Stille Wasser - Commissario Brunettis sechsundzwanzigster Fall

von: Donna Leon

Diogenes, 2017

ISBN: 9783257607871 , 352 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 10,99 EUR

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Stille Wasser - Commissario Brunettis sechsundzwanzigster Fall


 

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Nach einer sehr zuvorkommenden Begrüßung zog sich die Befragung an diesem Morgen nun schon eine ganze Weile in die Länge, und Brunetti empfand das allmählich als quälend. Er hatte sein Gegenüber, einen zweiundvierzigjährigen Anwalt, Sohn eines der reichsten und somit einflussreichsten Notare Venedigs, gebeten, wegen einer ihn belastenden Zeugenaussage in der Questura vorbeizukommen. Es hieß, der Anwalt habe vorletzte Nacht einer jungen Frau auf einer Party Tabletten verabreicht, die jene mit einem Glas Orangensaft aus seiner Hand heruntergespült hatte. Wenig später war die junge Frau zusammengebrochen und schwebte, als sie in die Notaufnahme des Ospedale Civile eingeliefert wurde, in Lebensgefahr.

Punkt zehn war Antonio Ruggieri eingetroffen und hatte als Beweis seines Vertrauens in die Polizei nicht einmal einen eigenen Anwalt mitgebracht. Auch über die Hitze in dem einfenstrigen Raum hatte er sich nicht beschwert, nur kurz nach dem Ventilator in der Ecke geschielt, der – vergeblich – sein Bestes tat, um der drückenden Schwüle des heißesten Juli seit Menschengedenken entgegenzuwirken.

Brunetti hatte sich entschuldigt, dass der Raum nicht besser belüf‌tet sei: Aufgrund der Hitzewelle habe man, um zu sparen, zwischen Computer und Klimaanlage wählen müssen. Ruggieri hatte Verständnis bekundet und nur darum gebeten, sein Jackett ablegen zu dürfen.

{10}Brunetti, der seines anbehielt, hatte gleich zu Anfang klargestellt, es handle sich lediglich um eine informelle Unterredung, die Polizei wolle klären, was sich auf der Party im Einzelnen zugetragen habe.

Angesichts der Bewunderung, die der linkische Commissario für das Haus Ruggieri und dessen stadtbekannte Klienten und Freunde bekundete, begegnete der Anwalt seinem älteren Gegenüber schon bald mit jovialer Herablassung.

Den uniformierten Polizisten neben Brunetti beachtete er gar nicht groß, er hatte lediglich im Visier, ob der junge Mann sich in Anwesenheit von Respektspersonen auch ja zu benehmen wusste.

Als dieser nicht die nötige Ehrerbietung an den Tag legte, wandte sich Ruggieri in der Folge nur noch an Brunetti. »Wie gesagt, Commissario, es war die Geburtstagsparty eines Freundes: Wir kennen uns seit der Schulzeit.«

»Dann waren Ihnen die meisten der Anwesenden also bekannt?«, fragte Brunetti.

»So gut wie alle: Wir sind von klein auf befreundet.«

»Und die junge Frau?«, fragte Brunetti leicht verwirrt.

»Die muss einer der geladenen Gäste mitgebracht haben. Sonst wäre sie gar nicht reingekommen.« Um Brunetti zu beweisen, wie gut er und seine Freunde ihre Privatsphäre zu schützen wussten, fügte er hinzu: »Einer von uns behält immer die Tür im Auge. Man weiß ja nie.«

»Wohl wahr«, sagte Brunetti mit zustimmendem Nicken, und als er Ruggieris Blick bemerkte: »Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Er schob das Mikrophon auf dem Tisch ein wenig näher an Ruggieri heran. »Haben Sie {11}irgendeine Vorstellung, mit wem sie gekommen sein könnte, wenn ich fragen darf?«

Ruggieri antwortete nicht sofort. »Nein. Ich habe sie mit niemandem reden sehen, den ich kenne.«

»Wie sind Sie dann mit ihr ins Gespräch gekommen?«, fragte Brunetti.

