Falling - Ich kann dich nicht vergessen - Roman

von: Estelle Maskame

Heyne, 2018

ISBN: 9783641228293 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 9,99 EUR

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Falling - Ich kann dich nicht vergessen - Roman


 

Kapitel 1

Ich habe nie verstanden, wieso der Montag die ganzen Lorbeeren als schlimmster Tag der Woche erntet. Das sehe ich nämlich ganz anders: Es ist der Sonntag. Sonntage haben so etwas Ruhiges, Stilles an sich, das ich mittlerweile richtig hasse. Vielleicht liegt es daran, dass die halbe Stadt morgens in die Kirche geht, während alle anderen versuchen, einen Schmorbraten zuzubereiten, es irgendwann aufgeben und etwas vom Lieferdienst bestellen. So ist es bei mir zu Hause jedenfalls meistens. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Hälfte meiner Mitschüler zu Hause hockt und in aller Eile den Berg Hausaufgaben erledigt, den sie bis zur letzten Minute haben liegen lassen, und die andere Hälfte den Tag bei Dairy Queen verbringt, weil man sonst nirgendwo hingehen kann. Wir gehören zur zweiten Hälfte.

»Willst du noch einen?«

Erst jetzt merke ich, dass ich in Gedanken versunken war. Ich sehe blinzelnd zu Holden auf und setze mich ein bisschen aufrechter hin. Ich habe nicht mal mitbekommen, dass er aufgestanden ist. »Was?«

Holden deutet mit dem Kinn auf meinen Iced Coffee, von dem nur noch ein paar Tropfen übrig sind. »Ob du noch so einen willst?«

»Oh«, sage ich. »Nein, danke, für mich nichts mehr.«

Er dreht sich um und geht nach vorn zur Kasse, um bestimmt schon zum fünften Mal heute Abend das Gleiche zu bestellen. Ich reibe mir das Gesicht, bis mir – zu spät – einfällt, dass ich zwei dicke Schichten Mascara aufgetragen habe. Leise fluchend nehme ich mein Smartphone vom Tisch und rufe die Kamerafunktion auf. Meine Augen haben jetzt eine schwarz verschmierte Umrandung. Mit einer Serviette versuche ich, den angerichteten Schaden zu beheben, aber damit mache ich es nur noch schlimmer.

Will fängt an zu lachen, und ich schieße einen wütenden Blick in seine Richtung. Er kaut auf dem Strohhalm seines Schokoshakes, duckt sich aber geschickt weg, als ich meine zusammengeknüllte Serviette nach ihm werfe. »Man könnte meinen, du wärst verkatert«, sagt er, als er sich wieder aufrichtet und sich die Haare aus den Augen schüttelt. Keine Ahnung, wann er zuletzt beim Friseur war, aber es wird definitiv mal wieder Zeit.

»Bin nur müde.« Seufzend wende ich mich dem Abfallberg zu, der sich auf unserem Tisch angesammelt hat. Wir essen sonntags immer so viel, weil man in diesem Kaff einfach nichts anderes machen kann. Es sind mindestens sechs leere Becher, drei davon meine, die Burger-Verpackungen gehen fast alle auf Holdens Konto, die Eisbecher auf Wills.

»Hast du gesehen, wer hier ist?« Will hat den Kopf gesenkt und spricht mit gedämpfter Stimme, er beugt sich ein Stück über den Tisch, um unauffällig einen vielsagenden Blick über meine Schulter zu werfen. »Ich glaube, das ist das erste Mal, dass ich sie ausgehen sehe.«

Langsam drehe ich mich auf meinem Platz um, riskiere einen flüchtigen Blick und entdecke sie sofort: Danielle Hunter.

