Toteneis - Thriller

von: Katharina Peters

Aufbau Verlag, 2017

ISBN: 9783841214041 , 400 Seiten

2. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Toteneis - Thriller


 

1


Kotti schnaufte leise, während Hannah fröstelnd in den trübkalten Morgen blickte und die Entscheidung für die frühe Joggingrunde durch den Treptower Park bereute. Aber nun war es zu spät. Ihr vierbeiniger Begleiter sah mit aufgeregt zitternden Flanken zu ihr hoch und wartete nur darauf, dass sie endlich die Haustür öffnete und mit ihm gemeinsam in den neuen Tag startete.

Sie zog den Reißverschluss bis unters Kinn hoch, dehnte sich zwei Minuten und zog schließlich die Tür auf. Kotti wischte jaulend um die Ecke, und Hannah folgte ihm leise seufzend in die bleigraue nebelgetränkte Novemberluft. Der Regen setzte nach wenigen Metern ein, was Kottis Begeisterung keinerlei Abbruch tat, ganz im Gegenteil. Er wetzte durchs Gebüsch und begrüßte jeden Zweig, jeden Grashalm und Baum, als wäre er zum ersten Mal hier. Hund müsste man sein, dachte Hannah und beschleunigte ihr Tempo. Unabänderliches nicht in Frage stellen, Alltägliches immer wieder neu erfahren.

Am sowjetischen Ehrenmal blieb sie stehen und band ihre Schnürsenkel neu. Kotti hatte einen Hundekumpel entdeckt, der zum Spielen aufgelegt war, während der Regenschauer immer dichter wurde. Hannah zog die Schultern hoch und schüttelte sich. Schnee wäre toll, dachte sie. Wenigstens das.

Das Jahr taumelte müde und abgekämpft dem Ende entgegen. Das war nach den jüngsten aufreibenden Ermittlungen in und um Berlin nicht weiter verwunderlich. Der letzte Fall war in einem fulminanten Finale gelöst worden, und endlich – nach zweiundzwanzig Jahren – hatte sich auch das Rätsel um Livs Verschwinden aufgeklärt. War das Familiendrama damit beendet? Man fiel sich weinend in die Arme, jeder verzieh jedem, und alles war gut? Keineswegs. An die Stelle der zehrenden Ungewissheit war die unabänderliche Tatsache getreten, dass Liv einem grausamen Verbrechen zum Opfer gefallen war. Aber immerhin konnte zwischen Hannah und ihren Eltern so etwas wie Besänftigung einkehren, wenn sich alle Beteiligten darum bemühten. Ein Quäntchen Zuversicht, dass sich die Wogen glätteten und es nun zumindest die Chance gab, einen großen Schritt aufeinander zuzugehen. Die alte Wunde würde sich nie vollständig schließen, und die Jahrzehnte währende Distanz zwischen Hannah und ihren Eltern war womöglich ein lebenslanger Begleiter. Immerhin war bei den Ermittlungen auch herausgekommen, dass jener erbitterte Streit zwischen Hannah und ihrer Schwester mit den nachfolgenden Ereignissen nicht das Geringste zu tun gehabt hatte. Doch zweiundzwanzig Jahre Schuldgefühle waren ein hoher Berg, der nicht mal eben so abgetragen werden konnte, und die leisen Vorwürfe würden ihre Eltern wahrscheinlich mit ins Grab nehmen.

Hannah rief nach Kotti und lief am Spreeufer zurück. Was blieb in der Rückschau noch von diesem Sommer? Florian. Staatsanwalt Florian Schneider. Attraktiv, motiviert, leidenschaftlich und seit Beginn der Ermittlungen interessiert an ihr. Verheiratet, zwei Kinder, mit seinen vierzig Jahren etwas jünger als sie; eine stürmische Affäre, in die sie sich nach anfänglichen Bedenken dann doch Hals über Kopf gestürzt hatte. Nach einigen Wochen hatte er sich von seiner Familie getrennt und war in eine Dienstwohnung gezogen. Zeit, etwas Neues zu beginnen, hatte er vollmundig erklärt, und ihr Herz hatte tausend Sprünge gemacht vor Aufregung.

Doch die Trennung von seiner Familie schmerzte mehr, als er je für möglich gehalten hätte. Sie sah es an seinem nachdenklichen Blick, dem Lächeln, das von Woche zu Woche abwesender wirkte, an seinen unruhigen Händen. Er verließ zum Telefonieren grundsätzlich das Zimmer, und er vertraute ihr nicht an, was ihn bedrückte; sie sprachen immer weniger über ihr Vorhaben, im späten Herbst gemeinsam in den Urlaub zu fahren, um dem grauen Berlin zu entfliehen und Zeit für sich zu haben.

Hannah spürte von Tag zu Tag deutlicher, dass ihre Beziehung keine Chance hatte, und das wiederum verletzte sie tiefer, als sie es sich eingestehen mochte. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die ab vierzig graue Haare und Falten zählten und atemlos dem Ticken irgendeiner Uhr lauschten oder mit dem Alleinsein haderten. Doch zweifellos wusste sie die Vorzüge einer festen Partnerschaft zu schätzen. Und Florian … Nun, sie hatte sich ernsthaft in ihn verliebt, und es tat weh, ihn zu verlieren, noch bevor sie einander so nahegekommen waren, dass auch er von ganzem Herzen einen Neubeginn wagen könnte. Vielleicht sollte ich die Initiative ergreifen, dachte sie, als sie wieder zu Hause ankam. Ein Gezerre um ihn kam für sie nicht in Frage. Klare Verhältnisse.