»Ach, Sie wissen doch, wie das ist«, erklärte Ruggieri. »Es waren viele Leute dort, man tanzte oder plauderte miteinander. Als ich einen Moment lang alleine dastand und den Tanzenden zusah, tauchte sie plötzlich neben mir auf und sprach mich an.«

»Dann waren Sie einander bereits vorher begegnet?«, fragte Brunetti.

»Keineswegs«, versicherte Ruggieri. »Und trotzdem hat sie sich einfach das Du herausgenommen.«

Brunetti schüttelte missbilligend den Kopf. »Worüber haben Sie denn gesprochen?«

»Sie sagte, sie sei neu hier und wisse nicht, wo es etwas zu trinken gibt.«

Als Brunetti nichts darauf erwiderte, fuhr Ruggieri fort: »Also musste ich sie fragen, ob ich ihr etwas bringen dürfe. Was bleibt einem Gentleman anderes übrig?«

Da Brunetti weiterhin schwieg, erklärte Ruggieri hastig: »Es schien mir unhöf‌lich nachzuhaken, warum sie niemanden auf der Party kenne. Aber selbstverständlich fragte ich mich das.«

»Versteht sich«, pflichtete Brunetti ihm bei, als ergehe ihm das häufig so. Er tat interessiert und wartete.

»Sie wollte einen Wodka mit Orangensaft, und ich fragte, ob sie dafür schon alt genug sei.«

{12}Brunetti zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht. »Und was hat sie geantwortet?«

»Sie sei achtzehn, und wenn ich ihr nicht glaube, würde sie schon jemand anderen finden.«

Brunetti spitzte missbilligend die Lippen, wie es Anna, seine Großtante mütterlicherseits, oft getan hatte. Neben ihm rutschte Pucetti auf seinem Stuhl herum.

»Keine sehr höf‌liche Antwort.« Brunetti tat pikiert.

Ruggieri fuhr sich durch den dunklen Haarschopf und zuckte resigniert die Achseln. »Die Jugend von heute, was will man machen. Alt genug, wählen zu gehen und Alkohol zu trinken, aber keine Ahnung von gutem Benehmen.«

Brunetti fiel auf, dass Ruggieri erneut auf das Alter der jungen Frau zurückkam.

»Avvocato«, begann er zögernd, »der Grund, warum ich Sie hergebeten habe, ist, dass jemand behauptet hat, Sie hätten dem Mädchen Tabletten verabreicht.«

»Wie bitte?« Ruggieri tat verwirrt. Dann versuchte er Brunetti auf seine Seite zu ziehen, indem er das Ganze mit einem Lächeln abtat: »Man sagt mir so mancherlei nach.«

Brunetti quittierte diese Bemerkung mit einem nervösen Lächeln, bevor er fortfuhr: »Das Mädchen – Sie haben es sicher in der Zeitung gelesen – wurde ins Krankenhaus gebracht. Als die Carabinieri Erkundigungen einzogen, hieß es, Sie seien mit dem Mädchen im grünen Kleid gesehen worden.«

»Wer hat das behauptet?«, fragte Ruggieri in scharfem Ton.

Brunetti hob wie zum Zeichen seiner Hilf‌losigkeit beide Hände. »Das darf ich Ihnen leider nicht sagen, Avvocato.«

{13}»Man kann also sonst was über mich verbreiten, und ich kann nicht einmal Stellung dazu beziehen?«

»Der Zeitpunkt dafür wird sicherlich noch kommen, Signore«, meinte Brunetti vielsagend.

Ruggieri ging nicht darauf ein. »Was wurde sonst noch behauptet?«

Brunetti schlug umständlich die Beine übereinander. »Auch hierüber kann ich Ihnen keine nähere Auskunft geben, Signore.«

Ruggieri tastete mit dem Blick die Wand ab, als verstecke sich dahinter ein unsichtbarer Feind. »Ich hoffe, man hat Ihnen auch über die junge Frau berichtet.«

»Was denn?«

»Wie sie mich bedrängt hat!«, entfuhr es Ruggieri – die erste spontane Reaktion, seit er den Raum betreten hatte.