Sie sitzt an einem Tisch neben der Tür, die Hände um einen Becher gelegt, die schwarzen Haare fallen ihr über die Augen. Die drei Mädchen, mit denen sie da ist, sind alle in ein Gespräch vertieft, nur Danielle starrt mit ausdrucksloser Miene vor sich hin, als würde sie von ihrer Umgebung nichts mitbekommen. Während ich sie vom anderen Ende des Restaurants aus beobachte, bildet sich ein Kloß in meinem Hals. Ich bin überrascht, dass sie hier ist. Sie geht so gut wie nie aus. In letzter Zeit sieht man Danielle Hunter nie außerhalb der Schule.

»Tja«, sage ich leise zu Will. »Das ist neu.« Verstohlen schaue ich sie noch mal an. Ihr Anblick macht mich seltsam nervös, und ich bete, dass sie mich nicht entdeckt, weil ich so lange nicht mehr mit ihr gesprochen habe. Aber es lässt mich nicht los, wie allein sie wirkt.

Erst als Holden mit dem nächsten Burger – es ist sein fünfter heute Abend –, an den Tisch zurückkommt und sich neben mich setzt, reiße ich den Blick von ihr los. Holden hat heute miese Laune und ist unzufrieden mit sich, weil das Footballteam gestern gegen Pine Creek verloren hat. Will und ich haben abgemacht, kein Wort darüber zu verlieren. »Ist der letzte, wirklich«, sagt Holden und nimmt einen großen Bissen, und ich werfe ihm einen angewiderten Seitenblick zu.

»Na klar«, sagt Will mit einer Spur Sarkasmus. Ich glaube, er provoziert Holden manchmal einfach nur aus Spaß, aber es ist nie bösartig, und ich finde es lustig. Er lehnt sich ans Fenster, schließt die Augen und legt den Kopf in den Nacken.

Ich schaue auf meinem Handy nach der Uhrzeit, während Will vor sich hindöst und Holden sich diesen ekelhaften Burger reinzieht. Es ist kurz nach halb zehn, bald wird der Geschäftsführer von Tisch zu Tisch gehen und uns alle rausschmeißen, damit sie schließen können. Ich stupse Holden an. »Lass mich mal kurz raus.« Den Burger immer noch fest in beiden Händen, dreht er mürrisch die Beine zur Seite, damit ich an ihm vorbeirutschen kann. Dabei gebe ich ihm einen sanften Klaps auf den Oberarm. »Und hör auf, dich deswegen zu quälen«, sage ich seufzend, womit ich gegen meinen Pakt mit Will verstoße. Die Football-Saison hat gerade erst angefangen, ich habe keine Lust, dass Holden nach jeder Niederlage seines Teams so mies drauf ist. Launisch wird er in jeder Spielzeit, aber dieses Jahr ist es schlimmer als sonst. Den ganzen Abend hat er kaum ein Wort mit uns gewechselt. »Freitag spielt ihr gegen Broomfield, oder? Das Match gewinnt ihr garantiert!«, versichere ich ihm, während ich mich an ihm vorbeiquetsche.

Holden zuckt die Schultern und ringt sich widerwillig ein kleines Lächeln ab. »Das werden wir dann wohl sehen, schätze ich«, sagt er.

»Und ich schätze, wir sind immer noch ein bisschen einsilbig«, entgegne ich augenrollend.

Will seufzt schwer und zieht ein Augenlid hoch, rührt sich aber kein Stück. »Broomfield ist doch kein so schwerer Gegner, oder? Vielleicht kriegst du dann diesmal endlich einen Pass.« Feixend schließt er das Auge wieder, und Holden nutzt die Gelegenheit, ihm sein zusammengeknülltes Burger-Papier an die Stirn zu schmeißen.

»Fang doch das hier, du Arsch.« Er grinst. Idioten.

