtfällt; es gab Zeiten, in denen ich bei solchen Spielchen ganz aufgekratzt war. Vielleicht hätte ich den obersten Knopf meiner Bluse geöffnet, wäre mir langsam mit der Zunge über die Rückseite der Zähne gefahren. Aber ich ignoriere geflissentlich den sehnsüchtigen Blick von Emriks Vater und suche unter den wenigen Verbleibenden nach dem Vater des Jungen.

Die Großeltern von Hermines bester Schulfreundin Amalie sitzen eng nebeneinander und essen Plätzchen aus einer alten Keksdose, deren rote Farbe schon ganz verblasst ist. Nahe der Tür entdecke ich eine schlanke rothaarige Frau. Ihre sommersprossige, blasse Brust ist von der Hitze gerötet. Auch sie beobachtet den Jungen aufmerksam, und ich vermute, dass sie seine Mutter ist. Es überrascht mich ein wenig, dass sie offenbar ein Kind mit einem Mann anderer Herkunft hat; wenn das Kind so dunkel ist, muss der Vater noch dunkler sein, und auf den ersten Blick wirkt sie nicht wie eine Frau mit einem solch exotischen Geschmack.

Sonst ist niemand hier; wahrscheinlich sind die anderen Eltern draußen auf dem Parkplatz und sitzen lieber mit einer Zeitung in ihrem eigenen kleinen Kokon im prasselnden Regen, als sich in der feuchten, heißen Halle das Kreischen der Kinder anzuhören.

Nach zwei wenig berauschenden Sprungversuchen endet Hermines Kurs endlich, und sie kommt zu Nicoline und mir.

»Hast du das gesehen?«, fragt sie. Ihr strahlendes Lächeln enthüllt ein breites Stück Zahnfleisch. Ihr fehlen gleich sechs Zähne.

»Fantastisch«, sage ich. Ich stehe auf, sammle unsere Sachen ein und stupse Nicoline an, die gerade einer zehnjährigen Amerikanerin dabei zusieht, wie sie sich eine Schicht Grundierung auf die Haut spachtelt und dann gekonnt ihr elfenhaftes Gesicht konturiert. »Beeil dich mit dem Umziehen, wir warten am Eingang auf dich.«

Hermine beeilt sich beim Umziehen nicht, und Nicoline und ich warten ungeduldig in der mit Backstein verkleideten Eingangshalle und beobachten die Regensäulen, die über den Parkplatz hin und her huschen wie Tänzer im Ballsaal. Immer wieder schaue ich auf die Uhr. Es ist schon nach halb acht, als Hermine auftaucht, frisch geföhnt und mit einem Hauch rosa Lipgloss, obwohl sie gleich hinaus in den Wolkenbruch geht.

Ich kann den kühlen, dünnen Stiel des Weinglases in meiner Hand fast schon fühlen und werde zunehmend hysterisch bei dem Gedanken, die Mädchen heute noch lange um mich zu haben. Auf dem Weg nach draußen fangen die beiden an, sich zu streiten. Ihr schrilles Gezänk und der brausende Regen übertönen das andere Geräusch, und ich höre es erst nach mehreren Schritten. Ich drehe mich um, und da steht die Kassiererin, eine ältere, müde wirkende Frau mit grauen Löckchen und einem Pullover, auf dem »Happy Halloween« zu lesen ist. Sie ruft meinen Namen durch den strömenden Regen und winkt mich zurück. Das ist so typisch – sicher hat eines der Mädchen etwas vergessen.

»Cecilia, oder?«, fragt die Frau, als ich völlig durchnässt wieder in die Eingangshalle trete. Ich bemerke den kleinen Jungen, der mir schon am Schwimmbecken aufgefallen ist. Er sitzt auf einer Bank und starrt zu Boden. Aus seinen Haaren tropft es auf die braunen Fliesen.

»Ja?«

»Ich … ich wollte Sie bitten, ob Sie vielleicht den Jungen hier mit nach Hause nehmen können. Er ist nicht abgeholt worden.«

»Was soll das heißen, mit nach Hause nehmen?«

Die Kassiererin kommt zu mir an die Tür, senkt die Stimme fast zu einem Flüstern und deutet auf den kleinen Jungen auf seiner Bank.

»Das war vielleicht missverständlich … Zu ihm nach Hause. Er wohnt drüben in Østerøya. Ich habe auf die Liste gesehen, es scheint nicht allzu weit von Ihnen entfernt zu sein.«

»Tut mir leid, das passt ganz schlecht«, erwidere ich und blicke – jetzt allerdings sehnsüchtig – hinaus in den schwarzen dunklen Abend. »Kann ihn nicht irgendwer anders mitnehmen? In der Halle war eine Frau, von der ich dachte, sie wäre seine Mutter.«

»Ich fürchte, das war sie nicht; es ist sonst niemand hier.« Verdammt, nur wegen Hermine und ihrem Föhn.

»Haben Sie die Eltern angerufen?«

»Ja, unter der Nummer, die der Junge mir gegeben hat, meldet sich sofort die...