»Nun, tatsächlich hat jemand das Verhalten der jungen Dame als, hm, plump-vertraulich beschrieben«, antwortete Brunetti widerstrebend.

»Das ist noch sehr freundlich ausgedrückt«, erklärte Ruggieri und richtete sich kerzengerade in seinem Stuhl auf. »Sie hat sich an mich gelehnt, nachdem ich ihr etwas zu trinken geholt hatte. Dann hat sie mit ihrem Bein gegen mein Bein im Takt der Musik gewippt. Und dann hat sie sich auch noch das eiskalte Glas zwischen ihre Brüste gedrückt, die ihr fast aus dem Kleid hingen.« Ruggieri schien entrüstet über die Schamlosigkeit der Jugend.

»Verstehe, verstehe«, sagte Brunetti und registrierte zugleich, dass Pucetti neben ihm kaum noch zu halten war. Dabei hatte der junge Polizist erst kürzlich einen Jugendlichen verhört, der unter dem Verdacht stand, seine {14}Freundin geschlagen zu haben, und den Vorfall professionell sachlich protokolliert.

»Was hat sie zu Ihnen gesagt, Signore?«

Ruggieri überlegte, setzte zum Sprechen an, stockte und erklärte schließlich: »Dass sie scharf auf mich ist.« Er ließ das auf die Polizisten wirken und fuhr fort: »Dann hat sie gefragt, ob wir nicht irgendwo hingehen könnten, nur wir zwei.«

»Du liebe Zeit«, rief Brunetti. »Was haben Sie erwidert?«

»Ich war nicht interessiert. Das habe ich geantwortet. Ich mag es nicht, wenn eine so leicht zu haben ist.« Brunetti nickte, und der Anwalt ergänzte: »Und egal, was die Leute Ihnen erzählt haben, von irgendwelchen Tabletten weiß ich nichts.«

»Das Mädchen, mit dem Sie gesprochen haben, trug doch ein grünes Kleid?«, fragte Brunetti.

Der Anwalt setzte ein jungenhaftes Lächeln auf. »Mag sein. Ich war ganz mit ihren Titten beschäf‌tigt, nicht mit dem Kleid.«

Pucetti schnappte hörbar nach Luft. Um dies zu überspielen, schlug Brunetti die Hand vor den Mund, auch wenn er einen beifälligen Lacher nicht unterdrückte.

Von Brunettis Reaktion ermutigt, setzte Ruggieri mit breitem Grinsen hinzu: »Ich hätte sie ohne weiteres flachlegen können, aber es war einfach nicht der Mühe wert. Hübsche Titten, aber ansonsten eine dumme Kuh.«

Eine Stunde vor der Befragung hatten Brunetti und Pucetti erfahren, dass die junge Frau in den frühen Morgenstunden verstorben war. Die of‌fizielle Todesursache war ein Asthmaanfall, doch das Ecstasy in ihrem Blut tat {15}ein Übriges. Brunetti hörte neben sich Pucettis Stuhlbeine über den Zementboden des Verhörraums scharren und sah aus den Augenwinkeln, wie Pucetti die Füße anzog, drauf und dran, von seinem Stuhl hochzufahren.

Schon riss Brunetti, der dies um jeden Preis verhindern wollte, ohne nachzudenken seinen linken Arm hoch und stöhnte leise auf. Das Stöhnen schwoll zu einem schrillen Wimmern an, als habe er furchtbare Schmerzen. Brunetti stemmte sich mühsam hoch, rang qualvoll keuchend nach Luft.

Die anderen beiden fuhren erschrocken zusammen und starrten ihn an. Brunettis ganzer Körper...