Sie rubbelte Kotti trocken und stieg unter die Dusche. Montagmorgen, acht Uhr, Berlin versank in grauer Herbstkühle. Der Winter stand mit starrem Blick vor der Tür. Hannah trank einen Kaffee und las die Nachrichten auf dem Smartphone. In Marienfelde wurde eine Frau vermisst. Polizei und Ehemann baten um Unterstützung. Hannah beschloss, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren und einen Blick in die Akte zu werfen.

Valerie Frieth war von ihrem Mann Thomas, einem fünfzigjährigen Elektriker, als vermisst gemeldet worden. Sie war vor gut einer Woche am Samstagvormittag nicht vom Einkaufen zurückgekehrt. Nachfragen in der näheren Umgebung, bei Freunden und in dem Bistro, in dem sie regelmäßig als Aushilfe arbeitete, waren ergebnislos geblieben. Der Polizeibeamte, der die Meldung aufgenommen hatte, beschrieb den Ehemann als zutiefst verzweifelt. Er war davon überzeugt, dass seiner Frau etwas zugestoßen war. Dennoch meinte der Beamte, dass es keinen Ermittlungsansatz gebe, da auch Valeries Katze verschwunden sei.

Hannah stutzte einen Moment, dann rief sie in der zuständigen Dienststelle in Lankwitz an und ließ sich mit dem Kollegen Boris Schulz verbinden.

»BKA?«, fragte er sichtlich irritiert nach, als Hannah sich vorgestellt und den Fall angesprochen hatte. »Ist irgendwas Besonderes mit der Frau?«

»Nun, sie ist verschwunden. Ich bin Kriminalpsychologin und mein Spezialgebiet beim BKA ist die Vermisstensuche«, schob sie nach. Und manchmal gerate ich dabei in weitreichende Mordermittlungen, fügte sie stumm hinzu.

»Ach so … ja, ich hab davon gehört.«

Tatsächlich? Hannah räusperte sich. »Ich habe einen Blick in Ihre Meldung geworfen und …«

»Sie sehen sich jede Vermisstenmeldung an?«

»Viele, und zwar bundesweit.«

»Darum beneide ich Sie nicht.«

»Es gibt schlimmere Jobs bei der Polizei«, erwiderte sie. »Warum genau gehen Sie davon aus, dass kein polizeilicher Ermittlungsansatz beim Verschwinden von Valerie Frieth besteht?«

»Wegen der Katze, aber …«

»Weil Sie schlussfolgern, dass die Frau ihr Tier mitgenommen hat und aus freien Stücken gegangen ist, ohne ihren Mann in die Pläne einzuweihen?«, unterbrach Hannah ihn vergleichsweise forsch.

»So ist es. Kommt häufig genug vor.«

Wohl wahr, dachte Hannah. Die Wahrnehmung des Ehemannes könnte verzerrt sein und seine Verzweiflung womöglich die Reaktion auf einen Streit oder heftige Beziehungsprobleme darstellen. »Aber der Aufruf in der Presse passt nicht zu Ihrer Einschätzung.«

»Stimmt.« Leises Räuspern. »Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen. Es gibt nämlich Neuigkeiten. Der Ehemann hat die Katze am Wochenende gefunden und sich mit uns in Verbindung gesetzt.«

»Das Tier ist wieder aufgetaucht?«

»Könnte man so sagen«, erwiderte der Kollege zögernd. »Er hat sie im Wochenendhaus seiner Eltern gefunden, in Friedersdorf – das ist in der Nähe von Königs Wusterhausen. Die Eltern sind zurzeit verreist, und er wollte dort nach dem Rechten sehen. Dabei hat er die Katze entdeckt. Sie wurde getötet.«

Hannah hielt kurz die Luft an. »Etwas genauer bitte.«

»Sie wurde stranguliert und an einem Strick im Keller aufgehängt. Ein Kollege vor Ort hat sich das gestern sofort angesehen und das Tier in die Tierpathologie der FU bringen lassen – falls da noch was nachkommt, so dachten wir. Man kann ja nie wissen.«

»Gute Idee.«

»Der Kollege meint übrigens, dass es keinen Hinweis darauf gibt, dass sich Valerie Frieth nach ihrem Verschwinden in dem Haus aufgehalten hat, soweit sich das auf den ersten Blick feststellen ließ.«

Hannah überlegte nur kurz. »Würden Sie bitte alle Einzelheiten an mich weiterleiten?«

»Natürlich.«

Wie Hannah wenig später nachlas, hatte Valerie Frieth keinerlei Vorbereitungen getroffen, die belegten, dass sie ohne Abschiedsgruß verschwinden wollte. Sie hatte kaum Bargeld mitgenommen und war zu Fuß unterwegs gewesen. Abhebungen vom gemeinsamen Konto waren nicht festzustellen, ebenso wenig Überweisungen, und von einem anderen Konto wusste der Ehemann nichts; auf dem Handy war sie nicht erreichbar, und in Friedersdorf, wo sie sich regelmäßig um das Häuschen der Schwiegereltern gekümmert hatte, war sie niemandem aufgefallen.

Dennoch gab es auch solche Fälle, wie Hannah nur allzu gut wusste – jemand entschied spontan zu verschwinden, und der Entschluss hatte nicht das Geringste mit einem kriminellen Hintergrund zu tun. Oder der Entschluss wirkte lediglich spontan. Die getötete Katze könnte ein Hinweis darauf sein, dass die Dinge ganz anders lagen. Vielleicht hatte Valerie sie selbst getötet, oder der Ehemann hatte etwas zu verbergen. Zum jetzigen Zeitpunkt war kein Szenario auszuschließen.

Hannah sah sich die Fotos der Frau ein weiteres Mal an. Schon bei der ersten Durchsicht hatte sie ein ungutes Gefühl...