Ich lasse die zwei weiter rumalbern und gehe zur Toilette. Je näher es auf zehn Uhr zugeht, desto leerer wird es im Dairy Queen, aber ein paar unserer Mitschüler sind noch hier. Wenn uns der Geschäftsführer erst mal rausgeschmissen hat, dann war’s das: Man kann nirgendwo anders hingehen als nach Hause. Ich lächle Jess Lopez kurz zu und sage an ihrem Tisch im Vorbeigehen »Hey«, bleibe aber nicht stehen, um mich mit ihr zu unterhalten, weil sie mit ein paar Mädchen da ist, die ich nicht so gut kenne.

Ich gehe weiter in den engen Toilettenvorraum und schließe mich in einer der winzigen Kabinen ein. Von hier aus schreibe ich meinem Dad, dass ich innerhalb der nächsten Stunde nach Hause komme. Der Sonntag ist so gut wie gelaufen, damit habe ich mich abgefunden. Während ich die Tür öffne, stecke ich das Handy wieder in meine Hosentasche, und als ich den Kopf hebe, bleibt mir für den Bruchteil einer Sekunde das Herz stehen. Ich habe nicht gehört, dass jemand hereingekommen ist, doch jetzt steht Danielle Hunter regungslos am Waschbecken. Sie dreht mir den Rücken zu, aber unsere Blicke begegnen sich im Spiegel.

Seit letztem Jahr habe ich kaum ein Wort mit Danielle gewechselt. Ich habe sie nur selten gesehen, und bei den wenigen Gelegenheiten wusste ich nicht, wie ich mich verhalten oder was ich sagen sollte. Deshalb habe ich einfach überhaupt nichts gesagt. Was soll man auch zu jemandem sagen, der um seine Eltern trauert? Ich weiß es nicht. Das weiß niemand.

Aber jetzt kann ich nicht einfach wieder auf den Boden gucken und weitergehen, wie ich es sonst tun würde. Plötzlich wird mir bewusst, wie eng es hier im Vorraum ist, und Danielle fixiert mich mit ihren blauen Augen. Sie stehen in so starkem Kontrast zu ihren tiefschwarzen Haaren, dass es irgendwie falsch wirkt. Ihre Miene ist völlig leer und ausdruckslos. Ich muss schlucken, als ich mich an ihr vorbei zu dem am weitesten entfernten Waschbecken schiebe. Starr wie ein Roboter blicke ich auf meine Hände, während das Wasser darüberströmt. Soll ich etwas sagen? Ja, ich sollte, aber ich weiß nicht, was, und ich weiß nicht, wie. Ich wäge ab, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist, Danielle Hunter endlich anzusprechen, und unter dem Druck, der auf mir lastet, steigt mir die Hitze in die Wangen. Die ganze Zeit habe ich mir gewünscht, wieder mit ihr zu reden, es aber nie fertiggebracht.

Wieder schaue ich in den Spiegel und merke, dass sie meinen Blick erwidert. Ich muss es riskieren. Ich muss mit ihr reden, und ich werde es jetzt sofort tun, bevor ich es mir anders überlege. Mit allem Mut, den ich aufbringen kann, zwinge ich mich, sie direkt anzusehen. Ich setze ein Lächeln auf, das normal und offen sein soll, aber sie merkt, dass ich mich zu sehr bemühe. »Hi, Dani.« Ich bekomme eine Gänsehaut davon, ihren Namen auszusprechen. »Freut mich so, dass du wieder ausgehst.«

Sie mustert mich unter zusammengezogenen Brauen, und ich lasse mein Lächeln langsam in sich zusammenfallen, weil sie die Wahrheit hinter meiner aufgesetzten Miene ohnehin erkennt. Mitleid. In ihren Augen liegt eine Spur Überraschung darüber, dass ich sie wirklich angesprochen habe, aber sie erwidert nichts. Ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, starrt sie ihr Spiegelbild an, die Hände fest auf den Waschbeckenrand gestemmt.

Ihr Schweigen ist schlimmer, als es jede andere mögliche Reaktion gewesen wäre, denn jetzt weiß ich nicht, wie ich wieder aus der Situation herauskommen soll. Ich habe doch das...